Ihr Lieben, es sind Fragen, die uns alle über kurz oder lang im Leben mit unseren Kindern beschäftigen: „Wie viel Eltern braucht ein Kind?“ „Wie können wir Fürsorgepflicht und Freiheitsdrang vereinen?“ Und vor allem: „Wie kann es uns gelingen, ein gutes, stabiles Beziehungsnetz für unsere Kinder zu knüpfen?“ Das fragt sich Bestseller-Autorin Nora Imlau in ihrem neuen Buch In guten Händen: Wir wir ein starkes Bindungsnetz für unsere Kinder knüpfen.
Worum es geht? Dazu ein Auszug aus dem Klappentext: „Es heißt, es brauche ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Doch in unserer modernen Welt ist es gar nicht so leicht, dieses Dorf zu finden. Schließlich leben wir längst nicht mehr in Großfamilienverbänden zusammen. Und wir wollen unsere Kinder auch nicht irgendwem anvertrauen. Im Gegenteil: Je sorgsamer wir unser Familienleben so gestalten, wie wir es für richtig halten. Desto schwerer fällt es uns, unsere Kinder auch anderen anzuvertrauen.
Wie schaffen wir das also: unsere Kinder nicht in unserem Kleinfamilienkosmos festzuhalten, auch aber nicht zu riskieren, dass all unsere Bemühungen um Bindungssicherheit anderswo zunichte gemacht werden? Diesen brennenden Fragen und berechtigten Sorgen widmet Nora Imlau, selbst Mutter von vier Kindern, ihr neues Buch.“ Wir durften sie dazu interviewen.
Liebe Nora, Fremdbetreuung oder „kitafrei“, Hausfrau oder Karrieremutter, Aufopfern oder egoistisch sein – wenn wir über die Betreuung von kleinen Kindern sprechen begegnen uns oft Extrempositionen. Als gäbe es nur gut oder schlecht, richtig oder falsch. So schreibst du es auf deinem (übrigens sehr wertvollen!) Instagram-Account. Dabei verlieren wir nur oft das wichtigste aus dem Blick…
Genau, nämlich dass Kinder letztlich vor allem eins brauchen: Sichere Bindungserfahrungen. Die können sie natürlich zu Hause machen, aber beispielsweise auch im Freundeskreis, in der Großfamilie und auch in der Kita. Denn kleine Kinder können sich nicht nur an eine oder zwei Personen sicher binden – sie profitieren davon, wenn sie ein ganzes Netzwerk von Bindungsbeziehungen ausprägen können, die sie stützen und tragen.
Damit solche sicheren Bindungen entstehen können, ist es wichtig, dass wir Kindern gegenüber feinfühlig sind und prompt und angemessen auf ihre Bedürfnisse reagieren. Das klappt am besten, wenn wir selbst einigermaßen ausgeruht und zufrieden sind und nicht völlig am Limit. Deshalb ist es sehr schwer, sichere Bindungserfahrungen zu schenken, wenn wir uns völlig allein dafür verantwortlich fühlen und uns nie eine Pause gönnen. Viel leichter fällt uns bindungsstärkendes Verhalten, wenn wir die Verantwortung für unsere Kinder mit anderen zugewandten Bezugspersonen teilen können.
Wie kann es uns gelingen, ein gutes, stabiles Beziehungsnetz für unsere Kinder zu knüpfen? Wo finden wir in unserer modernen Welt Menschen, die uns im Zweifel unterstützen und auffangen? Ich denke hier auch besonders an Alleinerziehende…
Tatsächlich fühlt sich das alte Sprichwort von dem Dorf, das wir brauchen, um ein Kind großzuziehen, für viele Menschen nach Stress an, nach einem weiteren Punkt auf der endlosen To-Do-Liste: Jetzt sollen wir auch noch ein Dorf aufbauen! Mit welcher Energie denn bitte? Und ich verstehe das so gut. Deshalb plädiere dafür, es uns beim Aufbau unseres persönlichen Bindungsnetzes so leicht wie möglich zu machen: Unsere Kita kann Teil davon, auch eine Tagesmutter oder ein Tagesvater.
Wir dürfen uns an bestehende Unterstützungsnetzwerke wie etwa Mehrgenerationenhäuser und Familienzentren ranhängen, wir dürfen in Beziehungen neu denken, die ohnehin schon bestehen und in denen wir uns bisher vielleicht nicht getraut haben, auch mal nach ganz konkreter Alltagsunterstützung zu fragen.
Was sich viele Menschen mit Kindern schwer vorstellen können ist, was es für eine Freude für Menschen ohne Kinder sein kann, mal ein paar Stunden mit Kindern verbringen zu dürfen. Das kann ein richtiges Geschenk sein! Das heißt: Unser Bindungsnetz muss nicht riesig sein und nicht viel Kraft erfordern. Oft geht es einfach nur darum, sich zu erlauben, Angebote zu nutzen, die bereits existieren, und unser Umfeld abzuscannen nach der einen Person, die für uns gerade einen echten Unterschied machen kann.
Du sagst, die Familie ist ein System, in dem das Wohlergehen jeder Person von dem der anderen eng zusammenhängt. Dass es also den Eltern nicht gut geht, wenn es ihrem Kind nicht gut geht. Und dass es aber auch etwas mit dem Kind macht, wenn es den Eltern nicht gut geht, was schlussfolgerst du daraus in Sachen Betreuungsentscheidung?
Kinder spüren, wie es ihren Eltern geht, und umgekehrt. So ist es beispielsweise für viele Kinder eine große Belastung, wenn sie spüren, dass ihre Eltern sich für sie aufopfern. Weil sie dadurch in einer Schuld stehen, die sie niemals abarbeiten müssen. Gibt eine Mutter etwa ihren geliebten Beruf auf, um ganz für ihr Kind da zu sein, hat das Kind schnell das Gefühl: Jetzt muss ich dafür ein besonders tolles Kind sein, damit dieses Opfer nicht umsonst war.
Solche Dynamiken könen für die Eltern-Kind-Beziehung eine schwere Belastung darstellen. In Bezug auf das Thema Betreuung heißt das: Wir sollten immer versuchen, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick zu behalten. Ja, manche Kinder sind mit einem Jahr noch nicht kitareif – doch das heißt ja nicht automatisch, dass die Mutter ihre Elternzeit verlängern muss.
Vielleicht können die Eltern sich die Betreuung gleichberechtigt aufteilen, vielleicht gibt es in der Familie Menschen, die mithelfen können. Vielleicht ist auch eine liebevolle Tagesmutter, die nur wenige Kinder im familiären Setting betreut, eine gute Lösung für die Familie. Entscheidend ist: Wir tun weder uns selbst noch unserem Kind einen Gefallen, wenn wir schweren Herzens unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse jahrelang auf Eis legen, weil wir jedwede außerfamiliäre Betreuung für unzumutbar halten.
Gleichzeitig halte ich es auch für wichtig, sich nicht zu einer Betreuungsentscheidung drängen zu lassen, die sich noch nicht stimmig anfühlt. So berichten mir immer wieder junge Mütter, dass sie sich regelrecht bedrängt gefühlt haben, nach spätestens einem Jahr wieder arbeiten zu gehen, um nicht als faul zu gelten. Dabei hätten sie gerne noch länger Elternzeit genommen, und finanziell wäre das auch gegangen. Das ist insbesondere in der ehemaligen DDR ein großes Thema, dass die Frauen aus der Familie dann Druck bekommen, gefälligst mal wieder fleißig zu sein und nicht so zu glucken.
Da dürfen Familien mit gutem Gewissen sagen: Stopp, wir wollen unser Kind noch nicht in außerfamiliäre Betreuung geben, bitte respektiert das!
Woran erkennen wir, ob eine Tagesmutter, eine Krippe oder Kita, eine Schule unsere Kinder gut und geboren betreut? Gibt es da Dinge, auf die wir direkt achten können?
Der wichtigste Qualitätsmesser überhaupt in Betreuungsfragen ist das Wohlergehen des Kindes. Das heißt: Eine gute Krippe, Kita oder Schule erkenne ich daran, dass mein Kind gerne da hingeht und sich augenscheinlich dort wohlfühlt. Abschiedsschmerz am Morgen ist okay und normal, auch Tränen dürfen fließen – entscheidend ist, dass diese Traurigkeit liebevoll begleitet wird und dass das Kind dann zügig ins Spielen und Lernen findet und dabei entspannt und ausgeglichen wirkt.
Besorgniserregend ist es, wenn Kinder regelrecht Angst vor ihrer Kita entwickeln, sich mit Händen und Füßen dagegen wehren dortzubleiben, und nach dem Abholen regelrecht verstört wirken. Gerade bei kleinen Kindern, die noch nicht gut sprechen können, sollten wir da ganz genau hinschauen: Ist diese Kita für mein Kind ein Ort, an dem es sich emotional sicher und geborgen fühlt?
Und bei älteren Kindern, die schon sprechen können, ist es wichtig, ihnen auch zu glauben, wenn sie irgendwas erzählen, das uns seltsam vorkommt. Denn es gibt leider immer wieder Fälle von Gewalt im institutionellen Kontext, die oft zu spät erkannt wird, weil den betroffenen Kindern kaum einer zuhört.
Warum mir dieses Interview so wichtig ist. Ich habe selbst – neben viele positiven – eine prägend-negative Kitaerfahrung gemacht. Ich war glücklich in einem Kinderladen in Berlin gewesen, als ich mit fünf Jahren mit meiner Familie umzog ins Bergische Land. Dort ging ich in eine Elterninitiative, in der wir zum Mittagessen nicht nur alles probieren mussten (egal, wie oft wir es schon probiert hatten und nicht mochten), sondern auch nichts trinken durften. NACH dem Essen war dann eine Tasse Tee erlaubt. Ich kann bis heute nicht gut Tee trinken, so tief ging diese Erfahrung…
Ja, das ist das große Problem, wenn wir über die Qualität von Kitabetreuung in Deutschland sprechen: Die Unterschiede sind einfach so riesig. Die letzte große Untersuchung zur Qualität der Kita-Betreuung in Deutschland – die so genannte NUBBEK-Studie – hat gezeigt, dass etwa 10 Prozent aller Kitas in Deutschland hervorragend sind, etwa 80 Prozent mittelmäßig, und zehn Prozent sind so schlecht, dass die Einrichtungen eigentlich sofort wegen Kindswohlgefährdung geschlossen werden müssten.
Das ist natürlich ein erschreckender Befund, der es Eltern schwer machen kann, ihr Kind überhaupt einer Einrichtung anzuvertrauen. Umso wichtiger ist es, sich klar zu machen: Wir können als Eltern selbst vieles erkennen, was in Kitas gut oder nicht so gut läuft. So rate ich allen Eltern, bereits beim ersten Kennenlernen genau nach solchen Dingen zu fragen, wie du sie beschreibst: Was passiert, wenn ein Kind hier nicht essen mag? Wie wird das Trinken gehandhabt?
Auch bei der Eingewöhnung sollten wir dabei ein Auge haben, wie mit den anderen Kindern in der Gruppe umgegangen wird, wie frei und selbstbewusst sie sich im Kitakontext bewegen. So können wir unsere Kinder davor schützen, zu erleben, was du erlebst hast – nämlich psychische Gewalt, wie sie leider in den Kindergärten unserer Kindheit weit verbreitet war und an manchen Orten immer noch ist.
Auch als Mutter habe ich unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Unsere Tochter war schon immer eine gesellige Partyqueen, sie freute sich auf die Kita, auf die Kinder, auf Action. Unsere Zwillinge waren da ganz anders. Sie wollten lieber zu Hause bleiben, sie hatten ja sich, es gab öfter mal Tränen oder Diskussionen an der Kitatür. Was können wir daraus mitnehmen? Dass in Sachen Betreuung nichts zu verallgemeinern ist?
Ja, dass wir Menschen verschieden sind, auch die ganz kleinen Menschen. Ich werde immer misstrauisch, wenn irgendjemand mal wieder postuliert, was angeblich alle Kinder brauchen. So wie die ehemalige Familienministerin Franziska Giffey, die immer davon sprach, dass alle kleinen Kinder vom Kitabesuch profitieren, oder auch jene radikalen Betreuungsgegner, die behaupten, alle Kinder bräuchten in den ersten Jahren nur die Mama. Beides ist nicht wahr.
Was stimmt, ist vielmehr genau das, was du auch beschreibst: Manche Kinder mit einem eher extrovertierten Wesen profitieren bereits in jungen Jahren sehr vom Zusammensein mit anderen Kindern und Erwachsenen, andere eher introvertierte, sehr sensible Kinder sind vom Kita-Alltag oft noch eher überfordert und brauchen ein familiäreres Betreuungssetting, wie es das manchmal im häuslichen Rahmen, manchmal aber zum Beispiel auch in der Kindertagespflege gibt.
Gleichzeitig sind aber auch wir Eltern verschieden: Nicht jede Mutter kann es aushalten, jahrelang zu Hause zu bleiben, selbst wenn ihr Kleinkind das vielleicht toll fände. Und da sind wir wieder bei dem System, in dem jedes Bedürfnis Raum bekommen soll: Wenn mein Kind nicht in die Kita will, und ich als Mutter will aber arbeiten, dann sollten wir schauen, wie wir beides irgendwie unter einen Hut bekommen können.
Dazu kann auch gehören, in beide Richtungen ein paar Zumutungen zu verteilen: du gehst in die Kita, aber nur halbtags, und ich gehe arbeiten, aber nicht so viel, wie ich gern würde. So können wir miteinander ausloten, wie eine Lösung aussehen kann, mit der wir beide leben können.
In deinem Buch sprichst du auch die Rolle der Großeltern im Bindungsnetz unserer Kinder an und dass es mit großem Schmerz verbunden sein kann, wenn sie wenig Interesse zeigen oder dass es auch konfliktreich sein kann, wenn sie uns zwar helfen, wir aber trotzdem manchmal genervt sind…
Ja, viele Eltern sind heute sehr traurig darüber, dass ihre Eltern und Schwiegereltern gar nicht so viel Lust auf die Großelternrolle haben und sich lieber um sich selbst kümmern wollen. Andere Familien werden wiederum fast erdrückt von der Liebe der Verwandtschaft und können sich kaum retten vor Angeboten, das Baby mal zu nehmen, was auch belastend sein kann.
In beiden Fällen kann es hilfreich an, sich anzuschauen, wo die Großeltern herkommen, welche Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten stecken, und wovon unsere eigenen Wünsche an die Großelternbeziehung geprägt sind. Und dann können wir schauen: Gibt es vielleicht einen Weg, wie wir neu zusammenfinden?
Vielleicht haben die Großeltern keine Lust, sich allein um die Kinder zu kümmern, weil sie sich von zwei Kleinkindern überfordert fühlen. Oder sie haben Angst, mit ihren altmodischen Erziehungsvorstellungen eh alles falsch zu machen. Da könnten wir einen Rahmen schaffen, indem sich solche Sorgen relativieren können: Wie wäre es, Ihr kommt einfach mal zu Besuch und spielt mit nur einem Kind, und wir sind dabei und unterstützen euch?
Es gibt aber natürlich auch viele Fälle, in denen so eine Beziehungsanbahnung nicht möglich oder auch nicht gewünscht ist. Da dürfen wir uns klar machen: Ein Bindungsnetz kann auch wunderbar stärkend und vollständig sein ohne Großeltern darin. Denn die sicheren Bindungserfahrungen, die Kinder brauchen, setzen keine Verwandtschaft voraus. Da geht es um Verbindung, Interesse, gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen – und die können gute Freunde und Wahlverwandte ihnen genauso gut ermöglichen.
Du hast selbst vier Kinder, ihr seid auch schon umgezogen, du hast also vermutlich auch öfter neu Netze geknüpft, wie ist dir selbst da der sensible Spagat zwischen Schützen und Loslassen gelungen?
Ja, wir haben als Familie tatsächlich immer wieder netzwerktechnisch bei Null angefangen, zuletzt nach unserem Umzug über 600 Kilometer weit von der Großstadt ins Dorf, mitten in der Zeit der Kontaktbeschränkungen. Das war natürlich schwierig, da ein neues Bindungsnetz zu knüpfen.
Was meinem Mann und mir dabei geholfen hat, war ein gewisses Vorschussvertrauen: Wir sind nicht naiv, gehen aber davon aus, dass die meisten Menschen grundsätzlich erstmal gute Absichten haben. Bieten neue Nachbarn oder andere Eltern im Kindergarten an, mal unsere Kinder zu betreuen, wittern wir nicht gleich Gefahr, sondern freuen uns über das Beziehungsangebot – und schauen dann, wie wir ein Kennenlernen in sicherem Rahmen ermöglichen.
Klar bedeutet das immer ein Ausloten von Risiken, doch ich finde: Wir dürfen unseren Kindern nicht aus Angst vor allen möglichen Gefahren, die wir uns so vorstellen können, das Leben selbst verbieten. Zumal der beste Schutz vor Missbrauch und Gewalt nicht ist, Kinder von anderen Menschen fern zu halten, sondern sie seelisch zu stärken und selbstbewusst in die Welt zu schicken. Unsere Kinder dürfen jederzeit Nein und Stopp sagen, wissen, dass sie niemandem einen Gefallen schulden, uns jedes Geheimnis erzählen dürfen und nichts tolerieren müssen, was sich für sie nicht gut anfühlt.
Mit diesem Rüstzeug lassen wir sie mit gutem Gewissen ihre eigenen Beziehungserfahrungen machen und ihr eigenes Bindungsnetz knüpfen, das sie stärkt und hält, mit ihrer Bindung zu uns als sicherer Basis.
1 comment
Ein sehr schöner, ausgewogener Beitrag. Ich finde es immer erschreckend wie wertend vor allem Frauen gegenüber anderen „Familienmodellen“ sind und wie ideologisch geprägt manche Diskussionen sind. Das Wort „Fremdbetreuung“ finde ich auch völlig unpassend, weder Großeltern noch Erzieher sind doch dem Kind fremd, wenn nach einer Eingewöhnung eine regelmäßige Betreuung stattfindet. Wenn wir alle im Umgang miteinander toleranter und weniger wertend wären, wäre es für viele auch leichter sich auf die Bedürfnisse der eigenen Familie einzustellen und ganz konsequent danach zu handeln.