Ihr Lieben, manchmal wünschen wir uns in schwierigen Situationen mit den Kindern eine Stimme im Ohr, die uns zuflüstert, wie wir uns als Eltern richtig verhalten können. Die Autorinnen von Wild Child: Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen sind eine solche Stimme. Eliane Retz und Christiane Stella Bongertz beschreiben darin den Weg der autoritativen Erziehung und zeigen, wie es funktioniert, unsere Kinder zu umarmen, wenn unser Impuls eigentlich eher ein Ausraster wäre…
Wie schaffen wir es, auch in angespannten Konfliktsituationen („Wir müssen los!“ „Wir kommen zu spät!“) zu sehen, dass mein Kind sein Verhalten niemals gegen mich richtet, dass es kein Gegner ist, sondern einfach grad selbst in Schwierigkeiten steckt?
Eliane: Gerade solche sogenannten Übergangssituationen von einem Lebensbereich in den anderen sind oft schwierig für Kinder. Sie aktivieren das kindliche Bindungssystem. Das Kleinkind ist vielleicht eingewöhnt in der Kita, aber trotzdem aufgeregt am Morgen. Es muss dann noch einmal richtig seinen „Bindungstank“ aufladen und klebt an den Eltern. Weiß man das, wird schnell deutlich, dass es weder um fehlende „Erziehungskompetenzen“ der Eltern noch um bockige Kinder geht, die ihre Eltern tyrannisieren wollen.
Nun muss ich aber pünktlich zu einem Termin und genau in diesem Moment beginnt mein Kind zu „bocken“. Wie kann ich adäquat darauf reagieren?
Eliane: Eltern können den kindlichen Bindungswunsch oft nicht gut beantworten, wenn sie selbst im Stress sind, möglicherweise noch im Schlafanzug durch die Wohnung rennen und es drunter und drüber geht. Hier ist es erst mal wichtig, dass sich die Bindungsperson selbst beruhigt und für Klarheit und Orientierung sorgt, denn dann kann sich diese innere Ruhe aufs Kind übertragen. Das bedeutet, dass eine gute Planung wirklich das A und O ist, denn Zeitdruck ist leider sehr dysfunktional, wenn man kleine Kinder hat.
Angenommen, ich habe gut geplant, aber trotzdem stellt sich mein Kind quer …
Eliane: Das passiert, auch die beste Planung ist natürlich keine Garantie, dass alles reibungslos klappt. Jetzt ist es sehr wichtig, klar zu sein und das Kind liebevoll durch die Situation zu coachen. Anstatt mit dem Kind zu schimpfen, ist es besser, es in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Ich weiß, das ist schwer für dich, ich kann dich verstehen.“
Dann kann man versuchen, die kindliche Kooperation zu gewinnen. Zum Beispiel, indem man vorschlägt: „Während wir uns die Jacke und die Schuhe anziehen, erzähle ich dir eine spannende Geschichte und du bestimmst, um was es gehen soll.“ Selbst etwas bestimmen zu können, kann Kindern helfen, es muss nämlich nicht immer nur ein aktiviertes kindliches Bindungssystem sein, was das Loskommen erschwert.
Kinder in der Autonomiephase sind auf dem Weg, eine eigene Identität zu entwickeln und denken darum häufig: „Bloß, weil du etwas willst, will ich das aber nicht unbedingt!“ Dann ist elterliches Nachdenken und Empathie gefragt: Wie schaffen wir es dennoch, friedlich zusammen das Haus zu verlassen? Geliebte Stofftiere oder Handpuppen können hier gute Moderatoren sein und vermitteln. Kinder kooperieren gerne, wenn Eltern mit ihnen spielen und diese Ebene ansprechen, anstatt im Befehlston zu sagen: „Los, jetzt mach endlich.“ Wir möchten ja auch nicht, dass andere Menschen so mit uns sprechen!
Ihr zeigt durch Forschungsergebnisse, dass Eltern mit einem „autoritativen“ Erziehungsstil ganz gut fahren. Was genau meint ihr damit?
Stella: Zumindest solche Eltern fahren damit gut, die bereit sind, sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, was auch schon mal ziemlich anstrengend sein kann. Aber sie tun das, weil sie wollen, dass ihre Kinder später zu ebenso selbständigen wie empathischen, bindungs- und teamfähigen Erwachsenen werden, die kein Problem haben, selbstbewusst für sich und ihre Bedürfnisse einzustehen. All diese tollen Eigenschaften trainieren Kinder und auch die Eltern nämlich nachweislich, wenn die Familie einen autoritativen Erziehungsstil lebt. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass ein Erziehungsstil keine Methode ist, sondern eine grundsätzliche Haltung.
Und welche Haltung ist das in diesem Fall?
Eliane: Eine, in der die kindlichen Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen, aber die Eltern gleichzeitig entwicklungsförderliche Anforderungen an die Kinder stellen. Das heißt, auch bei einem autoritativen Erziehungsstil geht es immer noch um Erziehung, also auch bei der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung, um die sich unser Buch dreht. Sie hat nichts mit Gewährenlassen zu tun und auch nichts mit der Unerzogen-Bewegung. Aber eben auch nichts mit der autoritären Erziehung früherer Generationen.
Wie hätten Eltern denn früher reagiert, wenn das Kind, sagen wir, nicht die Zähne putzen will und was tun bindungsorientierte Eltern?
Stella: Früher hätte man vielleicht gedroht: „Du machst jetzt den Mund auf, sonst setz’s was.“ Das hat erst mal in dem Sinne funktioniert, dass das Kind den Mund öffnet. Allerdings aus Angst, nicht, weil es freiwillig kooperiert. Was ein Kind da vor allem mitnimmt, ist: Was ich will, zählt nicht. Für die schnell gesäuberten Zähne wurden mal eben die Bindung und das kindliche Selbstwertgefühl beschädigt.
Eltern, die bindungsorientiert erziehen, möchten natürlich auch, dass ihr Kind gesunde Zähne hat, sie übernehmen hier Verantwortung. Aber sie versetzen sich in die Lage des Kindes: Es ist unangenehm, wenn jemand anders im eigenen Mund herumfuhrwerkt, das kennen wir doch alle vom Zahnarzt. Natürlich begreift ein Zweijähriges noch nichts von Bakterien. Aber es lohnt sich, wenn die Eltern sich die Mühe machen, eine kindgerechte Erklärung zu finden, warum Zähne geputzt werden müssen.
Etwa: Die Kariestrolle haben sich eingeschlichen und mit der Zahnbürste putzen wir sie jetzt weg. Wenn das Kind dann noch einbezogen wird, indem es zum Beispiel die Zahnbürste und den Ort des Zähneputzens wählen darf und vielleicht auch mal Papas Zähne schrubben darf, lernt es: Es gibt einen wichtigen Grund fürs Zähneputzen, aber ich darf mitbestimmen, wie das gemacht wird, ich bin auch wichtig. Der Aufwand für Mama und Papa ist zwischendurch schon mal hoch, die Anstrengung zahlt sich aber langfristig aus. Und mit der Zeit wird es auch leichter, weil das Kind irgendwann aus freien Stücken kooperiert.
Euer Buch heißt „Wild Child“. Was genau ist denn ein Wild Child, ein wildes Kind?
Stella: Wir fanden, dass der Begriff toll auf kleine Kinder passt, denn die sind von Natur aus wild, lebensfroh und wollen die Welt kennenlernen und entdecken. Oder besser gesagt: Sie müssen es sogar, denn es ist ja kein Zufall, dass alle kleinen Kinder plötzlich in die Autonomiephase kommen und beginnen, sich von den Eltern zu lösen. Das ist das Programm, das ihnen die Evolution mitgegeben hat. Dabei verstehen wir „wild“ im Sinne von ursprünglich und unverfälscht, ein Wild Child folgt seinen Gefühlen. Das bedeutet aber nicht, dass ein Wild Child unbedingt ein besonders lautes oder extrovertiertes Kind sein muss oder eines, das besonders auf Konfrontation aus ist. Ein Reh ist ja auch genauso wild wie ein Puma.
Ist „Wild Child“ also nicht gleichbedeutend mit einem gefühlsstarken Kind?
Stella: So, wie der Begriff „gefühlsstark“ meistens benutzt wird, also für Kinder, die ihre Emotionen eher heftig nach außen tragen: nein. Jedenfalls sind mit Wild Child nicht nur diese Kinder gemeint. Wobei ich davon überzeugt bin, dass auch die stilleren Kinder starke und große Gefühle haben. Sie haben nur nicht diesen Impuls, sie so unmittelbar und sichtbar in die Welt zu tragen, sondern brüten darüber vielleicht erst mal eine Weile. Aber auch ein introvertiertes Kind ist ein Wild Child.
Euer Buch landete sofort auf der Spiegel Bestsellerliste – hättet ihr damit gerechnet? Und welche Rückmeldungen erhaltet ihr zum Inhalt?
Eliane: Das hat uns total überrascht. Aber es freut uns natürlich, weil wir dann viele Menschen erreichen. Wir wollen Eltern dabei unterstützen, eine möglichst sichere Bindung zu ihren Kindern aufzubauen. Wie möchten, dass möglichst viele Kinder bindungssicher groß werden, das wird auch unserer Gesellschaft später einmal zugute kommen. Es ist ein schöner Erfolg, aber nicht entscheidend dafür, dass wir uns weiterhin für diese Themen engagieren. Die Rückmeldungen sind sehr positiv und, ja, wir freuen uns wirklich über jede Nachricht, die wir dazu erhalten.
Stella: Wenn ich höre, wie das Buch den Eltern in konkreten Situationen richtig hilft, denke ich immer: Yeah, so war das auch gedacht!
Ihr führt uns im Buch auch auf eine Reise zurück in unsere eigene Vergangenheit und haltet uns an, einmal unsere eigene Bindungsgeschichte anzuschauen. Warum genau und was sagt uns das?
Stella: Weil wir das Verhalten unserer Eltern fast immer unbewusst kopieren, wenn wir darüber nicht reflektieren. So werden sichere, aber eben auch ungünstige Bindungs- und Verhaltensmuster von einer Generation an die nächste weitergegeben. Sobald wir uns aber wenig förderliche Verhaltensweisen, die wir als Kind erlebt haben, bewusst machen, haben wir es in der Hand, einen Teufelskreis zu durchbrechen.
Ein persönliches Beispiel: Als ich klein war, war mein Vater sehr krank und ist gestorben, als ich gerade sechs war. Meine Mutter stand damals enorm unter Druck und ich habe gemerkt, wie meine Bedürfnisse sie oft überfordern, obwohl sie ein sehr liebevoller Mensch ist. Wenn sie mit mir gespielt hat, hat sie oft geseufzt: „Na gut, wenn’s sein muss!“ Wahrscheinlich habe ich deshalb noch heute häufig die Sorge, anderen „lästig“ zu sein – aber nur, bis ich mir in Erinnerung rufe, woher es kommt.
Hätte sie gewusst, wie ihr Verhalten auf mich wirkt, hätte sie es sicher so gemacht wie ich heute mit meiner Tochter: Ich versuche, möglichst klar in der Kommunikation zu sein. Will sie mit mir spielen, habe ich im stressigen Alltag natürlich auch den Impuls „Oh Mann, ausgerechnet jetzt.“ Aber meistens gelingt es mir schnell, mich zu erinnern, dass ich meinem Kind nicht das Gefühl geben will, ein Opfer für es zu bringen, für das es sich am Ende wahrscheinlich schuldig fühlt. Spiele ich also mit, lasse ich mich so gut es geht drauf ein und genieße die Zeit mit ihr. Ansonsten mache ich klar, warum es gerade nicht geht oder ich nicht spielen will und sage zum Beispiel: „Nein, tut mir leid, jetzt bin ich zu müde.“ So lernt sie, dass es in Ordnung ist, für eigene Bedürfnisse einzustehen.
Nehmen Sie Ihr Kind immer ernst, ist einer der Sätze, der sich bei mir bei der Lektüre besonders eingeprägt hat. Welche weiteren Schlüssel für eine gute Eltern-Kind-Beziehung und Bindung könnt ihr dazu nennen?
Eliane: Die bedingungslose Annahme eines Kindes ist für die Entstehung einer sicheren Bindung zentral. Eltern reagieren dann gelassener und versuchen ihr Kind zu verstehen. Bedingungslose Liebe ist eine Haltung. Dazu gehört der bewusste Verzicht auf Strafen oder Liebesentzug im Anschluss an Situationen, die nicht ideal verlaufen sind. Zu dieser inneren Haltung gehört auch, dass die untröstlichen Momente sein dürfen – das ist einfacher, wenn man weiß, dass sie normal sind und nichts darüber aussagen, ob man kompetent in der Elternrolle ist oder nicht.
Bedingungslose Liebe bedeutet etwa, dass Eltern ihr kleines Kind, das gerade wegen einer „Kleinigkeit“ getobt hat, ohne Zögern in den Arm nehmen, wenn es Trost sucht.
Bedingungslose Liebe bedeutet, dass man Kinder um ihrer selbst willen liebt, auch dann, wenn sie wütend und stürmisch sind und sich abzeichnet, dass es noch dauern wird, bis Empathie und Impulskontrolle reifen. Dann zu sagen: Ich lasse dich damit nicht alleine, sondern unterstützte dich auf deinem Entwicklungsweg.
Bedingungslose Liebe bedeutet nicht, dass jeder Wunsch des Kindes erfüllt wird. In sicheren Bindungsbeziehungen darf und sollte ein „Nein“ kommuniziert werden. Eine meiner Lieblingsstellen im Buch ist in diesem Zusammenhang: „Es ist leicht, ein Kind zu lieben, das sich kooperativ verhält und den elterlichen Erwartungen und Wünschen entspricht. Es ist aber besonders wichtig, gerade in den schwierigen Momenten miteinander in Verbindung zu bleiben und dem Kind hier die Sicherheit zu geben: ,Ich hab dich lieb. Immer und bedingungslos!‘