Ihr Lieben, Simones Tochter hat einen seltenen Gendefekt, braucht rund um die Uhr Pflege. Ihre Mama Simone gibt auf Instagram Einblicke in ihren Alltag. Bei uns erzählt sie sehr ehrlich und berührend, wie sie ihre Mutterschaft erlebt und wie sehr es schmerzt, wenn Marie von Fremden wie eine Aussätzige behandelt wird. Wir danken dir für ein Vertrauen und die Offenheit und wünschen euch alles, alles Liebe.
Liebe Simone, deine Tochter Marie kam 2020 mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Kannst du mal ein bisschen was über die Schwangerschaft und die Geburt erzählen?
Genau, Marie ist im April 2020 per geplantem Kaiserschnitt, in der 37. SSW. in München zur Welt gekommen, das war mitten im ersten Lockdown (das nur nebenbei erwähnt, denn das hat uns das Leben und die ersten Jahre natürlich zusätzlich sehr schwer gemacht, wie man sich vorstellen kann).
Geplant war der Kaiserschnitt deshalb, da im siebten Schwangerschaftsmonat Auffälligkeiten im Ultraschall festgestellt wurden. Bis dahin hatte ich eine unbeschwerte schöne Schwangerschaft (im Nachhinein bin ich sehr dankbar, dass wir erst so spät erfahren haben, dass etwas nicht stimmt, so konnte ich die Zeit bis dahin genießen und mich einfach auf mein Kind freuen). Ab dem Zeitpunkt der Feststellung von Auffälligkeiten waren wir in der Maschinerie der Pränataldiagnostik gefangen, all das wollten wir nie, doch dann wurde viel mit unserer Angst „gespielt“.
Sämtliche Tests wurden noch während der Schwangerschaft gemacht, zum Teil auch auf eigene Kosten, nur um der Ärzte Willen, dass diese bestmöglich vorbereitet sind. Natürlich haben wir aus Sorge um unsere Tochter alles mitgemacht. Rausgekommen ist dabei nicht wirklich viel. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Termin bei einem Professor für Pränataldiagnostik, er hatte ein paar Minuten Ultraschall gemacht und dann ein Buch hervorgezogen, in dem er uns Bilder von Kindern gezeigt, die zeigen sollten, wie unsere Tochter aussehen könnte. Er ging von einem Riesenwuchs-Syndrom aus, deshalb auch der frühzeitig geplante Kaiserschnitt. Sie wäre angeblich zu groß für eine normale und zeitgerechte Geburt.
War Marie denn sehr groß?
Nein – diese Diagnose hat sich nicht bestätigt. Marie war zur Geburt sogar relativ klein und zart mit 49cm und 2900g. Wir hatten dann nur Klamotten in Größe 62 zuhause, da sie ja so groß sein sollte. Dieser genannte Professor hatte auch sofort eine Geburt per „Exitverfahren“ empfohlen, weshalb Marie auch in München zur Welt kam anstatt in unserem Heimatort in Regensburg.
Was ist ein Exitverfahren?
Exitverfahren bedeutet, dass sofort bei der Geburt, noch während der Körper des Kindes in der Mutter ist, ein Luftröhrenschnitt gemacht wird, also ein Tracheostoma, um die Sauerstoffzufuhr zu gewährleisten. Zum Glück hattte sich der Geburtshelfer dagegen entschieden. Marie konnte per normalem Kaiserschnitt zur Welt kommen und hat im ersten Lebensjahr auch kein Tracheostoma benötigt, sie hat nach der Geburt sofort selbst geweint und selbstständig geatmet. So viel zum Thema Pränataldiagnostik…
Wie genau heißt denn der Gendefekt bzw. gibt es überhaupt eine Diagnose?
Bis heute gibt es keine klare Diagnose für Marie. Fest steht, sie hat eine spontane seltene Genmutation auf dem FLNA Gen. Das ist eine sogenannte „Arbeitsdiagnose“, damit da eben was steht, wurde das OPD Syndrom benannt, welches aber auch nicht zu 100% passend ist. Was wir uns immer wieder anhören ist die Aussage „Man kann nicht in die Glaskugel schauen“, im Prinzip wissen wir also nicht so wirklich, was dieser Gendefekt alles mit sich bringt. Wir haben aber gelernt, Marie so zu sehen, wie sie jetzt ist und daraus unsere Schlüsse zu ziehen.
Wie äußert sich Maries Erkrankung?
Maries Erkrankung äußert sich in verschiedenen Symptomen, welche ausschließlich körperlich sind, geistig ist sie vollkommen fit. Was ihr und uns das Leben am meisten „schwer“ macht, ist vor allem ihre Erkrankung der Atemwege, Marie hat dort eine ausgeprägte Tracheo-Bronchiomalazie.
Das heißt ganz kurz und einfach beschrieben, dass die Luftröhre und die Bronchien instabil sind, also keine stabile Außenwand haben, sprich immer wieder kollabieren, was das Atmen natürlich sehr schwer macht. Das ist auch ein Grund, warum Marie seit ihrem ersten Geburtstag ein Tracheostoma und eine Beatmung hat. Zuvor kam es immer wieder zu schweren Notsituationen mit Reanimationen (davon eine über eine Viertelstunde von mir selbst, allein).
Außerdem hat Marie aber auch noch eine Magensonde, sie wird also über die Sonde ernährt und isst selbst nicht. Wobei sie, seit sie in den Kindergarten geht, größeres Interesse am Essen zeigt, immer mal wieder etwas probiert und auch schluckt. Auch wenn es sehr heiß ist, zeigt sie uns in Gebärdensprache an, dass sie etwas trinken möchte. Es besteht also Hoffnung, dass sie vielleicht doch irgendwann noch selbst essen wird. Ehrlicherweise war die letzten Jahre eher einfach nur Überleben angesagt, als sich mit all den anderen „Baustellen“ zu beschäftigen.
Stichwort Gebärdensprache – kommuniziert ihr ausschließlich so?
Marie äußert sich mehr oder weniger nonverbal. Sie kann sich in Gebärdensprache, teils auch mit eigens erfundenen Gebärden, sehr gut mitteilen. Ein paar Laute, Worte versucht sie mittlerweile auch zu sagen, wir verstehen z.B. „Ball“, „Papa“, „Mama“, „Oma“, sehr laut und deutlich geht „Nein“ :). Ich würde sagen, sie kann sich sehr gut verständigen, vielleicht muss man sie ein bisschen besser kennenlernen, um wirklich alles zu verstehen.
Die Non-Verbalität rührt vor allem daher, dass Marie viel einfach nur mit Atmen beschäftigt ist, Töne von sich geben zu können kostet Kraft, Kraft die sie fürs Atmen braucht. Außerdem hat Marie eine Gehörgangsschwerhörigkeit, die erst sehr spät festgestellt wurde. Wer nicht gut hören kann, kann auch die Sprache nicht lernen. Sie liebt aber zum Glück ihre Hörgeräte und macht, seitdem sie diese hat, auch Fortschritte in der Lautsprache.
Wie ist es mit Maries Motorik?
Auch motorisch ist Marie eingeschränkt, bisher kann sie nicht Laufen (ihre Extremitäten, Beine, Hände, Füße sind deformiert). Sie kann aber mittlerweile gut frei sitzen, auf dem Popo rutschen, zieht sich teilweise in den Kniestand oder mit Orthesen an den Beinen auch in den Stand und macht ein paar Krabbelversuche. Ansonsten hat sie einen Rollstuhl, mit dem sie sich sicher und zielgerichtet selbstständig fortbewegen kann.
Um es vielleicht aus unserem Alltag nochmal anschaulich zusammenzufassen: Ein Alltag mit Marie unterscheidet sich eben vor allem darin zu einem Alltag mit einem gesunden vierjährigen Mädchen, dass wir sie viel tragen müssen oder den Rollstuhl haben oder sie am Popo rutscht.
Seit einem kompletten Lungenversagen im März, wo sie an der ECMO war und fast gestorben wäre, braucht sie außerdem quasi 24/7 die Beatmung, sie hängt immer an diesem Gerät, das dann natürlich mit ihr von A nach B bewegt werden muss. Das ist alleine kaum möglich.
Und wie sieht es mit dem Essen aus?
Normale Familienessenzeiten haben wir auch nicht, da wir Marie sondieren und das bisher immer so nebenbei passiert, wobei wir daran gerne arbeiten würden, wenn es unsere Kapazitäten wieder zu lassen. Marie spricht nicht, aber sie teilt sich mit, und ist – was ihre Vehemenz, ihren Willen auf Selbstbestimmung und das Trotzverhalten angeht –, genau wie alle anderen Vierjährigen, nur eben non-verbal, was es leider nicht immer einfacher macht und oft zu Missverständnissen führt, die dann zusätzlich frustrieren.
Auch ihre körperlichen Einschränkungen führen verständlicherweise schnell mal zu Frust. Ich merke, während ich hier so schreibe, dass es ganz schön schwierig ist, Maries Erkrankung, ihre Einschränkungen und ihre Fähigkeiten kurz und knapp zu beschreiben. Unser Alltag ist sehr komplex und viele Handgriffe, die bei anderen Familien gar nicht vorkommen, sind für uns mittlerweile Alltag.
Die Körperpflege, Anziehen, Ausziehen, Wickeln (Marie geht nicht selbst zur Toilette), Essensgabe, Mobilität, Kommunizieren, alles rund um die Beatmung, Absaugen, Inhalieren und und und – es ist doch ganz schön viel, was Marie an Hilfe benötigt. Wir sind zuversichtlich, dass Marie es aber schafft, deutlich selbstständiger zu werden (wenn uns nicht wieder irgendein seltener Virus einen Strich durch die Rechnung macht).
Beschreib uns doch mal, was für ein Kind Marie ist…
Eine schöne Frage und sicher komme ich gleich ins Schwärmen, weil Marie einfach so unfassbar toll ist. Eigentlich ging es bisher fast jeder Person so, die Marie kennengelernt hat, dass sie in kürzester Zeit voller Begeisterung für sie war.
Marie hat ein unglaublich lebensfrohes, freundliches, liebenswertes Wesen und gleichzeitig etwas sehr Freches, Schelmiges an sich. Wenn sie „grantig“ ist (kennt man das Wort außerhalb von Bayern!?) also zornig, sich über etwas ärgert, kann sie schon äußerst charakterstark sein, ein kleiner Sturkopf eben.
Ich sag immer, man darf auch nicht außer Acht lassen, dass Marie seit ihrem ersten Geburtstag durch die zusätzliche Betreuung durch Pflegepersonal (wir haben ambulante Pflege zuhause) ja quasi immer eine Eins zu Eins-Betreuung hat. Nicht unbedingt nur förderlich, denn Marie ist schlau und weiß, wie sie sich „ihr Personal“ zunutze machen kann und wenn ich als Mama dann aber auf Erziehung und Grenzen bestehe, kann das schonmal zu Diskussionen zwischen Marie und mir führen 🙂
Außerdem ist Marie seit Geburt sehr wachsam und interessiert an ihrer Umwelt, schon als Säugling lag sie mit hellwachen Augen im Kinderwagen, wenn wir durch den Wald spaziert sind, an Einschlafen im Kinderwagen oder Auto war nie zu denken, dafür ist sie viel zu neugierig. Und bis heute merken wir, was für eine wahnsinnige Auffassungsgabe sie hat. Marie liebt Tiptoi-Bücher und macht auch mit Begeisterung die Rätsel in den Büchern, wir zeigen ihr die neuen Sachen einmal und beim nächsten Mal kann sie es schon alleine.
Unser Eindruck ist, dass Marie ihre körperliche Einschränkung häufig mit kognitiven Leistungen kompensiert und in diesem Bereich ihr Interesse und ihre Auffassungsgabe umso höher ist. Sie vergisst nichts, merkt sich alles und erinnert sich auch nach Tagen an ein Versprechen oder eine Situation. Marie ist sehr resilient. Ich glaube, das sind die meisten kranken Kinder, was bleibt ihnen anderes übrig…
Marie ist uns darin ein großer Antrieb und ein unglaubliches Vorbild. Selbst an Tagen, wenn wir sie zuhause reanimieren mussten, ist sie ein paar Stunden später wieder fröhlich, spielt und macht Seifenblasen mit unseren Freunden im Garten.
Geht sie denn in den Kindergarten?
Seit Herbst 23 geht Marie in eine inklusive Gruppe im Kindergarten und ist auch dort sehr beliebt, regelmäßig wird sich gestritten, wer im Morgenkreis neben ihr sitzen darf. Sie hat Freundinnen, die sie lieben und als wir dieses Jahr wochenlang im Krankenhaus waren, haben sie viel an sie gedacht und ihr Grüße geschickt.
Gibt es irgendwelche Prognosen, wie sich Marie entwickeln wird?
Wie ja schon mal kurz erwähnt, zwei Dinge dazu: Zum einen die Aussagen die Ärzte, die sicher zutreffen (aber bei wem nicht) „Man kann nicht in die Glaskugel schauen“, auf der anderen Seite zeigt uns Marie immer wieder, wie wahnsinnig viel Lebenswillen sie hat.
Letztes Jahr hatten wir das beste Jahr seit Maries Geburt, sie war so stabil, war tagsüber ausschließlich an der feuchten Nase (sprich ohne Beatmung) wodurch wir natürlich viel mehr Freiheiten hatten. Wir konnten Ausflüge, ja sogar Urlaub machen, alles sprach dafür, dass es jetzt aufwärts geht. Und auch Maries motorische Entwicklung ging in großen Schritten voran.
Dann hat sie im März dieses Jahr einen selten Virus aufgeschnappt, es kam zu einer Superinfektion und in kürzester Zeit zu komplettem Lungenversagen, sie musste an die ECMO (Herzlungenmaschine) – ohne diese Maschine wäre sie heute nicht mehr da. Das hat sie natürlich wieder enorm zurückgeworfen, nun ist sie seit März das erste Mal dauerhaft an der Beatmung. Sie hat Kraft abgebaut und wir waren wieder voller Sorge, sie zu verlieren. Marie ist nicht klassisch palliativ, sie kann es aber schnell werden, das hat uns die Vergangenheit gezeigt.
Du bist eine pflegende Mama. Was sind für dich die größten Herausforderungen?
Puh, super schwierig zu beantworten. Ich würde sagen: Eigentlich alles. Jeder Tag ist eine Herausforderung, sowohl ganz praktisch, organisatorisch, aber auch emotional. Ein Punkt, der mir immer wieder sehr zu schaffen macht, ist vor allem diese Fremdbestimmung. Wir leben seit 2021 mit Pflegedienst, wir brauchen ihn und ich bin dankbar um alle, die bei uns sind. Ich versteh mich durchweg mit allen gut, was ein Geschenk ist und doch wäre es schön, wir bräuchten sie nicht.
Erst heute Morgen bei der Übergabe vom Nachtdienst meinte ich, wie schön es wäre, wenn ich nach dem Aufwachen einfach kurz allein sein könnte. Was aber gar nicht geht, denn das Erste, was ich nach dem Aufstehen mache, ist, mir die Übergabe vom Nachtdienst abzuholen.
Ich bin so gut wie nie allein mit meinem Kind, entweder ist eine Pflegekraft da oder mein Mann. Das hat auch viel mit Ängsten zu tun, ich hab mein Kind mehrmals allein reanimiert, es gibt Tage, da komm ich besser damit zurecht und kann die Zeit, die ich mit ihr alleine habe, genießen und es gibt Tage, da sitzt die Angst mir ständig im Nacken und ich bin dauerangespannt.
Dann gibt es da unglaublich viel Bürokratie rund um die Versorgung von Marie, Rezepte für Medikamente, Hilfsmittel, Materialien zur Versorung von Beatmung, Tracheostoma, Magensonde, Therapien und Arzttermine koordinierten und und und. Mein Mental Load ist unfassbar groß.
Hast du deinen Job für die Pflege aufgegeben?
Mein Mann geht Vollzeit arbeiten, einer muss ja Geld verdienen. Ich hab immer wieder versucht, ins Berufsleben zurückzukehren, erst in meinen alten Job als Sporttherapeutin, dann in einem ganz anderen Bereich, für einen Verein für Eltern von chronisch kranken, behinderten, beeinträchtigen Kindern (MeinHerzlacht).
Beides ist gescheitert und zwar deshalb, weil Marie mich braucht. Weil ich abhängig bin von Pflegekräften, die Mangelware sind, es gibt Dienstausfälle oder allgemein zu wenig Personal. Dann ist Marie wieder so krank, dass wir ins Krankenhaus müssen und schon ist meine hart aufgebaute neue Routine dahin. Das schmerzt, denn ich bin eine Frau, die gerne arbeitet, gerne ihre Selbständigkeit hat, eigenes Geld verdienen möchte, mal andere Wertschätzung bekommen, etwas Sinnhaftes tun will außerhalb des pflegenden Mutterdaseins.
Als ich mich entschlossen habe, Mama zu werden, war mir klar, dass sich vieles ändern wird, doch Mama von einem Kind mit Behinderung zu sein, habe ich mir nicht ausgesucht und ich glaube, wer nicht selbst betroffen ist, kann sich nicht ausmalen, wie drastisch die Veränderungen sind.
Deine Mutterschaft unterscheidet sich sehr von der einer Mama eines gesunden Kindes…
Ja, ich durfte vieles, was ich mit dem Muttersein verbunden habe, nie erleben. Ich konnte Marie nicht natürlich zur Welt bringen, konnte sie nicht stillen, nicht füttern, konnte jahrelang (und gerade auch wieder) nicht alleine mit ihr Auto fahren, keine Ausflüge machen, die Liste geht unendlich weiter… Da ist viel Traurigkeit über all den Verlust, das nicht Erlebte und auch das, was ich nie erleben werde. Da sind also viele Herausforderungen im Innen und im Außen, jeden Tag. Ich könnte vermutlich ein Buch darüber schreiben.
Wo und wie bekommt ihr als Eltern einzeln und auch als Paar Auszeiten?
Seit einiger Zeit haben wird etabliert, dass wir uns unseren Pflegedienst zweimal die Woche schon ab 20 Uhr wünschen und einmal im Monat auch samstags. Das klappt nicht immer zuverlässig und ist vor allem auch immer stark davon abhängig, wie es Marie gerade geht, ob wir dann wirklich das Haus verlassen können. Sie ist eben doch erst vier.
Aber so wäre der Plan, dass wir zu diesen Zeiten etwas zusammen für uns als Paar machen können. Letztes Jahr, als es Marie so gut ging, haben wir mal einen Samstag im DaySpa verbracht, das war so herrlich. Manchmal ist auch nur ein Spaziergang durch den Ort drin oder eine Runde in die Stadt und eine Falafel auf die Hand.
Wir brauchen diese Auszeiten, sondern schaffen wir den Alltag nicht. Als Eltern sind wir ein super Team, als Paar oft nicht mehr so präsent. Ich freue mich im Moment zum Beispiel sehr auf unseren Urlaub im September, bis dahin geht es Marie hoffentlich wieder so gut, dass das alles wie geplant möglich ist. Da fahren wir mit zwei Pflegekräften im Gepäck (eine für den Tag, eine für die Nacht) an den Chiemsee. Dann wollen wir auch mal zu zweit eine Tageswanderung machen, während Marie bei der Pflegekraft ist.
Ein Wermutstropfen ist dann immer mit dabei, eigentlich wollen wir unser Kind am liebsten in der Kraxe mit hoch auf die Berge nehmen, wir lieben die Berge. Sie abgeben zu müssen und schöne Dinge ohne sie zu erleben, tut weh, aber wir wissen, wie wichtig es ist, dass wir es dann trotzdem zu zweit machen.
Durch den Gendefekt sieht Marie auch anders – gab es schon Reaktionen von außen, die euch wehgetan haben?
Mir fallen gleich ein paar Situationen ein. Einmal waren wir mit Marie im Tierpark, eine Oma war mit ihren beiden Enkelkindern unterwegs, die sind bei Marie stehengeblieben. Die Oma hat ihre Enkel weggezogen und meinte, sie sollten „da nicht hinschauen“. Oder auch andere Kinder, die mit dem Finger auf Marie zeigen und sagen, was das für ein komisches Kind sie sei…
Die Worte der Kinder versuche ich meist nicht so persönlich zu nehmen, denn Marie sieht ja wirklich anders aus. Was mich trifft, sind die Wortwahl und der Umgang der Eltern damit. Auch die Wortwahl „komisch“ statt „anders“ kommt ja meist vom Elternhaus. Und in der Regel war es auch so, dass Eltern von diesen Kindern dann nicht offen auf uns zu gegangen sind, erklärt haben, Fragen gestellt, sondern sich abgewandt haben.
Das tut weh, wenn Marie behandelt wird, als wäre sie eine Aussätzige, als dürfte man sie nicht anschauen. Sie fällt auf, wir fallen auf, schon allein wegen des ganzen Equipments, das wir anschleppen. Und dennoch ist Marie einfach ein Kind, ein kleines freches Mädchen, das andere Gesichtszüge hat als die meisten Menschen und ein Tracheostoma.
Welchen Umgang mit euch würdest du dir von der Gesellschaft wünschen?
Ich würde mir einen offenen Umgang wünschen. Dass Unsicherheiten, Ängste abgebaut werden und man einfach miteinander spricht. Passend zur Frage vorher würde ich mir wünschen, dass Eltern von Kindern, die irritiert sind von Maries äußerem Erscheinungsbild, einfach auf uns zukommen. Dann können wir Marie vorstellen, beantworten gerne alle Fragen und meist ist es für die Kinder dann auch schon wieder gut.
Daran könnten wir Erwachsenen uns allgemein ein Beispiel nehmen. Ich sage dann: „Marie hat ein Tracheostoma, weil sie das zum Atmen braucht.“ Das Kind findet das logisch und sagt: „Ah ok, alles klar, gut, dass sie das hat!“
Wir erleben viele Unsicherheiten, die aber meist nicht proaktiv angegangen werden, sondern eher mit Rückzug. Das ist der falsche Weg, denke ich. Wir müssen in Kontakt kommen, Barrieren im Kopf und im realen täglichen Leben abbauen, damit ein Miteinander möglich ist, egal wie der Mensch aufgestellt ist, mit Behinderung, chronischer Erkrankung, anderer Hautfarbe, Übergewicht oder was auch immer.
Meidet ihr aufgrund der negativen Erfahrungen dann Ausflüge?
Nein, wir gehen ganz viel raus mit Marie, auch wenn es mit Hürden verbunden ist, mit Blicken, mit Anstrengungen – wir gehen raus, um uns zu zeigen, um sichtbar zu werden und in Verbindung zu kommen. Damit Marie und wir ein Teil dieser Welt sind und nicht nur in unsere Blase leben. Leider braucht es dazu immer noch viel Mut und auch organisatorisches Talent.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir eine offene, eine inklusive Gesellschaft. Ich wünsche mir für Marie, dass sie trotz ihrer Behinderung einen Platz in dieser Gesellschaft hat, sie ist so schlau und toll, doch ihre Beeinträchtigung wird uns schon bei der Frage nach der Einschulung Probleme machen, das sollte so nicht sein.
Ich wünsche mir, dass Marie ein erfülltes Leben haben darf, dass sie sich weiterentwickeln darf und glücklich ist. Dass sie Freundschaften haben wird, dass sie lieben können wird, sich verlieben, dass sie lernen kann, was sie lernen will, dass sie selbstständig sein darf. Dass sie alleine leben können wird oder in einer WG, wenn sie das möchte.
Ich wünsche mir für mich, dass da Raum entstehen wird, wo ich wieder mehr Simone sein kann, sicher eine neue andere Simone als früher, aber da gibt es Teile in mir, nach denen ich Sehnsucht habe, die ich wieder mehr ausleben können möchte.
Ich wünsche mir für meine Partnerschaft, dass wir wieder leichte Momente erleben können, mal wieder eine kleine Reise mit Übernachtung möglich ist, das ist so ein Nah-Ziel-Wunsch, an dem wir schon seit einem Jahr arbeiten. Ich wünsche mir Zeit für Heilung für uns alle Drei und Zeit zum Leben, zu Dritt.
Wer noch mehr über die Familie erfahren will, kann hier zwei Podcasts mit ihnen hören:
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Ich möchte gerne etwas aus evolutions- und verhaltensbiologischer äußern. Wir sind evolutiv mit einer stark ausgeprägten Mustererkennung ausgestattet. Alles und jeder in unserer Umwelt wird danach gescannt und springt der „Scanner“ an, weil er etwas fremdaussehendes entdeckt hat, betrifft diese „Alarmierung“ erstmal eher das instinkthafte „Reptilienhirn“, das versucht die Situation einzuschätzen und eventuelle Gefahren einzuordnen. Von Eurer Tochter geht natürlich keine Gefahr aus und ich kann total verstehen, wie unangenehm das Anstarren ist, dass Euch reflexhaft oft begegnet. Und das geht den begleitenden Eltern sicherlich auch so, bei denen dann hoffentlich die Empathie (und auch Ratio) mit anspringt und Euch so schnell wie möglich von diesem gefühlt unangebrachten Starren befreien möchten. Aber im Grunde ist es, gerade für Kinder, wichtig, sich einen anders aussehenden Menschen genau anzuschauen. Das „Fremde“ in die Mustererkennung mit aufzunehmen, die Lernerfahrung zu machen: schau, ein Mensch kann auch so aussehen, macht keinen Unterschied. Das ist vermutlich die beste Art, Berührungsängsten vorzubeugen (von denen ich auch nicht frei bin). Umso schöner, wie offen ihr auch für Kontaktaufnahme seid, was man als Aussenstehender halt aber nicht unbedingt wissen kann und auch nicht jede Zufallsbegegnung möchte das.
Hoffe, das klingt jetzt nicht zu sachlich oder wenig verständnissvoll. Wünsche euch alles Gute!
Ich mag das Bild von Marie mit der Katze. Das macht sofort gute Laune!
Alles Gute für die Familie und besonders die Löwenmama! Dass sie mehr Zeit bekommen wird, ihre Kraftquellen aufzutanken. Ich glaube, was sich die Autorin wünscht ist einfach ein offener Umgang mit Maries Anderssein. Kinder nehmen sie vielleicht ganz anders war und durch das „Schau nicht hin.“ machen wir es vielleicht unbewusst komisch. Eine Freundin von mir berichtete mir z.B. neulich dass ihr 9-jährige Tochter sich im Schwimmbad gewundert hat, warum ein Mädchen keine Haare mehr hatte. Sie hat sich selbst nicht getraut zu fragen und somit hat die Mama beim Gehen nachgefragt. Ganz höflich natürlich und die Mama des anderen Mädchen hat gerne kurz die Hintergründe der Krebserkrankung erzählt und sich für das Interesse bedankt.
Hallo zusammen,
Erstmal meinen größten Respekt für euch als Eltern, ihr macht es toll.
Ich muss ehrlich sagen, dass auch ich meine Kinder bitten würde nicht zu starren, das machen Kinder ja extrem direkt.
Und ich würde auf keinen Fall Eltern irgendwelche Fragen stellen, ich möchte ja auch keine Fragen Fremder zu meinem Leben beantworten.
Ich würde versuchen mich völlig normal zu verhalten, um keinem das Gefühl zu geben, dass er anders ist.
Wirklich in bester Absicht.
Ganz liebe Grüße
Eben. „Normal verhalten“. Man schaut ja auch andere Kinder nicht eingehend an, wenn es keinen triftigen Grund dafür gibt. (Zum Beispiel, wenn sie einem evtl. gleich vor die Füße rennen oder sich sonstwie in Gefahr begeben.) Und man muss sich auch vergegenwärtigen, dass es sich in den allermeisten Fällen um einmalige Zufallsbegegnungen handelt, die man 250 Meter weiter schon wieder vergessen hat.
…was für ein Glück für Marie Euch als Eltern zu haben…
ich wünsche Euch allen, dass Marie immer selbständiger wird und ein Stückchen (sogenannte) Normalität in Euer Leben zurück kommt und damit auch Leichtigkeit. Das habt ihr so verdient!
…toller Beitrag, tolle Familie!
Ich hoffe, dass Ihr immer wieder auch auf Menschen trefft, die offen auf Euer Kind und Euch zugehen… Viel Kraft und viele schöne Momente mit Eurem Sonnenschein☀️! Schade, dass es aufgrund des Pflegenotstandes immer kräftezehrender wird, ein Kind mit besonderen Bedürfnissen zu begleiten..
Danke, dass Ihr Eure Geschichte erzählt!
Ich (55) bin nun etwas verblüfft, denn ich finde es eigentlich OK, wenn man seine Kinder oder Enkel (natürlich leise bzw. in angemessener Entfernung) auffordert, andere Menschen nicht anzustarren. Jedenfalls dann, wenn das Interesse nun doch nicht weit genug geht, um Kontakt aufzunehmen und Fragen zu stellen. Denn das ist halt nicht immer der Fall. Oder die Berührungsangst ist dafür zu groß, oder man hat es gerade eilig, oder was auch immer. Und eigentlich dringt man mit solchen Fragen ja auch ziemlich in die Privatsphäre anderer Menschen ein und könnte sehr aufdringlich bzw. distanzlos wirken. Wer will das schon? Woher sollen Außenstehende darüber hinaus auch wissen, ob die Eltern eines Kindes, das irgendwie anders ist, nicht doch geknickt sind, wenn sie (zigmal) mit solchen Fragen von Wildfremden konfrontiert werden? Auch das Risiko geht man bei einer Zufallsbegegnung doch eher nicht ein.
Diese Vielfalt an Gründen und Intentionen sollte man im Hinterkopf behalten, finde ich. Meiner Ansicht nach ist es eher selten der Fall, dass man das anders aussehende Kind quasi als Pariah betrachtet, dessen Anblick man meiden sollte. Grundsätzlich würde ich also erstmal von harmlosen oder gar wohlwollenden Beweggründen ausgehen.
Als Kind bin ich mit blinden Eltern aufgewachsen, die auch oft angestarrt wurden, dies aber natürlich nicht bemerkten. Ebenfalls angestarrt wurde oft genug auch ich, der menschliche „Führhund, Vorleser und Kontaktanbahner“. 😀
Wenn meine Eltern jedem, der geschaut hat, zig Fragen hätten beantworten müssen, wäre das auf die Dauer doch recht anstrengend geworden. Sie hätten das – im Interesse eines guten Image für Blinde – wahrscheinlich höflich getan, wären dann aber irgendwann doch langsam genervt gewesen, da bin ich mir ziemlich sicher.
Ich habe mir die gleiche Frage gestellt.
Ich finde Anstarren natürlich auch doof und lautstark darüber mit den Kindern reden.
Allerdings kennt man die Menschen nicht und weiß nicht, ob es okay wäre, sie anzusprechen.
Also ich kann beide Seiten verstehen.
@Ute G: es geht nicht per se darum,
dass man seinen eigenen Kinder sagt, sie sollen nicht starren. Es geht um die verletztende Wortwahl „Guck da nicht hin!“
Es gibt so viele andere Möglichkeiten, in diesem Fall mit seinem Kind / Enkel umzugehen. Man kann ihm erklären, dass das andere Kind krank ist / eine Behinderung hat. Man kann fragen,
ob das Kind mal Hallo sagen möchte. Man kann einfach die Gedanken des Kindes in Worte fassen „Du bist neugierig, weil das Kind so anders aussieht als du, stimmt‘s?“
Aber „Guck da nicht hin!“ und dann auch noch so, dass das betroffene Kind und deren Eltern es hören, das geht gar nicht.
Deswegen schrieb ich ja oben auch „natürlich leise bzw. in angemessener Entfernung“. Diesen Faktor hatte ich in meinem Kommentar doch längst abgefrühstückt.
Tolle Antwort, Maya! Denn das Getuschel, ob leise oder laut, nah oder fern, fällt den Eltern mit Sicherheit auf und ist verletzend. Sie sind sich ja ob des auffallenden Status bewusst und sehr sensibilisiert dafür, gerade auch um leider wahrscheinlich auch vorkommende, bewusst abwertende Kommentare, vom eigenen Kind fernzuhalten und die kleine Marie davor zu schützen.
Ich bin auch immer für Offenheit und kindliches Verhalten ist ja in den seltensten Fällen bösartig, dass was wir Erwachsenen draus machen, ist relevant und natürlich auch immer Modelllernen.