Ihr Lieben, Eliane Retz und Christiane Stella Bongertz haben mit ihrem Buch Wild Child: Entwicklung verstehen, Kinder gelassen erziehen Konflikte liebevoll lösen einen Überraschungserfolg hingelegt, wir hatten hier mit dem Beitrag Wie wir es schaffen, unsere Kinder so zu nehmen, wie sie sind auch darüber berichtet.
Nun haben sie ein neues Buch nachgelegt, eines, das schon vor seinem Erscheinen am 1.6. auf den Amazon-Bestsellerlisten steht, nämlich Wild Family: Konflikte bewältigen, Geschwister verbünden, familiäre Beziehungen stärken. Wir haben eine der Autorinnen, Christiane Stella Bongertz, noch einmal zum Interview gebeten, denn wen diese Themen nicht beschäftigen, der/die hat wahrscheinlich keine Kinder 😉
Was unterscheidet eure beiden Bücher Wild Child und Wild Family voneinander, geht es im neuen Buch um die ganze Familie und ihr Zusammenspiel?
In „Wild Child“ haben wir vor allem typische Eltern-Kind-Situationen in der Autonomiephase und deren bindungsorientierte Lösung beleuchtet: Das Kind trödelt, es wirft sich an der Supermarktkasse auf den Boden, will nicht die Zähne putzen, solche Dinge. Für „Wild Family“ haben wir die Altersgruppe erweitert – vom Beginn der Autonomiephase bis zum jungen Grundschulalter. Dadurch sind weitere Entwicklungsphasen in den Blick gerückt, wie die ,Wackelzahnpubertät‚.
Außerdem haben uns neuer Themen angenommen, etwa wie Eltern mit kindlichen Aggressionen umgehen. Beispielsweise, wenn ihr Kind andere haut oder sich Geschwister ständig streiten. Oder wie es laufen kann, wenn ein Elternteil bindungsorientiert erziehen möchte, der andere das aber doof findet. Vor allem aber betrachten wir – auf Basis von Fallbeispielen aus Elianes Beratungspraxis – komplexere Schwierigkeiten, die auch Eltern ratlos machen, die viel über Bindungsorientierung wissen.
Welche Schwierigkeiten zum Beispiel?
Etwa: Das Kind weigert sich, in die Schule zu gehen. Oder es hat plötzlich einen ausgemachten Lieblingselternteil, der andere ist abgemeldet. Oft sind hier die Ursachen im familiären System zu finden – dem Zusammenspiel der Familie, wie du es nennst. Wir haben dafür die Metapher „Familienmolekül“ entwickelt, weil eine Familie ähnlich wie ein Molekül von mehr oder weniger starken Bindungen zusammengehalten wird, die alle einander beeinflussen.
Und die Familienmitglieder sind die Atome im Familienmolekül?
Genau. Kommt etwa ein neues „Atom“ hinzu, etwa weil ein Baby geboren wird, verändert sich das gesamte Gefüge. In aller Regel gibt es dann schlagartig neue Herausforderungen im Zusammenhang mit den älteren Kindern: Die Kooperation mit einem Elternteil wird komplett verweigert. Ein Kind kann nicht mehr aufs Töpfchen, obwohl das vorher schon gut geklappt hat. Oder häufig: Ein Geschwisterkind wird aggressiv dem Baby gegenüber.
Natürlich bringt nicht nur die Geburt eines weiteren Kindes das Familienmolekül in Bewegung. Andere Ereignisse haben ebenfalls einen Einfluss, auch in Systemen, die unmittelbar an die Familie anschließen, etwa im Kindergarten oder der Schule. Das kann der Wegzug eines Spielkameraden sein oder auch die längere Krankheit einer Bezugserzieherin in der Kita. Solche Fälle dröseln wir auf und geben Impulse, wie sich selbst verfahren scheinende Situationen häufig verblüffend einfach lösen lassen.
Du hattest den Geschwisterstreit erwähnt: Wie genau können wir den denn am besten lösen? Greifen wir ein? Wenn ja, wann? Oder lassen wir sie einfach machen?
Erst mal: Keine Schuld zuweisen! Gibt es zwischen den Geschwistern eine Ausgewogenheit der Kräfte und jedes Kind kann sich gut behaupten, können Eltern den Streit tolerieren. Aber natürlich gibt es auch Verhalten, das nicht in Ordnung ist, hier dürfen und sollen Eltern moderieren und helfend eingreifen. Vor allem, wenn ein Kind dem anderen physisch oder kognitiv stark überlegen ist. Getrennt werden sollten die Kinder auch, wenn die körperliche Auseinandersetzung gewalttätig wird. Oft ist das der Fall, wenn die Kinder erschöpft sind.
Seht Ihr auch Chancen in solchem Geschwisterverhalten?
Unbedingt! Grundsätzlich lernen Kinder mit ihren Geschwistern früh, Konflikte auf derselben Ebene auszutragen. Sie erleben, dass Wut und Ärger eine Beziehung nicht gleich zerstören. Diese Erfahrung ist ein Schatz für alle künftigen Beziehungen.
Und wenn ein Kind in Tränen ausbricht, wenn das andere Türen knallend in seinem Zimmer verschwunden ist?
Dann dürfen die Eltern es selbstverständlich trösten. Hier ist gerade bei jüngeren Kindern eine einfühlsame elterliche Co-Regulation wichtig, die dem Kind zeigt, wie es mit seinen Emotionen umgehen kann, beispielsweise, indem es seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet. Eltern können fragen „Möchtest du mir helfen, den Tisch zu decken?“ oder was sonst eben gerade zu tun ist.
Wie können wir gelassen bleiben bei morgendlichen Begrüßungen á la „Du stinkst aus dem Mund“, „Guck dich doch selbst mal an, Digga!“
Das klingt jetzt eher nach Teenagern, aber in der Wackelzahnpubertät mit fünf, sechs, sieben Jahren können sich natürlich auch die Kleinen schon mal so ähnlich anhören. Hier gilt das Gleiche: Wenn keines der Kinder deutlich unterlegen ist und solange sie sich vor allem necken, atmen die Eltern am besten gaaanz tief in den Bauch und konzentrieren sich auf den Genuss ihres Morgenkaffees. Sind sie selbst Ziel der Verbalattacke, dürfen sie selbstverständlich klar sagen, was sie von so einer Ansprache halten. Etwa: „Deine Direktheit in allen Ehren, aber das kann man auch freundlich sagen, nämlich …“
Ihr nehmt euch auch der ganz großen Fragen an. Zum Beispiel der, wie wir mit Kindern über den Tod sprechen. Was empfehlt ihr da?
Vor allem wäre es blöd, dem Thema aus eigenem Unbehagen heraus auszuweichen mit Ausflüchten wie „Dafür bist du noch zu klein“. Stattdessen sollten Kinderfragen umsichtig, aber ehrlich beantwortet werden. Dazu gehört auch, das eigene Unwissen zuzugeben: „Ich weiß nicht genau, was nach dem Tod kommt. Vielleicht werden wir zu Blütenstaub. Was denkst du?“ Ein solches gemeinsames spielerisches Nachdenken darüber, was nach dem Tod wohl passiert, schafft ein Wir-Erlebnis und hilft nicht nur Kindern.
Sie müssen auch nicht unbedingt von sterbenden Verwandten oder Beerdigungen ferngehalten werden – pauschal lässt sich das aber auch nicht sagen, Eltern sollten individuell schauen, wie das Kind auf die Situation reagiert. Wichtig bei alldem ist aber: Ist ein Elternteil vom Sterben eines Angehörigen selbst sehr mitgenommen, kann sie oder er nicht gut fürs Kind da sein. Dann übernehmen besser andere Bindungspersonen und es ist auch eine gute Idee, sich professionelle psychologische Hilfe zu holen.
Was können wir als Eltern tun, wenn das Kind zunehmend aggressiv auf Situationen reagiert?
Erst mal schauen: In welcher Entwicklungsphase ist das Kind? In der Autonomiephase, also zwischen etwa anderthalb und dem Kindergartenalter, sind Wutausbrüche völlig normal. Wie Eltern damit gut umgehen, dazu geben wir viele Impulse. Tritt vermehrte Aggression aber plötzlich auf, können Eltern analysieren: Gab es kürzlich große Veränderungen?
Der Übergang in Kindergarten oder Schule, die Geburt eines Geschwisterchens, eine neue Partnerschaft der Eltern, Änderungen im Kita-Team? Davon ausgehend lässt sich dann der Ursache auf den Grund gehen. Häufig hilft es, den Blick vom „schwierigen“ Verhalten zu lösen und zu schauen, was schon gut klappt. Das nimmt sehr viel Druck heraus und schafft Raum für positive Entwicklung. Auf keinen Fall sollten Strafen zum Einsatz kommen.
Selbst dann nicht, wenn das Kind zum Beispiel andere Kinder angreift?
Nein, Strafen verschlimmern Aggressionen meist nur noch. Sie weisen dem Kind außerdem keinen Weg, wie es konstruktiver mit seinen Emotionen umgehen kann. Besser ist es, genau zu beobachten. Oft tritt aggressives Verhalten vermehrt in bestimmten Situationen auf: Wenn das Kind müde ist oder es auf dem Spielplatz sehr wuselig ist, zum Beispiel. Kennen Eltern diese Faktoren, können sie entscheiden, nach der Kita mit dem müden Kind direkt heim zu gehen statt noch auf den Spielplatz.
Und wenn Wuseligkeit ein Problem ist und sie sehen, dass das Gedränge zunimmt, können sie mit dem Kind an einen ruhigeren Ort ausweichen und dort vielleicht ein Bilderbuch anschauen. Aggressives Verhalten kündigt sich auch häufig an, etwa durch einen bestimmten Blick. Dann haben Eltern die Möglichkeit, das Kind rechtzeitig aus der Situation nehmen. Um andere zu schützen, aber auch, um es davor zu bewahren, immer der oder die „Böse“ zu sein. Das ist ein Etikett, das schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.
Und wenn schon etwas passiert ist?
Können sich die Eltern stellvertretend fürs Kind beim anderen Kind entschuldigen – und ihrem Kind Gelegenheit geben, sich auf seine Art zu entschuldigen, allerdings ohne es zur Entschuldigung zwingen. Viele Kinder, die verstehen, dass sie das andere Kind traurig gemacht haben, bieten als Friedensangebot ihre Spielsachen zum gemeinsamen Spiel an oder Ähnliches.
Oft sind sie auch trostbedürftig, nachdem sie sich aggressiv verhalten haben, weil sie von ihren Emotionen überrollt wurden. Das Kind jetzt in den Arm zu nehmen, ist eine Gelegenheit, ruhig über die Situation zu sprechen. Zu fragen, was passiert ist und in einfachen Worten zu erklären, warum Hauen, Beißen und dergleichen nicht okay ist. Gleichzeitig spürt das Kind, dass es trotzdem geliebt wird. Das schafft Vertrauen, damit sich das Kind öffnen kann und Akzeptanz für das, was die Eltern sagen.
Ihr sagt: Alles richtig zu machen im Familienalltag, kann nicht das Ziel sein. Welches dann?
Gemeinsam Lösungen zu finden, mit denen alle Familienmitglieder gut leben können. Immer alles richtig zu machen ist ein unmögliches Unterfangen. Haben Eltern diesen Anspruch, fallen sie in ein Loch, wenn sie ihm mal nicht genügt haben und sind genau dann nicht mehr für ihre Kinder da. Besser ist es, zu sagen: Okay, das war jetzt suboptimal, wie kann ich es beim nächsten Mal besser machen?
Stella, wann hast du selbst zuletzt in deinem Alltag gedacht: Uh, hier komme ich aber grad nicht weiter?
Das denke ich eigentlich täglich. Heute Morgen etwa, als meine achtjährige Tochter unbedingt in Shorts, dünnem Shirt und Sandalen zur Schule wollte. Mein Mann ist extra mit ihr rausgegangen, damit sie merkt, dass es draußen nur 13 Grad hat und ein eisiger Nordwind weht. Das hat nichts an ihrem Entschluss geändert. Schließlich habe ich eine Hose, Socken und ein Sweatshirt in den Rucksack gepackt und gesagt: „Das kannst du anziehen, wenn du frierst – oder es lassen.“
Ihr gebt in eurem Buch bindungsorientierte Tipps für ein gutes familiäres Zusammenspiel. Was überzeugt euch von dieser Methode?
Methode ist, finde ich, das falsche Wort. Bindungsorientierung ist ja keine Methode im Sinne von „Schrauben Sie hier, dann kommt hinten das heraus.“ Das ist ja eher die Herangehensweise des Behaviourismus. Bindungsorientierung ist eine, wenn du so willst, ganzheitliche Haltung, die Kinder – oder eigentlich alle Familienmitglieder – nicht auf „gutes“ oder „schlechtes“ Verhalten reduziert, sondern sich die Ursachen anschaut, sie versteht und dann darauf konstruktiv reagiert.
Wenn es irgendwo hakt, kann der Grund in der altersspezifischen Entwicklung des Kindes liegen oder im System, das gilt es erst mal zu differenzieren. Wer bindungsorientiert erzieht, dem geht es auch nicht um reines Funktionieren des Kindes im Familienalltag, sondern darum, dass alle Familienmitglieder mit ihren Bedürfnissen gesehen werden.
Veranstaltungs-Tipp: Am 13.06.23 stellt Dr. Eliane Retz in Berlin das neue Buch „Wild Family“ vor. Neben Impulsen zu bindungsorientierter Erziehung beantwortet sie Fragen zu Erziehung, kindlicher Entwicklung und Familiensystemen. Gerne können Babys mitgebracht werden. http://literatur-live-berlin.de/portfolio-item/eliane-retz/
1 comment
Herzlichen Dank für das Gespräch und das Interesse an unserem neuen Buch, Lisa, es war mir eine Freude!