Ihr Lieben, es gibt Entscheidungen im Leben, vor denen wir nicht stehen möchten. Als Silke in der Schwangerschaft mit ihrem zweiten Kind zur Pränataldiagnostik ging, wollte sie eigentlich nur Gewissheit, dass alles gut ist. Doch es kam anders. Nach einer Fruchtwasserunteruchung gab es die Diagnose Trisomie 21 mit Herzfehler für ihr Kind. Es stellte ihre noch junge Ehe ganz schön auf den Prüfstand. Sechs Jahre ist das alles nun her, hier erzählt Silke, wie sie sich daran erinnert.
Triggerwarnung: Es geht um einen Spätabbruch der Schwangerschaft. Wenn du dich grad nicht danach fühlst, das zu lesen, dann überspring diesen Text lieber.
Wir wünschen uns ein zweites Kind
Mai 2016 – meine Tochter war zwei Jahre alt und wir waren uns sicher, noch ein Geschwisterchen wäre perfekt. Wir waren überglücklich und alle freuten sich mit uns, als ich dann erneut schwanger wurde. Alles war sehr entspannt, es war schließlich bereits die zweite Schwangerschaft und man weiß, was auf einen zukommt.
Alle Untersuchungen waren unauffällig. Aber auch schon wie bei der ersten Schwangerschaft machten wir die Nackenfaltenmessung beim Frauenarzt. Um ehrlich zu sein, dachten wir vorher nicht so wahnsinnig viel drüber nach, was passiert, wenn die Messung nicht nach den eigenen Vorstellungen verläuft. Irgendwie gehörte es für uns einfach dazu, als normale Untersuchung, die man halt selbst bezahlen muss.
Ein paar Tage später rief die Frauenarztpraxis an: Ich sollte bitte so schnell wie möglich vorbeikommen, am besten am gleichen oder nächsten Tag. Ich zitterte am ganzen Körper, stand auf der Arbeit in meinem Büro. Ich fragte noch: „Aber ist denn alles ok? Können Sie mir nicht ansatzweise sagen, was los ist?“ Die Schwester antwortete: „Das bespricht dann alles die Ärztin mit Ihnen.“
Auffälligkeiten bei der Pränataldiagnostik
Ich war wie erstarrt und konnte bis zum Termin auch nicht mehr abschalten. Das Gespräch ergab, dass die Blutwerte auffällig waren, die Messung aber noch im normalen Bereich lag. Daher sollte ich mir keine weiteren Sorgen machen, es werde schon alles gut gehen. Aber ich sollte zur Feindiagnostik nochmal zu einem weiteren Arzt gehen.
Ich machte einen Termin. Er begrüßte mich: „Hallo, Ich weiß ja, warum Sie hier sind. Wir schauen mal…aber Sie sind 27 und 29 Jahre alt, Nichtraucher und auch sonst schlank, sportlich und gesund. Da wird schon nichts weiter sein.“
Er fing mit dem Bauchultraschall an und sagte erst mal gar nichts mehr. Selbst ich (die nicht mal bei genauem Hinsehen auf dem Ultraschallbildschirm das Geschlecht erkennen konnte) erkannte sofort, dass die Nase nicht normal aussah. Der Arzt schaute noch eine Weile konzentriert alle möglichen Organe an. Dann sagte er uns, dass beim Embryo definitiv der Nasenknochen fehlen würde, die Nackenfalte auffällig wäre und ein mehrfacher Herzfehler vorliegen würde.
Diagnose Trisomie 21 mit Herzfehler
Wir waren einfach nur todtraurig. Und auch die Stimmung vom Arzt hatte sich urplötzlich in bitterernst und fast mitleidend geändert. Er riet uns, um sicher zu gehen, zu einer Fruchtwasseruntersuchung. Das Ergebnis besagte hundertprozentige Trisomie 21. Es war ein kleines Mädchen.
Und obwohl wir uns sicher waren, dass wir die Nackenfaltenmessung ja nicht aus Spaß machten, sondern aus dem Grund, dass wir uns ein Leben mit einem behinderten Kind nicht vorstellen konnten, war das die absolut schwerste Entscheidung in meinem ganzen Leben. Nach zwei weiteren Beratungsgesprächen mit verschiedenen Frauenärzten stand unsere Entscheidung fest. Wir wollten eine Abtreibung.
So viele Gedanken nach der Diagnosese
Dieses Wort klingt für mich immer noch so schrecklich und ich kann zu 100 Prozent verstehen, wenn uns jemand verurteilt und als egoistisch bezeichnet, aber lasst mich die Gründe kurz erklären: Wir dachten in allererster Linie an unsere erste kleine Tochter. Uns war klar, dass sie wahrscheinlich für immer zurückstecken müsste. Sie würde immer an zweiter Stelle stehen: Pflege des behinderten Kindes, Krankenhausaufenthalte (wahrscheinlich immer) mit der Mama. Urlaubsreisen, Ausflüge, selbst Spielplatzbesuche wären wahrscheinlich eine logistische und emotionale Meisterleistung.
Als zweites dachten wir auch an uns – als Paar. Würde unsere junge Ehe so einen immensen Einschnitt überstehen? Würden wir allem gerecht, vor allem dem Kind? Würden wir es überhaupt schaffen, uns bis an sein Lebensende um das Kind zu kümmern? Was würde passieren, wenn wir als Eltern mal nicht mehr sind und das Kind eventuell nicht alleine leben kann? Wer kümmert sich dann?
Die Unsicherheit in der Schwebephase
Auch der Arzt versicherte uns, dass das Kind auf jeden Fall nach der Geburt aufgrund des Herzfehlers sofort mehrfach operiert werden müsste, wenn es überhaupt bis zur 40. Woche im Mutterleib durchhielte. Was wäre, wenn bei der OP oder kurz nach der Geburt etwas passiert? Wenn das Kind eine OP oder die Geburt nicht übersteht? Ist dann der Schmerz nicht noch viel schlimmer als jetzt?
Wir stellten uns tausende Fragen, googleten wie verrückt (würde ich niemals jemanden empfehlen). Wir lasen von Geschichten, wo die Diagnose dieselbe war und ein gesundes Kind auf die Welt kam. Das Herz bricht in diesen Momenten, aber der Kopf weiß von den Untersuchungsergebnissen, die es Schwarz auf Weiß bestätigen.
Trotz allem blieben wir bei der Entscheidung und glaubt mir, es war ein absoluter Kampf zwischen Kopf und Herz. Ich war mir auch sicher, dass ich das Kind genauso lieben kann wie meine Tochter. Viele Tränen sind in dieser Zeit geflossen. Selbst zur Beratungsstelle für Abtreibungen mussten wir. Es war ein schlimmer Termin. Es wurde auf Adoption gleich nach der Geburt hingewiesen, auch anonym.
Beratungstermin vor dem Eingriff
Ich weiß, dass den Schwangeren alle Möglichkeiten genannt werden müssen. Aber mir war absolut klar, dass ich das niemals übers Herz bringen würde. Leider zogen sich die ganzen Termine und Untersuchungen so lange hin, dass ich nun bereits in der 21. Woche schwanger war. Ich wusste damals nicht Bescheid, aber der Abbruch konnte dann natürlich nicht einfach medikamentös gemacht werden, das heißt: Ich würde das Kind auf natürlichem Weg bekommen müssen.
Das war der Moment, in dem ich ernsthaft an der Entscheidung zweifelte. Der erste Gedanke: Das schaffe ich nicht! Das kann ich nicht. Ich kann kein totes Kind zur Welt bringen. Die Zeit flog irgendwie wie im Rausch an mir vorbei.
Unser zweites Kind wird still geboren
Ich lag im Krankenhaus, bekam entsprechende Medikamente und einen Wehentropf. Das Kind wurde geboren, mein Mann stand mir immer bei. Hinterher bemerkten wir, dass die Geburt an unserem achten Jahrestag stattgefunden hatte. Und wieder ein Stich ins Herz. Alle waren in dieser schweren Zeit für uns da. Mein Mann überredete mich auch, zur Beerdigung zu gehen. Hinterher war ich dankbar. Wir haben nun einen Ort und eine Erinnerung, um zu trauern. Denn auch das tun wir natürlich.
Es ist nun fast sechs Jahre her aber ich denke noch sehr, sehr oft daran zurück. Ich würde rückblickend die gleiche Entscheidung wieder treffen aber die Trauer bleibt – wie bei anderen Sterneneltern auch…
12 comments
Danke für deinen Mut über dieses Tabuthema zu sprechen. Ich habe viel Respekt davor. Danke.
So eine Entscheidung wünscht man sich keinem. Den Apell nicht zu Verurteilen oder moralisch zu Bewerten wurde leider nicht von allen beherzigt. Ich finde es sehr sehr kritisch!
Die Kritik, dass ein offener Bericht von jemand der sich für einen Abbruch entschieden hat zu viel Raum gegeben wird, kann ich absolut nicht nachvollziehen. Tatsächlich – rein subjektiv – scheint mir viel mehr das Gegenteil zutreffend zu sein. Ganz persönliche glaube ich, dass das tabuisiern einer Entscheidung für den Abbruch, einer ehrlichen, der individuellen Situation gerecht werdenden Ausseinandersetzung von betroffenen Paaren viel mehr im Wege steht.
Hallo zusammen,
dieses Thema ist ein so abartig grausames Thema, das liebende Eltern nicht durchmachten müssen dürften. Niemand wird verstehen können, was diese Nachricht mit diesen Eltern gemacht hat, wenn er/sie nicht selbst in dieser speziellen Extremsituation war. Das Dilemma der Pränataldiagnostik ist, dass ein auffälliges Ergebnis aufgedeckt wird, aber dann wird es nebelig. Was bedeutet das konkret, wie stark ist die Behinderung. Was ich oft denke: warum wird die Macht des Wissens bzw. das Recht auf Nichtwissen nicht viel früher thematisiert als dann, wenn das Kind längst heranwächst. Warum werden Fragen nicht früher behandelt, z.B. Wie fühlt sich jemand, der behindert ist? Vielleicht sogar besser als manch einer von uns? Welche Werten meines persönlichen Wertekompasses möchte ich folgen, wenn ich solch eine Entscheidung treffe? Kann ich Menschen mit Trisomie21 kennenlernen, sie unterstützen, das Bild dieser Besonderheit besser einschätzen lernen?…
Eine ganz tragische Situation ist das, wo am besten niemand drüber urteilen, sondern dankbar sein sollte, dass er/sie evtl. nicht in solch einer Extremsituation stehen musste wie diese Eltern.
Liebe Autorin, ich wünsche euch Kraft, euren Weg zu finden, der Trauer um euer geliebtes Kind Raum zu geben und diese Entscheidung, die viel zu groß war, in euer Leben zu integrieren.
Ich stand in meiner Schwangerschaft auch vor der Entscheidung ob ich spezieller Pränataldiagnostik möchte ( Nackenfalte sah auffällig aus und mit mit meinen damals 36 Jahren bekam ich “ automatisch“ über 70% Risiko berechnet). Meine Frauenärztin gab mir den Rat darüber nachzudenken ob ich abtreiben würde/ könnte. Ich konnte es mir nie vorstellen und würde meinen ( kerngesunden) Sohn heute sehr vermissen. Auch mit Trisomie ( die bei jedem Kind unterschiedlich “ ausfällt“) o.a. wäre ich fertig geworden ( wir beide zusammen).
Eine schwere, mutige und gut durchdachte Entscheidung. Aber letztlich die Entscheidung zweier erwachsener Menschen. Niemand sollte urteilen und bewerten. Die meisten von uns waren und sind nicht in so einer Situation, also nicht in der Lage sich hereinzuversetzen.
Viel Glück und Kraft wünsche ich der Familie und dass sich die Wunde immer mehr schließt
Vielleicht ist es mein subjektives Empfinden, aber ich lese auf dem Blog hier oft von Erfahrungen zum Thema Abtreibung. Gibt es vielleicht auch Menschen, die sich in ähnlichen Situationen für das Leben entschieden haben? Bitte berichtet auch mal von solchen Erfahrungen.
Liebe Caroline, oh, wie haben hier soooo viele Berichte über Familien, deren Kinder Trisomie haben oder mit einem seltenen Gendefekt zur Welt kamen. Die sich bewusst für das Kind entschieden haben. Schreib uns gerne eine Mail, wenn du die Artikel dazu nicht findest, dann helfen wir dir weiter.
Ich verstehe total, dass es auch solche „Berichte“ hier geben muss, weil es nunmal Menschen, gibt, die sich so entscheiden. Was ich habe schwierig finde, sind problematische Äußerungen so stehenlassen, dass sie anderen Eltern, die evtl. vor einer ähnlichen Diagnose stehen, Angst machen.
„Wir dachten in allererster Linie an unsere erste kleine Tochter. Uns war klar, dass sie wahrscheinlich für immer zurückstecken müsste.“
-> Naja, für sie ging es um Leben als Einzelkind oder Leben mit Geschwisterkind. Für das Geschwisterkind ging es um Leben oder tot.
„Sie würde immer an zweiter Stelle stehen: Pflege des behinderten Kindes, Krankenhausaufenthalte (wahrscheinlich immer) mit der Mama. Urlaubsreisen, Ausflüge, selbst Spielplatzbesuche wären wahrscheinlich eine logistische und emotionale Meisterleistung.“
Auch das strotz von Vorurteilen – ja, zwei Kinder parallel sind eine riesen Herausforderung, weil es eben zwei Lebewesen sind, die von einem abhängig sind. Aber ein Ausflug ist doch keine emotionale Meisterleistung wegen der Behinderung eines Kindes. Da wächst man ja rein!
„Als zweites dachten wir auch an uns – als Paar. Würde unsere junge Ehe so einen immensen Einschnitt überstehen? Würden wir allem gerecht, vor allem dem Kind?“
Diese Fragen sollte man sich VOR der Zeugung eines Kindes stellen, nicht danach.
„Würden wir es überhaupt schaffen, uns bis an sein Lebensende um das Kind zu kümmern?“
NIEMAND muss sich bis zum Lebensende um (s)ein Kind kümmern, auch bei behinderten Kindern ist mit 18 ein Auszug ins betreute Wohnen (oder auch davor) möglich. Viele Eltern kümmern sich sehr gerne um ihre Kinder…helfen bei der Enkelbetreuung, helfen beim Streichen der ersten eigenen Wohnen, geben einen Zuschuss zum ersten Haus, richten das Weihnachtsfest aus…das ist etwas positives, nichts negatives, vor dem man Angst haben muss.
Klar, wenn man keine Kinder will, dann ist das absolut nachvollziehbar. Aber die Entscheidung, einem Kind, was man geplant und geliebt hat, die Lebenswertigkeit abzusprechen, ist ableistisch und nicht vergleichbar mit einer Abtreibung in den ersten 12 Wochen. Ich finde es schwierig, so einen Artikel ohne Kommentierung oder zumindest zeitgleiche Veröffentlichung von Hilfsangeboten (zum Beispiel „von mutter zu mutter“) zu veröffentlichen. damit anderen Eltern nicht wirklich denken, dass ein Kind mit Down Snydrom das Leben schlechter macht und einem da irgendwer Leid tun muss.
Danke Lisa,
dem stimme ich voll zu!
Hallo Lisa,
Geschwisterkinder eines Kindes mit Behinderung werden definitiv zurückstecken müssen. und niemand, der nicht selbst ein Kind lange oder immer wieder stationär begleitet hat und am eigenen Leib erfahren hat, wie zerissen msn ist, zwischen dem kranken Kind und dem „die Mama vermissende Kind“ zuhause, sollte darüber urteilen. Unser mittlerer Sohn hat die ersten 3,5 Monate seines Lebens im Krankenhaus verbracht. Das ist im Vergleich zu Kindern, bei denen immer wieder stationäre Aufenthalte anstehen, wenig!
Wie bereits mehrfach geschrieben, ist es unvorstellbar grausam, vor die Entscheidung gestellt zu werden und Niemand sollte sich herausnehmen, die Entscheidung und die Beweggründe hierfür, zu bewerten oder zu verurteilen. Ich erlebe unsere Gesellschaft und unser Hilfesystem nicht als so, dass es Eltern behinderter Kinder leicht gemacht wird, im Gegenteil, sie kämpfen permanent mit unterschiedlichen Kostenträgern, werden in der Öffentlichkeit oftmals schief angeschaut, die Vereinbarkeit mit einem Beruf ist noch viel schwieriger als für Eltern gesunder Kinder.
Ich wünsche Silke und ihrer Familie ein gemeinsames Heilen und Menschen, die den Schmerz verstehen, OHNE verurteilen oder besser wissen zu müssen.
Judith
Als Mutterzweier Kinder, eines davon mehrfach schwer behindert, möchte ich erwähnen, dass unser Leben bestimmt ein Stück anstrengender ist als das einer sog. Durchschnittsfamilie. Wir sind jedoch beide berufstätig und auch in anderen Familien, die wir kennen, ist es nicht so, dass die Eltern sich nur aufopfern. Geplant ist bei uns und den anderen, dass die Kinder mit Volljährigkeit ausziehen. Wohin? Das ist ein strukturellen Problem.
Und wir freuen uns über die Entwicklungsschritte beider Kinder….
Danke Jane, sie sehen ein Kind, nicht eine/n Behinderte/n.
Danke für das teilen deiner Geschichte.
Ich war zum Glück noch nie selbst in der Situation habe ich mich aber aus den ähnlichen Gründen für Pränatale Diagnostik entschieden.
Als Ärztin ( Notärztin) sehe ich häufiger 70/80 jährige Eltern die sich nicht trauen zu sterben und ihre 50 jährigen Kinder dauerhaft betreuen, zu Untersuchungen bringen, alles planen und seit der Geburt des Kindes ihr eigenes Leben quasi aufgeopfert haben.
Die Aufopferung betrifft in meiner Wahrnehmung primär Frauen.
Ich weiß, dass die meisten Behinderungen erworben sind und das sowohl meine 2 Kinder, als auch ich oder mein Mann von einem auf den anderen Tag pflegebedürftig werden können.
Das ist mir alles klar, aber in vollem Bewusstsein hätte ich kein stark beeinträchtigtes Kind bekommen.
Ich bin egoistisch, freue mich über jeden Entwicklungsschritt meiner Kinder und über meine Stück für Stück wiederkehrende Freiheit.
Das Thema ist sehr emotional belastet, ich möchte niemanden angreifen.
Das war nur meine persönliche Sicht.