Ihr Lieben, ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich so – in dieser Form, wie Nils Pickert sie beschreibt – noch nie von der Liebe gelesen habe. Er haut das Ideal der Hollywood-Inszenierungs-Liebe vom Sockel und liefert mit seinem Buch Lebenskomplizinnen handfeste und bodenständige Beweise, dass die Liebe nicht zwingend Rosenblätter oder Karibikstrände braucht, um lebendig zu bleiben – sondern Gleichberechtigung.
Lieber Nils, ein erster Kuss, ein entfachtes Feuer – und schließlich viele Kompromisse. Klingt das für dich nach einer Liebesgeschichte?
Es kann auf jeden Fall eine Liebesgeschichte sein. Liebe hat viele Formen und Geschichten. Manchmal ist schon der erste Kuss ein Kompromiss, dem weniger Kompromisse folgen als in Beziehungen, in denen der erste Kuss einfach und selbstverständlich schien. Wir fühlen uns leider viel zu oft genötigt, nach Schema L zu lieben, obwohl Liebe so vielfältig ist wie wir es sind.
Dein Buch Lebenskomliz*innen wird als „Frontalangriff auf die romantische Liebe“ bezeichnet. Warum? Was hat es damit auf sich?
Romantische Liebe ist die Instagramisierung unserer eigentlichen Liebe. Sie verlangt Ewigkeit, Unverbrüchlichkeit, Bedingungslosigkeit. Sie soll uns alles sein und uns in einer immer komplexeren Welt für alle Entbehrungen und Anforderungen entschädigen. Sie versaut uns die Liebe, die wir haben, für Ideale, die sich nicht lohnen und nicht zu verwirklichen sind.
Die Frage ist nicht, ob wir romantische Liebe verdienen. Romantische Liebe verdient uns nicht. Wir alle haben etwas Besseres als das verdient. Nämlich die Liebe, die wir wirklich füreinander aufbringen und empfinden. Das ist schon ein ziemlicher Frontalangriff auf die romantische Liebe und er ist genau so gemeint.
Welchen Zusammenhang siehst du zwischen Liebe, Romantik und Gleichberechtigung?
Romantik entspricht unserem fehlgeleiteten Wunsch nach unbedingter Bestimmtheit bis ans Ende aller Zeit. Dabei ist Liebe auch nur ein Mensch. Sie ist so fehlbar, so gut, so stark oder schwach wie wir es sind. Liebe das Bedürfnis und das Bemühen darum, sich in jemandem zu beheimaten. Das ist ein Prozess, bei dem man sich die Hände schmutzig macht. Einer, der scheitern kann. Einer, der es erfordert, sich jeden Tag neu aktiv füreinander zu bestimmen, statt auf das Schicksal zu setzen.
Gleichberechtigung schafft die Rahmenbedingungen dafür, um uns in dieser brüchigen, antastbaren, verletzlichen Liebe halten zu können. Sie ist keine Garantie, sondern eine Notwendigkeit. Im Prinzip geht es um die Frage, ob wir für die Hoffnung auf einen romantischen Liebeslottogewinn auf ein gutes Leben in Liebe verzichten, weil der ja schließlich immer noch kommen könnte und so erderschütternd großartig ist, dass sich alles von selbst ergibt. Gleichberechtigung beantwortet die Frage wie wir miteinander umgehen, wenn sich Dinge nicht von selbst ergeben. Wenn wir uns nicht von selbst ergeben.
Was stellst du dir idealerweise unter „Liebe auf Augenhöhe“ vor?
Ich meine damit eine Liebe, die in Wohlwollen, Wahrhaftigkeit, Wissbegier und Wandelbarkeit die Bedürfnisse des Herzensmenschen als gleichwertig ansieht. Eine Liebe, die das eigene Verhalten nicht idealisiert und das der oder des anderen nicht skandalisiert und in einen Rahmen gegossen wird, der sie trägt.
Mit Absprachen, Vereinbarungen, Konfliktlösungsstrategien und allem, was dazu gehört. Romantische Liebe will uns weismachen, dass es das alles nicht braucht. Dass das unsexy ist. Wenn es der oder die Richtige ist, dann passt es einfach. Liebe auf Augenhöhe will wissen, wie sich Liebende gut tun können und entwickelt dafür Konzepte.
Kann Alltag also auch Liebe sein?
Es wäre furchtbar, wenn dem nicht so ist. Unser Alltag macht doch den größten Teil unseres Lebens aus. Liebe kann, sollte und muss genau dort stattfinden. Liebe ist kein freizuschaltendes Bonuslevel, sondern die Hauptquest.
Wir sollten weder auf außergewöhnliche Umstände warten, um unsere Liebe in ihnen stattfinden zu lassen, noch von unserer Liebe erwarten, dass sie sich immer wie ein außergewöhnlicher Umstand anfühlt. Alltagstauglichkeit wertet Liebe nicht ab sondern auf.
Auch Alltag mit Kindern und viel Orgakram?
Als nach meiner Vasektomie mit einem Eisbeutel auf den Hoden auf dem Sofa saß, während meine Lebenskomplizin um mich herum unsere vier Kinder betreute – das war Liebe.
Als sie unseren Sohn im Bad betreute und mit ihm sein Bett frisch bezog, während ich seine vollgekotzte Wäsche auswusch – das war Liebe.
Und wenn wir uns in diesem ganzen Familienirrsinn, in dem ganzen Dreck, dem Chaos, der Überforderung und dem Stress feststellen, dass wir das alles nur miteinander aushalten und wie sehr wir auch und gerade das alles sind, dann ist das Liebe.
Ich liebe es, an der Seite dieser Frau für unser gemeinsames Leben zu schuften. Also ja: Auch Alltag mit Kindern und viel Orgakram.
Wie sieht dein „Entwicklungsprogramm für die Liebe“ aus?
Mein Programm orientiert sich an der Liebe, die ist, und an den Bedürfnissen, die realisiert werden wollen. Es seziert die romantisierenden Wurzeln und die sexistischen Mythen, von denen wir kommen, und versucht einen Weg in Gleichberechtigung zu beschreiben. Das funktioniert zum Beispiel, indem Liebende ihren Beziehungsvertrag transparent miteinander ausarbeiten.
Alle Paare haben einen Beziehungsvertrag. Nur ist er bei den meisten leider intransparent oder unvollständig, weil es als unromantisch gilt, sich damit zu beschäftigen. Ein Beziehungsvertrag ist eine Gebrauchsanweisung dafür, unter welchen Bedingungen wir einander lieben wollen und können: Kinder? Aufgabenverteilung? Ziele? Werte? Das alles gehört in die Liebe hinein und nicht außen vor.
Was hältst du von dem Begriff Mental Load?
Mental Load ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit ausgearbeiteter Beziehungsverträge. Auch hier: Es ergibt sich eben nicht von selbst. Wir sind alle bis zum Erbrechen mit Stereotypen gefüttert worden und warten auf die romantische Liebe, in der sich alles in Wohlgefallen auflösen soll.
Aber wie soll sie sich in Liebe zu ihm halten können, wenn immer sie es ist, die die Termine der Kinder koordiniert, sich Schuhgrößen merkt, Geburtstagsgeschenke besorgt, den Kontakt zu der Familie hält und die Urlaubspacklisten macht, während er das alles geflissentlich übersieht oder nicht als Arbeit wertet, damit es ihn nicht agitiert und schlecht aussehen lässt?
Wo bleibt da die Wertschätzung! Der Partnerin, und es sind eben meistens Frauen, dabei zuzusehen, wie unter immer mehr mentaler Belastung zusammensackt oder das zu ignorieren, hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun.
Es könnte interessanterweise aber durchaus etwas mit romantischen Liebesvorstellungen zu tun haben, nach denen das die Aufgaben einer liebevollen Frau sind. Also auch hier: Geh einfach weg, romantische Liebe, du nervst!
Können wir durch Gleichberechtigung mehr von der Liebe haben?
Das ist eine ganz wunderbare Frage, weil sie die Antwort gleich mitliefert. Wir haben durch Gleichberechtigung nicht unbedingt mehr Liebe aber mehr von der Liebe.
Wir verändern die Bedingungen, wir gestalten den Raum für unsere Liebe so, dass sie sich dort existieren und sich entfalten kann. Und sollten wir irgendwann nicht mehr die Kraft oder den Willen haben, einander zu lieben, dann räumen wir diesen Raum gemeinsam auf und verlassen die Heimat, die wir einander für eine Weile waren.
Welche ersten Praxistipps gibst du für mehr Augenhöhe?
Einen guten Beziehungsvertrag für die gemeinsame Liebe ausarbeiten und immer wieder aktualisieren. Sich selbst nicht idealisieren, den anderen nicht skandalisieren. Sich die Liebe füreinander durch den Alltag miteinander erzählen. Nach Kräften Wohlwollen aufbringen. Wahrhaftig sich selbst und dem Herzensmenschen gegenüber sein. Wandel akzeptieren. Neugierig bleiben. Und nicht zuletzt sich immer wieder dazu zu disziplinieren, die Bedürfnisse des oder der anderen als gleichwertig anzusehen.
Wir sagen das oft so leicht dahin, aber auf einer sehr existenziellen Ebene sind wir uns grundsätzlich selbst die Nächsten, weil abgrundtief allein. Deswegen ist auch unsere Sehnsucht nach Beheimatung so groß. Die Bedürfnisse eines anderen Menschen als gleichwertig zu betrachten, ist ein permanenter Kraftakt.
Es gibt keine großen Gesten, die uns das ersparen könnten. Man hat es auch nicht irgendwann für immer geschafft. Es ist ein Aufraffen gegen das Auseinanderfallen, das alle Zärtlichkeit, Wärme und Nachsicht verdient, zu der wir in der Lage sind.
Eine persönliche Frage: Wie schafft ihr es zu Hause mit der gleichberechtigten Liebe?
Ich kenne meine Lebenskomplizin seitdem sie 10 Jahre alt ist. Sie ist meine beste Freundin, die Mutter meiner vier Kinder und ich liebe sie sehr. Sie ist der Mensch, von dem ich am dringendsten wissen will, wie seine Geschichte weitergeht. Wir versuchen uns so gut es geht an das zu halten, was ich gerade beschrieben habe. Das klappt oft, aber nicht immer.
Wir straucheln, wir scheitern, wir versagen. Bislang haben wir dann noch immer entschieden, uns weiterhin Heimat zu sein und uns in Sachen Gleichberechtigung mehr anzustrengen, damit unsere Liebe mehr Luft zum Atmen hat. Ich weiß nicht, ob es immer so sein wird. Und das ist auch gut so. Unser Bemühen ist real, unsere Fehler zählen, unsere Liebe ist das, was wir daraus machen. Wir sind immer noch der Plan.
3 comments
Ein sehr guter und ehrlicher Artikel. Gleichberechtigung bedeutet aber auch EIGENVERANTWORTUNG (auch die Frauen), reden, reden, reden. .
Und an die vorherigen Kommentatorinnen, Gleichberechtigung bedeutet nicht körperlich gleich stark sondern vor allem beider Stärken und Schwächen zu kennen und das zu nutzen. Arbeitsteilung ja aber warum deckt nicht jeder einzelne(!) Bereiche überwiegend allein ab? Jeder Partner darf dem Anderen auch abnehmen was der nicht leisten kann, dafür tut der Andere etwas was mir nicht liegt. Bitte nicht so stur aufrechnen. Flexibel aufteilen aber aufs Gleichgewicht achten das Beide mitmachen und nicht nur Eine/r. Und ganz pragmatisch und unglaublich verbindend, der gleiche oder ein sehr ähnlicher Humor hilft auch gleich weiter.
Vielleicht überdenken wo wer welche Form der liebe einfließen lassen kann? Denn niemand ist gleich. Und jeder hat andere Stärken. Und warum sollte eine körperliche Beeinträchtigung sofort zu Ungleichheit führen? vielleicht ist diese anders umsetzbar, dann jedoch dennoch vollkommen gleichwertig?
Und was macht man, wenn Gleichberechtigung nicht möglich ist? Nicht wegen Geschlechterrollen, sondern weil ein Partner weniger leistungsfähig ist als der andere zB wegen einer chronischen Krankheit oder Behinderung. Doppelt leisten und sich aufopfern, weil man den Partner so liebt, wäre ja wieder diese romantische Liebe. Oder verstehe ich das falsch?