Sei ein Mensch: Wie dieser Satz seines Vaters Marcel Reif prägte

Sei ein Mensch

Foto: Harry Weber

Ihr Lieben, im Januar dieses Jahres sprach Sportjournalist Marcel Reif bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag und sorgte mit seiner „Sei ein Mensch“-Rede für ein riesengroßes Echo. Er hielt sie, um zu erinnern, um zu wecken, wo nötig, wie er sagt. Es ging ihm um ein „Nie wieder!“

Sein Vater hat nach der Nazizeit und der Verfolgung der Juden und Jüdinnen geschwiegen und ihm war es ein Bedürfnis über ihn zu sprechen. Ihm Danke zu sagen für eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend. Fröhlich und sorgenfrei war sie nicht zuletzt, so sieht es Marcel Reif heute, weil sein Vater schwieg. Einen Satz aber, den sagte er immer wieder und eigentlich fasst dieser alles zusammen und sagt alles aus: SEI EIN MENSCH.

Diese Worte berührten Deutschland, Marcel Reif trat eine Welle der Empathie los. Und zwei Freunde aus Berlin – Matthias und Elvir – nahmen die Rede und den Satz zum Anlass, eine Initiative zu starten. Die Initiative SEI EIN MENSCH, deren Schirmherrschaft Marcel Reif übernahm und für die ich die Ehre habe, Botschafterin zu sein.

Sei ein Mensch
Marcel Reif. Foto: Harry Weber

Um die Botschaft SEI EIN MENSCH noch populärer zu machen und ihr maximale Sichtbarkeit zu schenken, möglichst sogar eine Bewegung in Ganz zu setzen, drucken sie den Spruch auf Hoodies, Tassen, Kunstdrucke und Taschen. Der Gewinns aus dem Verkauf der Artikel wird gespendet – an HateAid. Warum sie das tun? Zur Unterstützung der Demokratie, zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – und nicht zuletzt für: Menschlichkeit.

Lieber Herr Reif, in Amerika wird Trump wiedergewählt, in Deutschland bricht die Ampel auseinander, dazu der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine und die vielen Toten in Israel und Gaza…. Einen besseren Zeitpunkt für eine Kampagne wie SEI EIN MENSCH kann es im Grunde nicht geben, oder?

Ach, ich denke, es gibt keine guten oder schlechten Zeitpunkte für die Botschaft SEI EIN MENSCH. Sie bleibt so wahr, wie sie immer war. Es sind wenige, leichte Worte, aber sie haben so viel Gehalt. Ich hoffe, dass Menschen sie sich zu Herzen nehmen, dann könnte sich etwas ändern.

Sie sind Schirmherr der Idee bzw. vielmehr noch: Sie sind sogar Namensgeber. Nach Ihrer Rede vor dem Bundestag zitierten Sie mit „Sei ein Mensch“ einen Satz Ihres Vaters. Wie erinnern Sie ihn?

Ich erinnere meinen Vater als lebenslustigen, fröhlichen, liebevollen Mann – trotz seiner Vergangenheit. Ich hätte mir keinen besseren Vater wünschen können. Und ich hoffe, dass er wirklich so fühlte, wie er sich gab und nicht nur so tat, um uns Kindern zu helfen.

Ihr Vater hatte im Krieg fast alle Verwandten verloren. Nur ein Onkel, eine Tante und eine Cousine waren ihm geblieben. Sie selbst wuchsen also ohne Großeltern auf, haben Sie nach ihnen gefragt oder wurde darüber nicht geredet?

Doch, als kleiner Junge habe ich bestimmt mal danach gefragt. Als Heranwachsender wusste ich dann ja, warum ich keine Großeltern habe, ich traute mich aber nicht, danach zu fragen, vor Sorge, dass mir das zu groß werden könnte. Nach dem Tod meines Vaters hat mir dann meine Mutter Dinge erzählt, die ich lieber nicht hätte wissen wollen.

In Ihrer Rede erwähnen Sie, dass ihr Vater manchmal in eine eigene Welt abtauchte, wenn Sie mit Ihrem Sohn bei ihm waren, ihre Mutter erklärte dann eindrücklich von einem kleinen Jungen, an den Ihr Vater da vielleicht denken musste…

Hier dürfen Sie gern aus meiner Rede zitieren. Zitat: „Vater war ein liebevoller, ein guter Opa. Mindestens einmal in der Woche kam ich mit meinem kleinen Sohn zu Besuch. Es waren wunderbare Stunden. Nur manchmal verfiel er kurz in eine kleine Depression, er wurde für ein paar Minuten unerreichbar. Ich fand das angesichts seines kleinen Enkels unangemessen und war einmal drauf und dran, mich dazu zu versteigen, ihn dafür tadeln zu wollen. Da fuhr meine Mutter dazwischen (…):

Mutter erzählte, wie eine Gruppe Juden mit meinem Vater auf der Flucht durch die Wälder einen kleinen Jungen – ungefähr so alt wie sein Enkel – bei polnischen Bauern zurückließ, um überhaupt eine Chance zu haben. Nach der Befreiung wollten sie den Jungen wieder abholen. „Es tut uns leid. Die Deutschen kamen, und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.“ Und Mutter sagte: „Weißt du: Manchmal, wenn du mit deinem Sohn bei uns warst, hatte er auch diesen Jungen vor Augen.““

Nun verstanden Sie, warum Ihr Vater über die Vergangenheit geschwiegen hatte. Trotzdem wurde Ihnen irgendwann klar, dass er ja doch gesprochen hatte…

Genau. Er hatte doch all das gesagt und mitgegeben, was ihm wichtig war, was er gerettet hatte, als Essenz aus seinen Erlebnissen. Und er hat uns den Satz oft geschenkt – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: „Sej a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“

Was wünschen Sie sich für unsere Gesellschaft in Sachen Menschlichkeit, welche Hoffnungen legen Sie in SEI EIN MENSCH?

Wenn ich keine Hoffnung hätte, müsste ich den Laden zumachen. Ich hoffe, wir können damit jeden und jede Einzelne/n ansprechen, denn die Gesellschaft besteht aus vielen Individuen. Wenn jeder und jede für sich selbst Mensch ist und Mensch bleibt und das im Kleinen umsetzt, können wir Großes bewirken (sonst hätten wir auch Kaulquappen werden können, ich glaube, das wäre ökologisch sinnvoller, die schlagen sich auch nicht die Köpfe ein oder verbreiten Hass, glaube ich).

Ich schwanke täglich zwischen Hoffnung und Resignation bis hin zur Verzweiflung. Ich komme da nur raus, indem ich mir sage: Das Leben ist schön, es könnte uns allen doch so gut gehen. Wie mein Vater das schon sagte: Wir dürfen und sollten Mensch sein.

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Sei ein Mensch

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