Ihr Lieben, Selbstverletzungen bei Kindern und Jugendlichen ist ein schwieriges Thema. Sofort gibt es Schuldzuweisungen, Scham, Ängste, Traumata und natürlich riesige Sorgen.
Wie kann ich als Elternteil meinem Kind helfen, das sich ritzt und selbst verletzt? Wie komme ich mit meinem Kind ins Gespräch? Was kann ich in Akutsituationen tun? Die Pädagogin und Autorin Michelle Mitchell hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit betroffenen Kindern, deren Eltern und anderen Bezugspersonen bei der Bewältigung von selbstverletzenden Verhaltensweisen.
In dem Ratgeber „Selbstverletzendes Verhalten – Wie helfe ich meinem Kind? Warum Kinder und Jugendliche davon betroffen sind und wie Eltern reagieren können“ kombiniert sie ihren Erfahrungsschatz mit den neuesten Forschungsergebnissen. Wir dürfen einen Auszug davon hier veröffentlichen:
Unabhängig davon, wie Eltern von selbstverletzendem Verhalten erfahren, ob durch Lehrkräfte, enge Freunde, Geschwister oder Nachspionieren, reagieren sie in der Regel geschockt. Anne Ferrey beschreibt es so: „Aus Elternsicht funktioniert die Familie in der Regel besser als aus Sicht ihrer Kinder, und ein großer Teil der Eltern bekommt nicht mit, dass ihr Kind sich selbst verletzt.
Wenn sie es herausfinden, sind sie geschockt.“ Andere Studien besagten, dass Eltern spontan Schock, Ärger und Ungläubigkeit empfinden. Um sich mit dem selbstverletzenden Verhalten auseinandersetzen zu können, müssen die Eltern diese spontanen Emotionen bearbeiten. Als ich Eltern befragte, was sie zunächst empfanden, als sie herausfanden, dass ihr Sohn oder ihre Tochter sich verletzt,
kamen Antworten wie diese:
- „Erst wurde mir schlecht, dann war ich wie betäubt. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte“, sagte Patricia.
- „Es war ein Wust an allen erdenklichen Emotionen zugleich“, sagte Tamika.
- „Im ersten Moment war ich voller Sorge. Ich stellte mir sofort tiefe Schnitte in ihrer Haut vor, und malte mir aus, wie furchtbar sie psychisch gelitten haben musste, sich absichtlich so etwas anzutun. Ich verstand das Ritzen nicht, warum sie es tat, was sie davon hatte“, sagte Cathi.
- „Ich glaube, ich habe mir Vorwürfe gemacht. Wie konnte ich meine Tochter als Mutter derart im Stich gelassen haben, dass sie glaubte, ihre Probleme durch Selbstverletzung lösen zu müssen? Wir wussten, dass wir unser kleines Mädchen verloren, aber wir wussten überhaupt nicht, was dahintersteckte“, sagte Laura.
Dass Eltern in einer emotional so schwierigen Zeit ruhig und gefasst bleiben sollen, ist viel verlangt. Ich kann nur dringend dazu raten, psychologische Hilfe, eine Beratungsstelle oder enge Freunde hinzuzuziehen, ehe Sie mit Ihrem Kind reden. Meines Erachtens ist das das Klügste, was Eltern tun können. Ich kann es nicht genug betonen: Verarbeiten Sie Ihre Emotionen nicht vor dem eigenen Kind.
Collett Smart kann auf mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Psychologin und Lehrerin zurückblicken. Sie ergänzt hierzu: „Ich empfehle dringend, dass beide Elternteile sich Unterstützung suchen. Als Paar in einer Beratungsstelle, aber auch unabhängig voneinander bei guten Freunden oder Verwandten. Sie brauchen jemanden, der emotional nicht so stark involviert ist.
Es ist wichtig, sich dem Trauma und dem Schmerz der Familie zeitweise entziehen zu können. Das ist keine Flucht, sondern Selbstfürsorge, und Selbstfürsorge ist für die eigene Gesundheit und Kraft unverzichtbar. Füllen Sie Ihren Krug, denn ein leerer Krug hat nichts zu geben.“
Gespräche über Selbstverletzungen
Gespräche über selbstverletzendes Verhalten müssen immer achtsam und mit echter Empathie geführt werden. Beruflich spreche ich viel über das Konzept „sanft und nah“. Diese beiden Worte kann ich auch meinen Lesern und Leserinnen gegenüber nicht oft genug betonen. Halten Sie sich im Zweifelsfall immer an „sanft und nah“ – mit Körpersprache und Tonfall und auch in der Wortwahl.
Achten Sie auf Elemente, die eine Verbindung kappen, darunter Urteile, Kritik, Überreaktionen, Kontrolle, mangelnde Sensibilität und mangelndes Wissen. All dies hat nachteiligen Einfluss auf Gespräche, also vermeiden Sie es unbedingt. Nichts davon ist „sanft und nah“. Verzichten Sie als Eltern auf Sätze wie:
- Irgendetwas stimmt mit dir nicht, sonst würdest du so
etwas nicht tun. - Ich glaube, du willst damit nur Aufmerksamkeit heischen.
- Wenn du nicht damit aufhörst, muss ich dich bestrafen.
- Viele Leute haben es mal schwer und ritzen sich trotzdem nicht.
- Du endest noch im Krankenhaus oder schlimmer.
- Sag mir sofort, wo du deine Klingen versteckst.
- Wie lange geht das schon so?
- Ich weiß, wie du dich fühlst.
- Ich wette, deine Freundinnen machen das, und deshalb hast du damit angefangen.
- Warum willst du dich umbringen?
Es klingt vielleicht verrückt, aber betrachten Sie diese Unterhaltung bitte als Ihre große Chance, Vertrauen und eine Verbindung zu Ihrem Kind aufzubauen. Diese Chance bietet sich vielleicht
kein zweites Mal, und ich hoffe ehrlich, dass sich genau diese Chance kein zweites Mal ergibt! Vielleicht ist es das einzige Mal, wo Ihr Kind derart verwundbar ist und Sie in genau dieser Weise braucht. Gehen Sie sorgsam vor und machen Sie sich bewusst, dass jedes Wort Eindruck hinterlässt. Die folgenden Fragen und Anstöße könnten Ihnen helfen, dem Gespräch einen Rahmen zu geben und es in Gang zu halten.
- Es geht mir in erster Linie darum, dich zu unterstützen, so gut ich nur kann. Dieses Gespräch soll mir dabei helfen.
- Gibt es etwas, das ich tun könnte, damit es dir besser geht?
- Ich brauche deine Hilfe, damit ich selbstverletzendes Verhalten besser verstehe. Inwiefern geht es dir mit dem, was du tust, besser?
- Zu welcher Tageszeit geht es dir am schlechtesten? Was können wir als Familie tun, um dir zu diesem Zeitpunkt zu helfen?
- Kannst du gut schlafen?
- Könntest du dir vorstellen, mit einem Arzt oder einer Ärztin zu sprechen?
- Wie geht es dir, wenn du mit mir über Selbstverletzung sprichst? Mit wem redest du sonst noch darüber?
- Ich muss mit dir etwas besprechen, und es geht dabei um deine Sicherheit. Wäre es für dich okay, wenn wir einige dieser Punkte jetzt konkret besprechen? Ich muss nun ausdrücklich von dir hören, ob du sicher bist und ob wir an dieses Gespräch anknüpfen können.
- Was können wir momentan in deinem Leben Positives ergänzen? Gibt es etwas, was du nicht mehr tust, obwohl du es früher gern getan hast?
- Wie schlimm sind deine Gefühle, wenn es dir richtig mies geht? Wenn du dafür keine Worte findest: Könntest du es auf einer Skala von 1 bis 10 einstufen?
- Wie läuft es in deinen Freundschaften und Beziehungen?
- Wie ist momentan dein Verhältnis zu uns in der Familie, zu jedem Einzelnen? Wie geht es dir damit?
- Gibt es etwas, was dir gerade sehr zu schaffen macht, bei dem ich dir helfen könnte?
- Gibt es etwas, worüber du mit mir nicht reden kannst, was du aber vielleicht mit jemand anderem besprechen möchtest? So etwas kann ich für dich in die Wege leiten.
- Wenn du mir lieber schreiben willst als zu reden, kennst du meine Nummer!