Pflegende Mama: Mein Sohn lebt nicht bei mir, trotzdem bleibe ich immer Mutter

Pflegende Mama

Ihr Lieben, auf Instagram bin ich auf Nina (@nijalu_1982) gestoßen, sie ist eine pflegende Mama und hat einen sehr berührenden Post dort abgesetzt. Sie schrieb: „Ich bin eine pflegende Mutter, auch wenn mein Sohn nicht bei mir wohnt. Auch wenn unser Alltag anders aussieht, als ihr euch „Familie“ vielleicht vorstellt. Luis lebt in einer Wohngruppe, aber das bedeutet nicht, dass ich losgelassen habe. Im Gegenteil. Ich bin da – im Krankenhaus, in der Reha, im Kinderhospiz, zu allen wichtigen Anlässen.

Ich bin bei Arztgesprächen und immer erreichbar bei Notfallen. Ich bin bei ihm, wenn er nach Hause kommt und auch, wenn ich ihn wieder zurückbringe. Ich kenne jedes Medikament, jede Reaktion, seine Mimik, jeden noch so kleinen epileptischen Anfall. Jede Sorge, die zwischen zwei Atemzügen liegt. Ich organisiere, begleite, entscheide, LIEBE. Manchmal im Hintergrund. Manchmal im vollen Licht. Manchmal mühsam, manchmal mit vollem Engagement. Oft bin ich auch froh, dass mir die Wohngruppe auch in diesem Bereich so viel abnimmt.

Es ist kein klassisches Mutterbild, wie viele es sich vorstellen würden. Aber es ist unseres. Und ich bin stolz. Stolz, Mama von zwei wundervollen Kindern zu sein, die beide einen ganz individuellen Weg gehen.“

Wir wollten unbedingt mehr über diese Familie erfahren und haben Nina gefragt, ob sie Lust hat, ein paar Fragen zu beantworten. Glücklicherweise hatte sie Lust und deshalb dürfen wie sie euch heute hier vorstellen.

Liebe Nina, sag erstmal, wer alles zu eurer Familie gehört. 

Wir sind zu dritt. Da bin ich – Mama Nina (43), mein Erstgeborener Jakob (15) und sein Bruder Luis (14). Vom Vater der Kinder habe ich mich getrennt, bevor Luis „krank wurde“.

Dein kleinerer Sohn Luis hatte im Alter von neun Monaten das erste Mal einen epileptischen Anfall – bis dahin schien er ganz gesund zu sein. Wie lange hat es dann noch gedauert, bis ihr endgültig wusstet, was er hat?

Bis zur endgültigen Diagnose dauerte es knapp 6 Jahre. Es ist ein sehr seltener Gendefekt, weltweit gibt es nur wenige Fälle.

Wie genau lautet die Diagnose und welche Prognosen stellten die Ärzte damals?

Luis Diagnose lautet CDG-PIGA, das ist eine seltene genetische Erkrankung. Nach vielen ungewissen Wochen in der Uniklinik sagte man uns, dass Luis nie wieder ganz gesund werden und sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird. Zu diesem Zeitpunkt war er ein Jahr alt.

Wie schon gesagt, haben wie die endgültige Diagnose erst bekommen, als Luis sechs Jahre alt war. Damals sagten die Ärzte, dass viele betroffene Kinder bereits vor dem 3. Lebensjahr versterben, Luis hatte sich für seine Diagnose gut entwickelt. Leider ist bei ihm die Epilepsie sehr stark ausgeprägt, diese Anfallserien werden mir wohl für immer die großen Sorgen bereiten.

Was für ein Mensch ist euer Luis – was mag er, was kann er gut?

Luis ist – wie sein großer Bruder auch – ein ganz wundervoller Mensch, der die Menschen, die sich den Moment nehmen, ihn kennenzulernen direkt in seinen Bann zieht. Und das ganz ohne Worte, denn Luis ist nonverbal. Luis ist ein Meister der Verbiegung. So schläft er schon gerne mal im Schneidersitz vornüber geklappt.

Laufen mit Hilfe seines Retrowalkers macht ihm viel Spaß. Im Rollstuhl wird er geschoben und er nutzt ihn natürlich auch, wenn ihm Essen und Trinken angereicht wird. So bekommt Luis in allen Lebenslagen liebevolle Unterstützung, die er mit Pflegegrad 5 auch braucht. Mit Menschen, die er gut kennt, kuschelt er auch gerne mal. Dass er das gerade möchte, zeigt er ganz deutlich, indem er die Arme ausstreckt. Augenkontakt fällt ihm schwer, er nimmt aber sehr gezielt Taktik auf.

Wie geht dein älterer Sohn mit der Behinderung des kleineren Bruders um?

Jakob ist – das bringt der kurze Altersunterschied so mit sich – in die Situation hineingewachsen. Während er aber früher seelenruhig weiterspielen konnte, wenn sein Bruder daneben mit epileptischem Anfall versorgt wurde, steckt er das heute natürlich anders weg. Meist begleitet er ihn dann liebevoll durch den Anfall. Er ist da sehr routiniert.

Für Jakob ist es prinzipiell wichtig, an Luis Leben Teil zu haben und Bescheid zu wissen, was gerade los ist – ich habe immer versucht, ihn altersgerecht mit einzubeziehen. Als Luis‘ Umzug in die Wohngruppe anstand, war Jakob erst nicht einverstanden. Nachdem er aber gesehen und erlebt hat, wie gut es Luis dort gefällt, konnte er sich mit ihm freuen. Trotzdem fehlt Luis uns beiden nach wie vor, wenn er nicht hier ist. Den Begriff „Schattenkind“ mag mein Großer übrigens gar nicht. Er sagt, er hatte nie das Gefühl in irgendeinem Schatten zu stehen.

Du hast es je eben schon erwähnt: Luis lebt in einer Wohngruppe. Wann und warum hast du dich dafür entschieden?

Das war ein eher kurzfristiger Prozess. Durch Luis‘ Epilepsie und die vielen Anfälle in der Nacht musste ich ihn morgens oft in der Schule krank melden. Meist war er erst um 5 Uhr morgens eingeschlafen und ich konnte ihn keinesfalls um 6 Uhr wecken – oder die Nacht war für uns beide so anstrengend, dass wir niemals um 7 (wenn der Fahrdienst für Luis vor der Tür steht) hätten fertig sein können. Da ich selbst nicht mobil bin, fiel die Option, ihn später in die Schule zu bringen weg. Auf diese Weise verpasste Luis nicht nur viel Schulzeiten, sondern auch alle Therapien, die für ihn vor Ort stattfinden. Das hat ihn sichtlich in der Entwicklung gebremst.

Ende der 3. Klasse haben wir uns dann mit der Schule zusammengesetzt um über eine Lösung zu sprechen. Schnell kam die Idee auf, in der zur Schule gehörenden Wohngruppe das Internatswohnen auszuprobieren. Klar war, dass wir sofort umdenken, wenn es Luis nicht gut dort geht.

So war Luis zunächst unter der Woche 5 Tage in seiner Wohngruppe und am Wochenende sowie in den Ferien zu Hause. Er fühlte sich von Anfang an sehr wohl und freute sich nach dem Wochenende auch immer darauf, wieder in seine WG zurück zu fahren.

Nach etwa einem Jahr reifte dann der Entschluss, ins Ganzjahreswohnen zu wechseln, das heißt, dass Luis heute die Wochenenden und Ferien abwechselnd zu Hause und in der Einrichtung verbringt. Dabei muss man sagen, dass er gerade schulfreie Tage in der Wohngruppe sehr genießt, weil er ausschlafen kann, die Tage etwas stressfreier sind und gerade in den Ferien auch mal besonderes Programm geboten wird.

Du hast einen sehr berührenden Instagram-Post veröffentlicht. Bitte erzähl uns nochmal von diesem Post.

Nun, zu diesem Post kam es, als eine Mutter aus meiner Instagram-Bubble öffentlich vom Umzug ihres schwerbehinderten Sohnes in eine Wohngruppe berichtete. Ich habe das nicht nur explizit verfolgt, sondern war im Vorhinein auch mit ihr in Kontakt. Pflegende Eltern, die von dieser Konstellation öffentlich berichten, gibt es nicht so viele, dabei ist der Austausch gerade zu diesem Thema wichtig, denn man muss aufpassen, dass es nicht zum Tabu-Thema wird.

Die Außenansicht auf das Thema kann oft schwer sein, so habe ich vor allem die Erfahrung gemacht, dass gerade Menschen, die NICHT selbst pflegende Eltern sind, kritisch urteilen. Das ist schwer, ich möchte aber sagen, dass ich mich immer über Menschen freue, die offen und interessiert sind (Alles andere stünde auch im Widerspruch zu meinem Instagram-Kanal, der zwar „privat“ ist, aber fast 600 Follower hat.)

Als die Entscheidung fürs Internat fiel, hat der Großteil meines Umfeldes ganz toll reagiert. Irritierend war jedoch die Aussage einer langjährigen Freundin, die sagte „Ein Kind gehört in seine Familie.“ Dies widerspricht für mich dem Gedanken, dass man als Mutter eigentlich immer nur das Beste für sei Kind will. Und dazu gehört auf jeden Fall, dass das Kind gut aufwachsen kann, gefördert wird und sich wohl fühlt – aber auch (und das ist im Fall pflegender Elternschaft nicht zu unterschätzen), dass das Kind mental gesunde Eltern hat. Diese Freundin hat ihre Aussage übrigens mittlerweile zurückgenommen, auch dank meiner Art, offen über unser Leben zu sprechen.  

Mir war also wichtig, mit meinem Post nochmal klar zu machen, dass wir für immer Eltern bleiben, auch wenn das Kind in einer Wohngruppe lebt.

Du bist eine pflegende Mama – was sind für dich die Sachen, die am schwersten für dich sind. 

Luis‘ Epilepsie ist unberechenbar. Immer in Sorge und auf Abruf zu sein, ist das Schwerste. Wenn die Wohngruppe anruft, ist der erste Satz „Keine Sorge, mit Luis ist alles in Ordnung…“, weil sie wissen, dass ich immer in Sorge bin.

Als die Kinder klein waren, waren Situationen, in denen wir auf die Schnelle wegen eines Notfalls in die Klinik mussten, immer am schlimmsten. Denn da ist einfach noch ein zweites Kind. Oft musste Jakob erstmal mit dem Krankenwagen mitfahren und ich musste im Krankenhaus dann planen, wer ihn abholen und betreuen kann. Das war bestimmt auch für Jakob nicht einfach. 

Die vielen Anträge, Widersprüche, der ganze Papierkram und da auch irgendwie den Überblick nicht zu verlieren, das ist echt auch nicht zu unterschätzen.

Bevor Luis in die Wohngruppe kam, wurde uns kein nächtlicher Pflegedienst genehmigt. Die Begründung war, dass ich als Mutter ja da bin. Da Luis auch nachts lebensbedrohliche Anfälle hat, werden die Vitalwerte mit einem Pulsoximeter überwacht. Schwer vorstellbar, aber die 10 Jahre, bis Luis in die Wohngruppe umgezogen ist, habe ich keine Nacht durchgeschlafen. Der Schlafmangel hat mir am meisten zu schaffen gemacht und wohl auch die größten Spuren hinterlassen. 

Was wünschst du dir für deine Familie?

Mehr Unterstützung, Verständnis und finanzielle Hilfen. In Bezug auf Luis‘ lebensverkürzende Erkrankung ganz viele innige gemeinsame Momente. Viel zusammen lachen. Entscheidend ist nicht die Anzahl der gemeinsamen Stunden, sondern wie man sie verbringt. 

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2 comments

  1. Kein Mensch, der nicht selbst die Erfahrung machen musste, kann sich vorstellen wie belastend es ist ein Kind mit epileptischen Anfällen zu haben.

    Und als nicht pflegende Angehörige zu sagen, wie man sein Familenleben zu organisieren hat ist eine Unverschämtheit. Euer Kind ist ja „in der Familie geblieben“ um in dem Blid zu bleiben,

    Ich finde es toll, dass Ihr eine Lösung gefunden habt, die Euch allen gerecht wird. Pflegeplätze sind mehr als rar und umso wichtiger darüber zu sprechen, dass Familien entlastet werden müssen!

  2. Vielen lieben Dank, dass du so einen guten Einblick in deine Familiensituation gegeben hast.
    Du bist eine tolle Mutter, du denkst an das Wohl deiner Kinder und nicht, was andere von dir denken..
    Danke für deine Offenheit. Alles Gute für euch drei

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