Ist das eine psychische Erkrankung oder nur Pubertät? Fragen an die Therapeutin

psychische Erkrankung

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Ihr Lieben, psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind im vergangenen Jahr einer neuen Analyse der DAK-Gesundheit zufolge auf einem hohen Niveau geblieben, besonders häufig sind jugendliche Mädchen betroffen. Insgesamt wurde 2022 bei rund 110.000 jugendlichen Mädchen eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung neu diagnosti­ziert. Den Daten zufolge leiden sie am stärksten unter Depressionen, Angststörungen und Essstörungen.

Nina Jordis ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, betreut in ihrer Praxis viele junge Patienten und hat nun ein Buch geschrieben. In „Wenn Teenager leiden – Einblicke in die stille Welt psychisch belasteter Jugendlicher“ beschreibt sie echte Fälle, macht mit Erfahrungsberichten Mut und zeigt Problemlösungsstrategien auf, sowie einen angemessenen Umgang mit Gefühlen, um das Selbstvertrauen zu stärken.  Da es sich in dem Buch um echte Therapiegeschichten handelt, hat Nina das Buch übrigens unter einem Pseudonym verfasst, um alle Identitäten aus dem Buch bestmöglich zu schützen. Wir haben sie zu ihrer Arbeit befragt:

Liebe Nina, du bist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und hast das Buch „Wenn Teenager leiden“ geschrieben. Wie bekomme ich mit, ob mein Kind einfach „normal“ pubertär ist oder psychisch belastet ist und Hilfe braucht? 

Das ist tatsächlich gar nicht so einfach zu beantworten. Bedingt durch die Pubertät und den damit verbundenen hormonellen Umstellungen, neuer Verknüpfungen von Nervenzellen im Gehirn sowie erweiterter Entwicklungsaufgaben, verändern sich die Jugendlichen.

Viele Verhaltensweisen, wie beispielsweise gereizte Stimmung, ein veränderter Schlafrhythmus oder das Zurückziehen ins Zimmer sind typisch in dieser Phase, können zugleich aber auch Hinweise auf eine psychische Erkrankung sein. Im ICD 10 sind alle psychischen Erkrankungen genau beschrieben, und es definiert somit ganz klar, welches Verhalten über welchen Zeitraum gezeigt werden muss, damit es einen Krankheitswert hat.

Eltern sollten dabei zwei Kriterien im Blick behalten: Die Dauer der Symptomatik und wie stark diese den Alltag der Jugendlichen beeinträchtigen. Werden also über mehr als zwei Wochen Hobbys oder Freunde vernachlässigt, verändert sich das Essverhalten, verschlechtern sich die schulischen Leistungen oder zeigen sich körperlichen Beschwerden, sollten diese Verhaltensweisen von einem Arzt oder Psychotherapeuten abgeklärt werden.

Du beschreibst in deinem Buch Fälle aus deiner Praxis. Welches Krankheitsbild hat in den letzten Jahren zugenommen?

Laut Datenlage haben besonders Angsterkrankungen, Depressionen sowie Essstörungen zugenommen. In meiner Praxis beobachte ich, dass sich besonders der Ausprägungsgrad der Erkrankungen verändert hat. Die Jugendlichen, die ich momentan kennenlerne, erscheinen mir deutlich belasteter als noch in den Jahren zuvor. In meiner Beobachtung häufen sich die Fälle von erkrankten Jugendlichen, die so schwer belastet sind, dass kein Schulbesuch mehr möglich ist. Auch im Austausch mit meinen Kollegen und Kolleginnen erfahre ich, dass sie diese Beobachtung teilen. 

Mental Health ist heute so viel präsenter als noch zu unserer Jugend. Sind die betroffenen Jugendlichen deshalb weniger schambelastet, wenn sie zu dir kommen?

Der erste Kontakt mit einem Psychotherapeuten ist eigentlich immer mit Aufregung verbunden. Mein Eindruck ist daher eher, dass die Jugendlichen unsicher sind, was sie sagen sollen oder dürfen. Selten habe ich das Gefühl, dass sich ein Jugendlicher vor mir dafür schämt, dass er sich psychotherapeutische Hilfe holt. Auch innerhalb der Peergroup erscheint es mir so, dass es weniger schambesetzt ist über die eigene Psychotherapie zu sprechen. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen.

Ein Fall in deinem Buch dreht sich auch um Onlinesucht. Inwieweit hat das Internet und Social Media negative Auswirkungen auf die Kids?

Die Nutzung des Internets, insbesondere von Social Media, hat natürlich einen Einfluss auf unsere Jugendlichen. Verbringen diese viel Zeit am PC, Tablet oder Handy, steht weniger Zeit für das Treffen von Freunden, dem Ausüben von Hobbys oder auch für Hausaufgaben zur Verfügung. Auch das Aushalten von Langeweile oder anderen unangenehmen Gefühlen kann mit einem Blick aufs Handy leicht umgangen werden.

Über soziale Vergleiche mit anderen Accounts, die nicht selten Filter verwenden oder vielleicht nicht die Realität abbilden, können unrealistische Schönheitsideale und Ansprüche entstehen. Zudem wurde nachgewiesen, dass häufiger Medienkonsum das Schlafverhalten ungünstig beeinflusst. Es gibt immer mehr Studien, die vermuten lassen, dass eine übermäßige Nutzung dieser Medien mit Depressionen in Verbindung stehen. Dabei ist aber nicht klar, ob Menschen durch den Konsum depressiv werden oder Menschen mit depressiver Veranlagung vermehrt online sind. Trotz dieser Risiken birgt die Internutzung auch viele Chancen. Daher ist nicht die Frage, ob, sondern wie eine angemessene Nutzung aussehen kann. 

Wie geht es den Eltern der Jugendlichen, die zu dir kommen?

Ich würde sagen, dass sich die Eltern gerade zu Beginn der Behandlung häufig schuldig fühlen, dass ihr Kind psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen muss. Dazu muss ich kurz erwähnen, dass bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen Bezugspersonenstunden beantragt werden können, in denen die Eltern beraten werden. In der Bezugspersonenarbeit geht es nicht darum einen Schuldigen zu suchen, sondern gemeinsam ein Verständnis zu entwickeln, warum sich welche Verhaltensweisen heute so darstellen. Ich unterstelle allen Eltern, dass sie nur das Beste für ihre Kinder wollen und dementsprechend handeln. Sobald sich die Eltern verstanden fühlen, relativiert sich häufig das Gefühl von Schuld.

Was kann ich als Eltern tun, wenn ich an mein Kind nicht mehr rankomme und mit der Situation überfordert bin?

Auch wenn viele Jugendliche es nicht zeigen, brauchen sie dennoch die elterliche Präsenz in Form von Verständnis, Unterstützung und Sicherheit. Dabei ist es wichtig, seinem Kind gegenüber echtes Interesse zu zeigen. Eltern sollten Gesprächsangebote machen ohne Druck aufzubauen. Dies kann dadurch gelingen, dass sie versuchen, mögliche Ablehnungen nicht persönlich zu nehmen.

So könnten sie beispielsweise fragen, wem ihr Jugendlicher auf TikTok folgt, welches Spiel er oder sie gerade am liebsten zockt oder welche Streamer gerade angesagt sind. Wenn Kontaktangebote seitens der Jugendlichen gemacht werden, sollten Eltern versuchen ganz im Moment zu sein und das Alltagsgeschäft dafür liegen zu lassen. Wenn das gerade gar nicht geht, eventuell auch deshalb, weil man selbst gerade gestresst ist, darf dies auch mitgeteilt werden: „Ich möchte so gut wie es geht für dich da sein. Ich brauche einen kurzen Moment um meine eigenen Gefühle zu sortieren, dann bin ich aber voll und ganz für dich da.“

Und wenn dann ein Gespräch geführt wird, kommt es auf das richtige Zuhören an. Die Jugendlichen wollen häufig keine Lösungsvorschläge, sondern sich in ihren Emotionen verstanden fühlen. Dabei sollten Eltern versuchen, das Gefühl ihres Kindes gemeinsam mit ihm auszuhalten. 

Ebenso können gemeinsame Aktivitäten, ganz ohne den Alltagsstress, wieder eine gemeinsame Basis schaffen. Auch dabei dürfen gerne die Interessen des Jugendlichen im Vordergrund stehen. 

Sicherheit und Orientierung erhalten die Jugendlichen über verlässliche Regeln und klare Grenzsetzungen. Dabei geht es nicht darum über den Kopf der Jugendlichen hinweg zu entscheiden, sondern gemeinsam angemessene Regeln zu finden. Werden diese übertreten, sollte es keine Strafen geben. In einem Gespräch kann dann im Anschluss besprochen werden, warum die Regel nicht eingehalten werden konnte. Gegebenenfalls dürfen die Regeln dann auch angepasst werden.

Manchmal ist es aber auch leider so, dass gerade keine Kommunikation zwischen Eltern und Jugendlichen möglich ist. In diesem Fall kann es sinnvoll sein auf andere Bezugsperson zurückzugreifen. Das können Großeltern, Paten, Lehrer oder auch Psychotherapeuten sein. Es kann sehr hilfreich sein, wenn jemand von außen mal draufschaut und zuhört. Die Empfehlung der externen Hilfesuche gilt natürlich für Jugendliche und Eltern gleichermaßen.

Welchen Satz/welche Sätze sollten Eltern möglichst nicht sagen, wenn ihr Kind psychisch belastet ist?

Generell rate ich von Aussagen ab, bei denen die Gefühle des Gegenübers in Frage gestellt werden. Gefühle sind für den Empfindenden immer echt. Häufig sollen Sätze, wie „Es ist doch alles gar nicht so schlimm!“ oder „Anderen geht es noch schlechter als dir“ trösten. Dennoch bewirken sie meist das Gegenteil und Betroffene fühlen sich unverstanden oder sie bekommen sogar das Gefühl, dass sie etwas falsch machen würden. Hilfreicher ist es, wenn Eltern versuchen zu verstehen und zu zuhören.

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