Ihr Lieben, wenn man sich ausmalt, ein Kind zu bekommen, dann denkt man an süße Babyfüßchen und kuschelige Sofa-Abende und eher nicht an Themen wie Schulangst, ADHS, Depressionen. Eltern werden mitunter zu Experten für Fachgebiete, von denen sie vorher noch nichts ahnten. So geht es auch Nicole mit ihrer Tochter.
Liebe Nicole, deine Tochter ist 14 und leidet unter Ängsten, wie genau äußern sich diese?
Meine Tochter war schon immer sehr sensibel und zeitgleich sehr draufgängerisch. Sie brauchte seit jeher Begleitung in unbekannten Situationen wie zum Beispiel im Restaurant alleine auf die Toilette zu gehen, etwas von fremden Menschen zu erfragen.
Aktuell sind die Ängste zeitweise so stark, dass sie sich nicht traut, alleine aus dem Haus zu gehen, Bahn zu fahren oder in die Schule zu gehen. Mit Begleitung geht es dann manchmal schon oder es reicht mit jemandem Vertrauten zu telefonieren. Wir begleiten sie wenn möglich oder Freunde holen sie ab.
War eure Tochter schon immer eine eher ängstliche Person oder hat sich das erst mit der Zeit entwickelt?
Als kleines Kind war sie manchmal sehr ängstlich, außer sie war in der Gruppe oder mit uns Eltern.
Die Ängste gehen bis hin zur Schulangst und Schulabstinenz – fühlt ihr euch da von der Schule gut unterstützt oder eher weniger ernst genommen?
Am Gymnasium, an dem sie war, hatten wir keinerlei Unterstützung, obwohl ich sehr offen mit der Problematik umgegangen bin. Mir wurde im Gespräch jegliche Hilfe versagt, auch als ich klar äußerte, dass wir bereits auf der Suche nach einer anderen Schulform sind.
Meine Bitte war, uns zu unterstützen damit sie für die Übergangszeit so etwas wie einen Alltag hat, aber das wurde rigoros abgeschmettert. Ihr wurde unterstellt, sie sei einfach faul, müsse einfach besser arbeiten und dürfe nur zu Hause bleiben, wenn sie wirklich krank sei. Alles wurde auf die Überforderung geschoben und dass sie einfach auf der falschen Schule sei. Sie hatte eine klare Empfehlung für das Gymnasium und wollte unbedingt dorthin.
Und was denkst du jetzt darüber?
Mein Fehler war bei der Auswahl der Schule, dass mir nicht bewusst war, welchen Ruf dieses Gymnasium hat – nämlich sehr leistungsorientiert zu sein mit einem Direktor, der bekannt dafür ist wenig soziale Kompetenz zu haben und wenig Raum für Schülerinnen und Schüler zu lassen, die vielleicht etwas mehr Zeit oder Unterstützung brauchen als andere.
Ich habe einige Lehrerinnen im Freundeskreis, die mir von anderen Gymnasien berichtet haben, dass es möglich gewesen wäre, uns Hilfen zukommen zu lassen. Der Direktor merkte im Gespräch nur an, „dass es ja aktuell auch sehr en vogue sei mit psychischen Erkrankungen und Suizid zu kokettieren…“

Ihr habt nun die Schule gewechselt…
Jetzt ist sie Schülerin an einer Oberschule mit großartigen Lehrkräften und einer Direktorin die unfassbar engagiert und zugewandt ist. Wir haben mit ärztlichem Attest eine Art Hamburger Modell, was bedeutet, dass sie Homeschooling-Aufgaben bekommt.
Wenn sie es an schlechten Tagen nicht in die Schule schafft. Und zwar so lang, bis die Diagnostik abgeschlossen ist und therapeutische Hilfe da ist. Ihr Vertrauen in das System Schule ist aber dermaßen gebrochen, dass sie nicht glaub, dass von schulischer Seite irgendetwas Positives passiert.
Eure Tochter leidet auch seit einiger Zeit unter Depressionen, wie äußern sich diese – oder lassen sich die gar nicht genau voneinander abgrenzen?
Die Depressionen äußern sich in ganz „klassischer“ Weise mit Antriebslosigkeit, Zukunftsängsten, Suizidgedanken, Selbstverletzung. Durch die schlechten Erfahrungen glaubt sie immer noch, sie sei eben einfach zu dumm, um irgendetwas zu schaffen.
Nun steht der Verdacht ADHS als auslösendes Moment im Raum. Wie kamt ihr darauf?
Tatsächlich folge ich vielen Seiten auf Instagram, die sowohl von betroffenen Menschen als auch von Verbänden und von therapeutischer Seite aufklären und bin dadurch auf Erfahrungsberichte von Menschen gestoßen, die mich veranlasst haben, weiter zu recherchieren.
Ich bin sehr dankbar, muss aber dringend dazu raten, die Quellen immer gut zu prüfen. Einige Seiten verbreiten gefährliche Halbwahrheiten. Daher habe ich schnell Kontakt zu Therapeuten und Therapeutinnen aufgenommen und habe das Glück, beruflich mit vielen Menschen Kontakt zu haben. Und wenn alle Gedanken um das Wohl der eigenen Kinder kreisen erkennt man schnell, wer auch betroffen ist und es ist wahnsinnig hilfreich, sich auch dort auszutauschen.
ADHS oder ADS werden bei Mädchen immer noch zu oft übersehen, findest du. Was meinst du, wie es dazu kommt?
Mädchen haben oft nicht das klassische Hyperaktivitätssymptom. Experten sagen auch, dass in der Erziehung noch immer klassische Verhaltensmuster gefordert werden. Mädchen zum Basteln an den Tisch, die Jungs zum Toben in den Garten. So lernen Mädchen früh, ihre Impulse zu unterdrücken und sich anzupassen.
Das führt dazu, dass sich Mädchen häufiger als Jungs maskieren und ihre Symptome verstecken – wie auch meine Tochter. Bei ihr ist die Unruhe eher innerlich. Ewig kreisende Gedanken, das Bedürfnis nicht auffallen zu wollen, kosten wahnsinnig viel Kraft.
Meist werden diese Mädchen erst „auffällig“, wenn sich sogenannte Komorbiditäten wie Depressionen, Ängste etc. entwickeln. Dann ist es extrem wichtig, eine fachlich fundierte und exakte Diagnostik zu bekommen, um zu schauen, was wirklich dahinter steckt.
Wer unterstützt dich als Mama in dieser Zeit am meisten, wo wird dir am meisten Verständnis entgegengebracht?
Freundinnen und Familie unterstützen mich gut mit, wobei ich auch häufig skeptisch gefragt werde, ob ich mich da nicht in etwas hineinsteigere, was durch Medien und besonders durch Social Media verstärkt wird.
Da ich aber zum Glück immer zu 100% hinter meinen Kindern stand und stehe, bin ich sehr stabil und habe das Glück, im therapeutischen Bereich zu arbeiten und meine Quellen gut auswählen zu können. Und ich bin sehr dankbar, jetzt auch von schulischer Seite diese Unterstützung zu bekommen und ernst genommen zu werden.
Ich kann nur dringend dazu raten, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen – auch um die Selbstzweifel besprechen zu können. Denn natürlich war und ist die Frage nach „Was habe ich falsch gemacht“ ein ständiger Begleiter!
Welche sind deine größten Sorgen, welche deine innigsten Hoffnungen?
Meine größte Sorge ist, dass wir keine klare Diagnose bekommen und die Suche wieder von vorne losgeht. Meine innigste Hoffnung, dass wir eine eindeutige Diagnose bekommen, schnell das richtige Medikament in der richtigen Dosierung bekommen und meine Tochter erkennt, was für ein toller, kluger und liebenswerter Mensch sie ist.
Wenn du einen Wunsch frei hättest (oder 3, wie du magst), welcher wäre es?
Dass meine Tochter aus der negativen Gedankenspirale kommt. Dass sie gut ist, so wie sie ist und dass unser Leben wieder leichter wird – ohne Ängste und die große Frage nach dem Warum!

5 comments
Hallo, vielleicht gibt es die Möglichkeit eine Unterstützung in Form einer Schulbegleitung (geht in Hessen über ein Formular, das mit der Klassenlehrkraft ausgefüllt wird) zu bekommen, damit sie immer eine erwachsene feste Ansprechperson dabei hat?
Wir hatten ähnliche Probleme, war eine schwierige Zeit für uns alle. Wir Eltern haben uns so hilflos gefühlt. Hatten aber das Glück relativ schnell bei einem Psychologen unterzukommen, der uns dann empfohlen hat beim Jugendamt eine Sozialpädagogische Familienhilfe zu beantragen. Sie kommt 1-2 x pro Woche und unterstützt in allen möglichen Fragen und gibt Hilfestellungen. Das wäre für euch vielleicht eine Unterstützung.
Das ist genau wie bei unsere Tochter, wir
sind gerade bei der Diagnostik und haben die gleichen Hoffnungen.
Über Kontakt und Hilfeangebote würde ich mich sehr freuen.
Alles Gute für euch.
Ein sehr berührender Text.
Vielen herzlichen Dank für diesen Beitrag. Wir haben uns auch gefühlt endlos durch das System gekämpft. Ohne Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Jetzt ist unsere Tochter endlich in Therapie und wird ernst genommen. Nach Jahren…