Ihr Lieben, wir haben neulich bei uns auf der Facebook-Seite gefragt, wer uns etwas über Tics bei Kindern berichten kann. Wir haben daraufhin ganz, ganz viele Nachrichten bekommen und werden hier stellvertretend zwei Geschichten erzählen – heute eine und die andere in ein paar Wochen. Wir danken Lorena für ihre Offenheit, uns von ihrem Sohn zu erzählen.
Liebe Lorena, dein 12-jähriger Sohn hat Tics. Wann traten sie wie erstmals auf und wie hast du damals reagiert?
Angefangen haben die Tics irgendwann im Kindergartenalter. Das genaue Alter kann ich ehrlich gesagt gar nicht mehr sagen, es muss so zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr gewesen sein. Auch welcher von den vielen verschiedenen Tics, die unser Sohn seitdem hatte, der erste war, weiß ich nicht mehr.
Am Anfang haben wir gedacht, dass er sich das irgendwo abgeschaut hat und erstmal gar nicht reagiert. Als uns bewusst wurde, dass er diese Angewohnheit dauernd macht und über einen längeren Zeitraum, habe ich mit dem Kinderarzt darüber gesprochen, denn wir fingen an, uns Sorgen zu machen.
Was habt ihr anfangs alles versucht, damit die Tics aufhören?
Vor dem Gespräch mit dem Kinderarzt haben wir unseren Sohn auf seine wiederholten Bewegungen angesprochen und ihm auch zwischendurch gesagt, dass er diese unterlassen soll (was natürlich nichts gebracht hat). Der Kinderarzt hat uns dann die Sorgen genommen und uns darüber aufgeklärt, dass diese Tics bei Kindern häufig vorkommen und wir uns, solange sie innerhalb eines Jahres wieder verschwinden und ihn nicht einschränken, keine Sorge machen sollten. Wir sollen es, wenn möglich einfach ignorieren und abwarten.
Daran haben wir uns auch weitestgehend gehalten, was aber bei manchen Tics, die uns selbst genervt haben, nicht wirklich einfach war. Eine Zeitlang hat unser Sohn zum Beispiel immer wieder beim Spielen mit dem Bein auf den Boden geklopft oder lautstark an seinen Fingerspitzen gerochen. Das zu ignorieren, war manchmal echt schwierig.
Merkt er denn selbst, dass er tict?
Ja, das merkt er selbst. Er konnte schon recht schnell sagen, dass dies eine blöde Angewohnheit ist und er nicht weiß, warum er das machen muss, es aber auch nicht lassen kann. Umso älter er wurde, umso mehr stört es ihn selbst und er versucht auch immer wieder die Tics zu überspielen oder bittet uns, eine Sache für ihn zu machen, damit sein Tic nicht auftritt.
Zum Beispiel hatte er eine Zeitlang die Angewohnheit, dass wenn er eine Sache, z.B. eine Spielfigur mit zwei Fingern anfasst, er diese mit allen anderen Fingern auch anfassen muss. Das war beim gemeinsamen Spiel teilweise störend. Auf seinen Wunsch hin haben wir die Figur dann für ihn weitergestellt.
Wie haben sich die Tics entwickelt?
Wie schon gesagt, kann ich nicht genau sagen, welcher Tic der erste war. Von dauerndem Augenrollen, jede Treppenstufe mit beiden Füßen berühren, nur auf bestimmte Pflastersteine oder nicht auf die Rillen treten dürfen, Sachen mehrmals nacheinander berühren bis hin dazu, dass er einen Gegenstand immer beidseitig umrunden musste, hatten wir die ganze Bandbreite von motorischen Tics. Im Kindergarten war es meistens nur einer, der gerade aktuell war.
Mit der Grundschulzeit, die für unseren Sohn nicht leicht war und in dem der emotionale Stress für unseren Sohn extrem zunahm, nahm auch die Anzahl und die Häufigkeit seiner Tics deutlich zu. Einen Höhepunkt erreichten die Tics in einer Sprachblockade zu Beginn der 3. Klasse. Der eigentliche Tic war, dass wenn er etwas sagt, dass er dann immer auch das Gegenteil benennen muss.
Angefangen bei Ja, wo er dann auch Nein sagen musste, ging es über alle Wörter, wo es ein Gegenteil zu gibt, weiter über Zahlen (wenn er eine Zahl sagen wollte, musste er auch die anderen Zahlen von 1 bis 10 aufzählen) bis hin dazu, dass er keine verständlichen Sätze mehr aussprechen konnte. Dies war für ihn, uns und auch die Schule eine wirklich schwierige Situation, die den normalen Alltag extrem beeinträchtigt hat.
Du sagst, die Tics würden stark mit emotionalem Stress auftreten. In welchen Situationen kommen sie dann vermehrt?
Als seine Sprachblockade auftrat, haben wir uns Hilfe bei einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gesucht, da wir und auch die Schule mit der Situation wirklich überfordert waren. Dieser bestätigte uns unseren Verdacht, dass diese Tics Ausdruck von extrem hohem emotionalem Stress sind. Um dies zu verstehen, ist wichtig zu wissen, dass unser Sohn hochbegabt und hochsensibel ist und sich weder im Kindergarten, noch in der Grundschule wirklich wohlgefühlt hat und er unter einer andauernden Anspannung stand, die sich in der Grundschule extrem gesteigert hat.
Anspannung, sich anpassen zu müssen, die Langeweile auszuhalten, die lauten Geräusche und Emotionen aushalten und verarbeiten zu können und noch vieles mehr. Da war es nicht verwunderlich, dass dieser Stress sich ein Ventil gesucht hat. Durch Hilfe des Therapeuten und vor allem einer Integrationskraft in der Schule konnte der emotionale Stress schnell reduziert werden, so dass eine erste Besserung schon innerhalb von zwei Wochen auftrat. Und, auch wenn ich weiß, dass viele Eltern die Corona-Situation mit Homeschooling als sehr belastend empfunden haben, kam für unseren Sohn diese Phase genau zur richtigen Zeit um sich von der Schule zu erholen und wieder emotional zur Ruhe zu kommen.
Wie geht dein Sohn mit den Tics um?
Mittlerweile ist unser Sohn zwölf Jahre und geht auf eine Schule, wo er sich deutlich wohler fühlt und sein emotionaler Stress deutlich weniger geworden ist. Zwar gibt es noch einzelne leichte Tics, die aber nicht sehr auffallen und beeinträchtigen. Er versucht diese mittlerweile zu überspielen oder zu vermeiden. Manchmal schafft er es auch, sich einfach über sie hinwegzusetzen. Es stört ihn zwar selbst immer wieder, aber er kann gut damit umgehen und weiß, dass sie auch meistens wieder verschwinden.
Und wie geht ihr als Eltern damit um?
Wir versuchen ihm viel Stabilität und Ruhe zu Hause zu bieten und ignorieren die Tics weitestgehend. Mittlerweile können wir auch manchmal gemeinsam drüber lachen. Natürlich haben wir insgeheim immer noch ein Auge darauf, wenn sich diese verschlechtern sollten, aber zurzeit belasten uns die Tics nicht mehr.
Gibt es etwas, was du dir von Außenstehenden wünschen würdest, was die Tics angeht?
Wir haben zum Glück nicht die Erfahrung gemacht, dass wir von Außenstehenden (außer den Lehrkräften in der Schule) auf die Tics angesprochen werden. Natürlich sind den Großeltern, da unser Sohn diese wöchentlich besucht, die Angewohnheiten auch aufgefallen, aber da wir ein gutes Verhältnis zueinander haben, war der Umgang damit einvernehmlich.
In der Grundschule wurde damit leider sehr schlecht umgegangen, was den emotionalen Stress natürlich noch einmal deutlich verstärkt hat. Ich weiß, dass unsere Erfahrung nur ein Einzelfall ist und der unqualifizierte Umgang an den direkt beteiligten Personen dieser bestimmten Schule gelegen hat.
Aber ich würde mir grundsätzlich wünschen (auch in anderen Bereichen), dass Lehrkräfte und Sozialpädagogen in den Grundschulen deutlich mehr Empathie und Offenheit besitzen und sich fachliche Informationen dazu holen, wenn sie mit Kindern mit sehr auffälligen Tics oder anderen Verhaltensauffälligkeiten konfrontiert werden. In diesen Bereichen sind sie in ihrem Studium nicht geschult worden, aber Offenheit, um sich Weiterzubilden und die Ehrlichkeit, sich einzugestehen, dass man nicht alles wissen kann, wäre in diesen Fällen sehr hilfreich.
3 comments
Hallo,
ich schließe mich Caroline an, ich kenne das Spektrum von Zwangsstörungen über eine Person im näheren Umfeld sehr gut, die Symptome, die hier beschrieben werden, auch, dass euer Sohn „nicht weissy warum er das machen soll“ und z.B. Steine dann mit allen Fingern abtasten „muss“ passt zum Bild. Was sicher keine Lösung ist, ihm diese Alltagssituationen abzunehmen, für ihn die Spielfiguren unzustellen. Damit kommt er in eine Vermeidung versus Konfrontation. Es gibt Spezialisten, auch anerkannte Kliniken, die so etwas behandeln. In meinem Fall lief die betreffende Person jahrelang ohne Diagnose rum, bevor mam endlich mal richtig helfen konnte. Alles Gute!
Ich wünsche euch viel Kraft und starke Nerven – für alle Beteiligten, insbesondere auch für euren Sohn ist dies keine einfache Situation, insbesondere, seitdem er es merkt, dass er „anders“ ist bzw. reagiert als andere Kinder.
Da er auch hochbegabt und hochsensibel ist (diese Kombination ist gar nicht so selten): habt ihr auch ihn mal in Richtung „Asperger“ untersuchen lassen? Falls dies zutrifft, könnte die Diagnose eine kleine „Erleichterung“ für alle bedeuten, da es heutzutage viel mehr an Wissen gibt, wie man damit im Alltag umgehen kann. Und zu wissen, man ist damit nicht alleine auf der Welt. Ich drücke euch die Daumen.
Ich bin zwar kein Fachmann, aber die beschriebenen Verhaltensweisen kommen mir eher wie eine Zwangsstörung vor. Gut dass ihr euch professionelle Hilfe geholt habt.