Ihr Lieben, das wirklich Tolle an Social Media ist, dass sich dort so viele unterschiedliche Menschen tummeln. Für uns ist das ganz wunderbar, wenn wir auf eure Accounts stoßen, euch und eure Geschichten kennen lernen dürfen und unseren Horizont erweitern. Heute haben wir ein Interview mit Mai für euch, ihr findet sie auf Instagram – dort klärt sie über ihre seltene Phobie auf und zeigt ihren Alltag.
Liebe Mai, bevor ich auf dein Instagram-Profil gestoßen bin, habe ich tatsächlich noch nie etwas von Emetophobie gehört. Bitte erkläre uns mal, was das genau ist.
Die Emetophobie ist die panische Angst vorm Erbrechen. Betroffene haben Angst davor, sich selbst zu übergeben oder dass andere Menschen sich übergeben (zb in Filmen/Serien). Emetophobie kann schwere Panikattacken auslösen. Personen mit Emetophobie meiden häufig Partys, auf denen viel Alkohol konsumiert wird, aber auch Arztpraxen, Schwangere und Kinder – also eigentlich alle Leute und Orte, die oder bei denen man mit Erbrechen konfrontiert werden könnte. Betroffene wissen, dass ihre Angst total irrational ist und fühlen sich deshalb oft „seltsam“ und ausgegrenzt. Da man für so eine Phobie oft Unverständnis und Gelächter erntet, fällt es Betroffenen sehr schwer, sich anderen zu öffnen.
Seit wann bist du davon betroffen und wie hat sich das bei dir geäußert?
Bei mir ging das schon in der Kindheit los und steigerte sich mit den Jahren. Eine Phobie schleicht sich meist leise ein, dahinter stecken viele kleine schmerzhaften Erfahrungen und Traumata, die eine Kette von negativen Gefühlen und Gedanken in den Kopf pflanzen.
Ich hatte schon als Kind das Gefühl, ich wäre nicht gut genug, nicht schön genug, in allem nicht genug. Ich habe stets stark an mir gezweifelt. Und wenn einen solche Gefühle in der Kindheit begleiten, dann kann man das als Erwachsener nicht einfach abschütteln. Das Unterbewusstsein vergisst nicht und all die schmerzhaften Erfahrungen kommen immer wieder hoch, das Kinderherz wird getriggert und man kann nur noch reagieren.
Bei mir waren es die Erlebnisse aus meiner Kindheit, in denen ich keine Kontrolle mehr über mich und meinen Körper hatte, in denen ich erniedrigt wurde – jedes Mal, wenn mir nun übel wird und ich kurz davor bin, mich zu übergeben, fühle ich das Kind in mir, das keine Kontrolle mehr hat. Ich bin dann so verkrampft, es geht mir so schlecht, dass ich am liebsten sterben würde.
Wie sah in den schlimmsten Phasen dein Alltag aus?
Ich habe dann das Haus nicht mehr verlassen, habe auch lieber gehungert als einkaufen gehen zu müssen. Gehungert habe ich sowieso ständig, weil es nur noch sehr wenige Dinge gibt, die man essen kann. Ich war extrem pingelig mit Lebensmitteln, habe nur das gegessen, was ich ganz sicher vertrage, konnte nichts essen, was andere zubereitet haben oder was nahe am Mindesthaltbarkeitsdatum dran war. Speisen mit Ei oder schnell verderblichen Zutaten gingen gar nicht.
Bin nur rausgegangen, wenn es schon dunkel war, weil dann weniger Menschen unterwegs waren. Mein Fernseher lief den ganzen Tag und das auf einer ziemlich krassen Lautstärke, weil ich nicht wollte, dass mich jemand kotzen hört oder weil ich Angst hatte, andere beim Erbrechen zu hören. Bei jedem Husten oder Aufstoßen anderer Menschen bin ich in Panik verfallen.
Ich musste ständig alles Ausgänge kontrollieren und wissen, wo die Toiletten sind – ansonsten konnte ich mich in keinen geschlossenen Raum aufhalten. Ich hatte immer Kotztüten, Tabletten gegen Übelkeit, Kaugummis, Wasser und Taschentücher dabei. Mein Auto musste auch immer in Sichtweite stehen, mich davon zu entfernen, löste ganz schlimme Symptome aus.
Jeden Abend musste ich eine Tablette nehmen (Vomex), damit ich überhaupt schlafen konnte. Wenn mir dann mal wirklich übel war, ging die Hölle eigentlich erst richtig los. Ich spürte, dass ich mich übergeben musste, hielt das aber wirklich Stunden zurück, quälte mich unendlich doll und wenn es dann doch passierte, war ich danach total traumatisiert. Ich konnte keine richtige Beziehung führen, aus Angst mich vor meinem Partner übergeben zu müssen. Generell hielt ich Menschen immer auf Abstand, aus Scham, dass ich für bescheuert gehalten werde. Durch diese ganzen Einschränkungen gab es auch immer wieder schwere depressive Phasen, in denen ich wochenlang kaum das Bett verlassen habe.
Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass du Hilfe brauchst und wo hast du diese gefunden?
Ich war mir eigentlich die ganze Zeit bewusst, dass ich Hilfe brauche, weil die Phobie mein ganzes Leben bestimmt hat. Aber ich dachte auch, dass ich eben der Fehler bin und dass ich vielleicht einfach damit leben muss. Mit 20 habe ich dann zum ersten Mal von Emetophobie gehört, ich war damals schon in Therapie und die Therapeutin hat das erkannt und alles ins Rollen gebracht.
Das Problem war allerdings – wie bei so vielen psychischen Erkrankungen, dass es sehr schwer ist, einen geeigneten Therapeuten/Therapeutin zu finden. Also versuchte ich es zunächst allein, meditierte, las Tonnen von Selbsthilfebüchern, aber das alles half nichts. Im Dezember 2016 wollte ich eigentlich nicht mehr leben.
Tatsächlich hat mich der christliche Glaube aus dem ganz tiefen Loch geholt. Der Glaube und Therapien, viele kleine Schritte und gute Menschen um mich herum, haben mich dahin gebracht, wo ich heute bin. Ich habe dann auch meinen Mann kennen gelernt und konnte mich endlich wieder auf eine Beziehung einlassen.
Du wolltest auch immer eine Familie. Doch mit Emetophobie ist das nicht ganz einfach, schließlich leiden viele Schwangere unter Übelkeit…
Ja, ich habe mich immer sehr nach einem Kind gesehnt. Zudem hatte ich aber stark Endometriose und die Chance auf eine Schwangerschaft war sehr gering. Zudem hatte ich natürlich sehr viel Angst davor, dass ich mich erbrechen müsste und auch, dass das Kind sich erbricht. Tatsächlich bin ich dann aber überrasend schwanger geworden…
Wie hast du die Schwangerschaft und Geburt erlebt?
Am Anfang war es noch sehr schwer für mich, denn in der sechsten Woche setzte bei mir die Übelkeit ein. Sofort kam das Gefühl zurück, dass ich die Kontrolle verliere und das war das Schlimmste. Erst, als ich begann, nicht mehr gegen meinen Körper zu kämpfen, meinem Körper einfach zu vertrauen, wurde es besser. Zur 19. Schwangerschaftswoche verschwand die Übelkeit. Den Rest der Schwangerschaft empfand ich als sehr schön, aufwühlend, emotional – ich lernte wirklich, auf meinen Körper zu vertrauen und das hat mich in meinem Heilungsprozess voran gebracht.,
Fünf Wochen vor der Geburt ging die Phobie wieder los, weil ich gehört hatte, dass sich viele Frauen unter der Geburt übergeben müssen. Ich habe meine Tochter fast zwei Wochen übertragen, eine Einleitung war für Sonntag angesetzt. Am Freitag betete ich aus vollem Herzen, dass sie sich doch selbst noch auf den Weg machen möge und Samstagmorgen platze dann die Fruchtblase – alles ging sehr schnell.
Die Kleine wäre fast zu Hause zur Welt gekommen, aber dann setzte wieder die Angst ein und ich fuhr mit Ehemann und Hebamme ins Krankenhaus. Dort veränderte sich dann alles und sie musste am Ende mit einem Kaiserschnitt geholt werden. Heute bin ich für diese Erfahrung sehr dankbar, weil ich zum ersten Mal eine richtige Abhängigkeit gespürt habe. Durch den Kaiserschnitt konnte ich ja erstmal nicht aufstehen, musste also loslassen, abgeben, anderen vertrauen. Dadurch habe ich viel gelernt und mich vielen Ängsten aussöhnen können.
Wie geht dein Partner mit deiner Erkrankung um?
Am Anfang hatte er große Probleme damit, aber weniger mit meinen Ängsten, sondern meinem Verhalten aus der Angst heraus.
Ich war oft wütend, hab viel geschrien und war sehr unfair, wenn ich Panikattacken hatte. Außerdem konnten wir viele alltägliche Dinge nicht machen, wie bummeln gehen, ins Kino oder Essen gehen. Aber er hat einen tollen Weg gefunden, -ich würde es mal liebevolle Konsequenz nennen. Er fordert mich, aber überfordert mich nicht. Wir reden viel und offen, obwohl er sich manchmal eine noch bessere Kommunikation zu meinen Ängsten und Gedanken wünscht.
Er setzt aber auch klare Grenzen und sagt mir ganz direkt, wenn ich ihn verletzt habe. Nach fünf Jahren haben wir zusammen einen sehr guten Weg gefunden, er ermutigt mich, zeigt mir immer wieder, wie viel ich schon geschafft habe und macht mir ganz klar, dass ich mit meinen Ängste nicht weniger liebenswert bin. Wir haben beide Fehler und arbeiten stetig an uns und unserer Beziehung. Viele Betroffene fühlen sich wegen ihrer Angst oft nicht geliebt oder liebenswert, sondern sehen sich eher als Belastung. So ging es mir auch viele Jahre, bis mein Mann kam.
Emetophobie ist keine besonders bekannte Erkrankung. Stößt du da oft auf Missverständnis, weil die Leute sich einfach nicht auskennen? Also nach dem Motto: Reiß dich einfach mal zusammen!
Ich musste mal ins Krankenhaus und war mit einer Frau im Zimmer, die sich immer wieder erbrochen hat. Für mich natürlich ein riesen Problem. Ich habe mit der Krankenschwester darüber gesprochen und wollte um ein anderes Zimmer bitten, doch die Schwester hat mich nur ausgelacht und gesagt, dann müsse ich halt auf dem Flur schlafen. Ich habe mich dann auf eigene Gefahr hin entlassen…
Es gab sehr viele Situationen in meinem Leben, in denen ich einfach ausgelacht wurde. Aber ich will meinem Umfeld da gar nicht die Schuld geben – es war die Überforderung und das Unwissen darüber, dass ich keine Show abziehe, sondern Todesangst habe.
Deswegen ist mir die Aufklärungsarbeit unheimlich wichtig, diese Phobie betrifft so viele und die meisten können nicht offen darüber sprechen. Ich unterhalte mich auch mit vielen Eltern, die verzweifelt sind, weil ihr Kind Emetophobie hat. Es ist so wichtig, klar zu stellen, dass man nichts dafür kann, dass man diese Angst hat, dass man gewisse Dinge nicht mit Absicht oder böswillig macht.
Wie geht es dir ganz aktuell?
Ganz aktuell geht es mir gut. Ich hatte Phasen im Lockdown, in denen sich meine Ängste wieder zurückmeldeten, aber ich sorge gut für mich, bete, tue Dinge, die mir gut tun. Aktuell ist auch die Kita Eingewöhnung für uns ein Thema, das ist mein persönlicher Endgegner, weil ich weiß, dass da dann einige Magen -Darm-Erkrankungen auf uns zu kommen und davor habe ich Angst. Aber ich halte mich an den guten Phasen fest und vertraue, dass ich das dann auch schaffen werde.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass ich weiterhin aufklären darf. Ich würde gerne ein Buch über meine Erkrankung schreiben, damit Betroffene und Menschen, die mehr darüber wissen wollen, etwas in den Händen halten können, was hilft zu verstehen und zu heilen.
Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Menschen offen über ihre Fehler und ihre psychischen Probleme reden könne, dass sie nicht ausgegrenzt oder übersehen werden. Dass sie nicht auf ihre Erkrankung reduziert werden, sondern als Ganzes gehört und gesehen werden.
6 comments
Hallo Mai,
Vielen Dank für deinen ausführlichen Beitrag. Ich habe selbst schon viele Jahre Angst vorm Erbrechen , diese Angst wurde letztes Jahr schlimmer, als ich Corona hatte und ich mich 2x übergeben musste. Ich nehme auch Vomex , eine Zeit lang täglich und dann nach Bedarf. Endometriose habe ich auch so wie du. Ich bin froh, dass ich jemanden hier gefunden habe, dem es genauso geht wie mir
So selten ist diese Phobie auch wieder nicht; höchstens in dieser Ausprägung. Ich leide selber darunter und wenn man darüber spricht, lernt man schon die eine oder andere Person kennen. Spontan könnte ich sicher 4-5 Personen aus meinem Bekanntenkreis aufzählen, die in unterschiedlichem Ausmass davon betroffen sind.
Aber wie andere schon geschrieben haben, sind nicht alle Kinder gleich anfällig auf Magen-Darm-Erkrankungen, unsere siebenjährige Tochter musste bisher nur sehr selten erbrechen. Dazu könnte dann auch der Papa übernehmen, falls das hilft, dass man nicht direkten Kontakt dazu hat.
Hallo Mai! Vielen Dank, dass du deine Geschichte mit uns teilst und alles, alles Gute für dich. Und für deine kleine Familie! Wer so viele Hürden erlebt und auch überwunden hat ist nur zu bewundern und verdient alles Glück der Erde. Ich schicke dir ganz viel Liebe und Kraft und gute Wünsche!
Dem kann ich mich nur anschließen – nicht jedes Kind bekommt Magen-Darm und nicht jeder Mensch bekommt es auf die gleiche Art und Weise. Wir hatten oft Magen Darm in der Kita und die Auswirkungen waren eigentlich immer gleich – mein großes Kind hatte nur kurz Durchfall, nie Erbrechen. Das kleine Kind kurz Durchfall mit Erbrechen. Der Mann meist nie etwas oder nur kurz Bauchgrummeln. Ich hatte es immer volle Kanne in beide Richtungen … du siehst – es kommt auch auf die persönliche Anfälligkeit an. Was ich vorher nicht wusste – kleine Kinder erbrechen oft beim Husten. Aber keinen Mageninhalt, sondern Schleim aus den Bronchien. Das soll sogar gut sein, weil er sich dann lockert und nicht fest wird. Alles gute für den Kita-Start und immer dran denken – die Zeit der Krankheiten geht nach 1 oder 2 Kitajahren vorbei 🙂
Auch wir haben nach inzwischen 3 Jahren Kindergarten noch nie Magen-Darm mit nach Hause gebracht. Übrigens bis auf etwas Schnupfen und Husten auch sonst nichts.
Woran das liegt, weiß ich nicht. Aber es soll nur zeigen, dass es auch anders möglich ist.
Viele Grüße
Zum Mutmachen bzgl Kindergarten…es gibt Kinder, die quasi nie Magen-Darm haben. So zB unsere große Tochter.
Vielleicht habt ihr ja Glück 😊👍
Liebe Grüße, Vicky