Ihr Lieben, immer wieder stellen wir hier Familien vor, deren Kinder extrem seltene Krankheiten haben. Uns berührt dabei immer sehr, wie mutig und tapfer die Familien diese Herausforderungen annehmen. Heute erzählt uns Julia von ihrer Tochter Theresa. Vielen Dank für dein Vertrauen.
Liebe Julia, heute geht es um deine Tochter, die eine interstitielle Deletion am 18. Chromosom hat. Was genau ist das?
Theresa hat ein „Fehlstück“ an einem Chromosom. Ein Chromosom hat in der Regel zwei Arme, an einem Arm fehlt mittendrin ein Stück. Genau übersetzt heißt es: Zerstörung eines inneren Anteils eines Chromosoms. Die Stelle, wo das Stück fehlt, bestimmt die Behinderung. Bei ihr heißt der Gendefekt 18q12.1q21.1. Da er so selten ist, hat er keinen Namen, sondern wird nur nach der Bruchstelle am 18. Chromosom benannt. In der Humangenetik wurde uns nur EIN weiterer Fall in Deutschland mitgeteilt.
Wie macht sich das Fehlstück bei deiner Tochter bemerkbar?
Theresa ist in ihrer gesamten Entwicklung verzögert, man spricht von einer globalen Entwicklungsstörung. Das bedeutet, dass sie in allen Bereichen ihrem Alter weit hinterherhinkt, motorisch und kognitiv.
Sie ist muskulär hypoton, sie hat einen reduzierten Muskeltonus. Ihr fällt es schwer, selbstständig Dinge zu tun. Sie läuft wackelig, ist taktil sehr unsicher, grobmotorisch und hat eine Ataxie in den Händen. (Ataxie: Störung der Bewegung). Sie kann keine Stufen selbstständig gehen, lange laufen ist nicht möglich, beim Essen, anziehen und ausziehen braucht sie auch Unterstützung. Sie ist mit 6 Jahren noch inkontinent.
Sie spricht nur in einem ihr geschütztem Rahmen, aber auch dann nicht „normal“. Sie lässt zu 99% die Anlaute der Wörter weg, dadurch versteht sie natürlich nicht jeder.
Hinzu kommt eine Epilepsie. Diese ist leider Medikamenten refraktär, das heißt, es kann medikamentös keine vollständige Anfallsfreiheit hergestellt werden. Im Grunde bedarf es einer Rund-um-die-Uhr-Unterstützung. Es ist ein Vollzeitjob sie zu pflegen. Sie hat Pflegegrad 3 und einen SBA 80.
Wann ist euch das erste Mal aufgefallen, dass bei eurer Tochter etwas anders ist?
Ich habe schon früh gemerkt, dass sie anders ist als ihre Schwester. Sie war ein sehr ruhiges Baby, hat kaum geschrien, sich kaum bewegt und war immer zufrieden, wenn sie schlafen konnte. Im Nachhinein natürlich total klar, denn die muskuläre Hypotonie lässt jede noch so kleine Bewegung wahnsinnig anstrengend sein. Das fühlt sich an wie ein Marathon für ein kleines Baby oder Kleinkind.
Mit 6 Monaten sagte der Kinderarzt, ich solle abwarten, denn jedes Kind habe sein Tempo. Dem stimme ich total zu, aber ich habe trotzdem deutlich gespürt, dass unsere Tochter nicht einfach nur langsam ist. Beim Abhorchen hörte der Arzt dann zufällig ein Herzgeräusch, was von einem Kinderkardiologen abgeklärt werden sollte. Diese Ärztin brachte den Stein der Untersuchungen und Förderung von Theresa ins Rollen. Bei ihr sind wir geblieben und werden dort unterstützt.
Nun ist diese Deletion sehr, sehr selten. Wie lange hat es gedauert, bis ihr eine Diagnose bekommen habt?
Begonnen hat unsere Reise mit vielen Therapien und Frühforderungen. Wir waren viel in Kliniken und im sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Theresa wurde auf den Kopf gestellt und alles wurde getestet, aber es wurden keine Anhaltspunkte gefunden, warum sie eine Entwicklungsstörung hat.
Mit zwei Jahren wurde sie dann humangenetisch im Uiversitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE) untersucht, das brachte dann die Diagnose. Die Diagnose war hilfreich für mich, denn endlich hatte das alles einen Namen und es war greifbarer.
Welche Prognose geben die Ärzte, wie sich eure Tochter entwickeln wird?
Die Prognose bei dem Gendefekt ist in der Fachliteratur sehr weitläufig umschrieben. Die klinischen Aspekte gehen von Lernschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, gelegentlicher Kleinwuchs, Strabismus (Schielen), fasziale Auffälligkeiten, Muskelhypotonie, Beeinträchtigung der Feinmotorik bis hin zu einer Sprachentwicklungsverzögerung.
Uns wurde ganz klar kommuniziert, dass ihre gesamte Entwicklung völlig offen ist und keiner eine zuverlässige Prognose abgeben kann. Es war damals nicht klar, ob sie jemals laufen oder sprechen kann.
Aber eure Tochter ist eine echte Kämpferin!
Ja, Theresa hat alle eines Besseren belehrt. Sie ist mit drei Jahren in den Kindergarten gekommen, es ist ein Regelkindergarten mit Integrations-Kindern in allen Gruppen. Sie hat dort eine 1-zu-1-Betreuung.
Kurz nach dem Kitastart lief sie ihre ersten Schritte, sie fing an ihre Umgebung zu erkunden. Immer mutiger und mit viel Spaß ging sie in den Kindergarten. Es war toll in den Entwicklungsgesprächen zu hören, dass sie alle Erwartungen des Fachpersonals dort weit übertroffen hat.
Sie entwickelt sich immer weiter – in ihrem Tempo. Es gibt keinen Stillstand und das ist Gold wert. Inzwischen ist sie ein Vorschulkind in der Kita und nimmt mit den anderen Kindern am Vorschulunterricht teil. Natürlich mit ihren Möglichkeiten, aber sie zu 100 % dabei. Wie sie später leben kann, ob in einer WG oder bei uns – das kann heute keiner sagen. Alles kann, nichts muss.
Ihr habt ja noch eine ältere Tochter – wie ist das Verhältnis der Geschwister?
Unsere große Tochter Charlotte ist zwei Jahre älter (heute 9). Von Anfang an war eine sehr enge Bindung zwischen den Beiden. Sie steht wirklich immer für ihre Schwester ein, verteidigt sie, wenn es sein muss und findet es völlig normal, eine Schwester mit Behinderung zu haben.
Sie nimmt die Behinderung tatsächlich gar nicht so wahr. Wie sagt sie immer so schön: ,,Jeder ist anders.“ Natürlich bekommt sie von anderen Kindern auch mal einen Kommentar über ihre Schwester mit, z.B. „Warum spricht deine Schwester immer noch nicht? Die ist ja voll behindert.“ Aber Charlotte ist dann relativ schlagfertig, dennoch macht es sie auch traurig, dass andere Kinder so abwertend über Theresa reden.
Theresa ist sehr körperlich und sucht die Nähe von Charlotte, Umarmungen und Küsschen sind hier an der Tagesordnung. Den normalen Geschwisterzoff um Spielzeug oder Essen gibt es hier selbstverständlich auch. Im Grunde ist es ein Verhältnis, wie es unter Geschwistern sein sollte.
Habt ihr manchmal das Gefühl, dass die Große sehr zurückstecken muss?
Definitiv ja. Wenn Theresa Unterstützung braucht, muss die Große warten. Sie ist mit ihren neun Jahren sehr selbstständig. Ich denke, als Folge davon, dass Theresa viel Zeit benötigt.
Nichts desto trotz bekommt auch Charlotte ihre exklusive Zeit mit Mama oder Papa. Sie hat Freizeitaktivitäten und Verabredungen mit Freunden. Wir versuchen die Balance hinzubekommen. Ob es uns immer gelingt weiß ich nicht. Wir geben einfach unser Bestes für beide Kinder.
Was gibt dir Kraft, wenn die Zeiten sehr anstrengend werden?
Das ist eine gute Frage, auf die ich keine pauschale Antwort finde. Sicherlich tut mir Sport sehr gut. Ich versuche 3x die Woche zum Sport zu gehen (also vor Corona). Das macht total was mit mir, Sport ist befreiend und ich denke an nichts währenddessen.
Letztes Jahr hat mein Mann mich in den Urlaub geschickt. Ein paar Tage Dubai mit meiner Freundin. Das wiederholen wir definitiv. Ich war so erholt und ausgeglichen danach. Alle Akkus waren wieder voll.
In Momenten, in denen ich mit meiner Kraft körperlich und mental am Ende bin, habe ich dann auch mal einen kleinen Zusammenbruch. Dazu braucht es gar keinen speziellen Auslöser. Er kommt einfach so, ich lasse es raus, weine wie ein Schlosshund. Zum Glück ist mein Mann dann da und fängt mich auf.
Und der Austausch mit einer Freundin, deren Tochter einen anderen Gendefekt, hat zeigt mir, dass ich nicht alleine bin mit den Problemen. Wir haben die gleichen Sorgen, kämpfen beide für unsere Kinder und für das was ihnen zusteht. (Das ist leider nicht selbstverständlich das KK Hilfsmittel und Therapien die uns den Alltag erleichtern würden genehmigt werden).
Was wünscht du dir für deine Tochter?
Das ist einfach. Sie soll glücklich sein, dann bin ich es auch. Und ab Sommer 21 soll sie ein fröhliches Schulkind sein.
Ich wünsche mir Akzeptanz und eine wirkliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Nächstes Jahr plant Jens Spahn die Verhinderungspflege zu kürzen, was für pflegende Angehörige häufig die einzige Entlastung ist. Wir werden einfach nicht gehört. Es gibt keine Lobby für Menschen mit Behinderungen.
Gesundheitlich wünsche ich mir, dass wir die Epilepsie von Theresa in den Griff bekommen.
5 comments
Hallo Julia, ich heiße auch Julia. Mein Sohn kommt 2021 auch zur Schule. Er hat eine Mikrodeletion 20p13. Es hört sich alles ähnlich an. Er hat keine Epilepsie. Er kommt auf eine Förderschule für geistige Entwicklung. Er ist 6,5 wenn er zur Schule geht. Momentan macht er viele Entwicklungssprünge. Mit der Sprache hat er am meisten Probleme. Mich hat euer Artikel sehr berührt. Ich wünsche euch als Familie alles Gute. Herzliche Grüße Julia
Meine Tochter hat ebenfalls eine globale Entwicklungsverzögerung- mit nur ganz milden Auswirkungen, wir haben es genetisch auch nie diagnostistizieren lassen.
Und trotzdem weiß ich (wenn vielleicht lediglich ansatzweise), wieviel mehr Kraft mein Kind kostet als „normal gesunde“ Kinder, wie viel Stärke man als Eltern braucht, um mit Mut, Akzeptanz von Ungewissheiten, Milde und Geduld mit den vielen Baustelle umzugehen. Die Therapien, die vielen Arztbesuche. Und die Frage nach dem Warum?
Das Leben so zu nehmen, wie es ist- auch wenn es ganz anders kommt. Die Melodie des Lebens aufzugreifen.
Ich bewundere alle Eltern mit pflegeintensiven Kindern. Das ist eine Leistung, die meinen höchsten Respekt verdient.
Liebe Julia, auch wir haben ein Kind mit einem sehr seltenen Gendefekt, einer Mikrodeletion, und unklarer Prognose. Ich finde diese Ungewissheit schwer zu ertragen, auch wenn sich unser Kind bisher gut entwickelt und die Mikrodeletion bis jetzt nur milde Auswirkungen hat. Ich wünsche Euch von Herzen alles Gute und viel Kraft und endlich echte Unterstützung von Gesellschaft und Politik. Theresa wünsche ich, dass sie sehr glücklich wird. Nur darauf kommt es an, und es gibt ganz viele Arten des Glücks.
Alles Liebe für Euch!
Vielen Dank für diesen berührenden Artikel, ich erkenne Vieles wieder. Auch wir haben eine Tochter mit einer sehr seltenen und bislang wenig erforschten Mikrodeletion und die Symptomkrankheiten ähneln sehr denen von Theresa, insbesondere auch die Pharmakoresistente Epilepsie. Habt Ihr schon eine ketogene Diät in Erwägung gezogen oder gar ausprobiert? Wir konnten damit bei unserer Tochter eine Anfallsfreiheit erreichen. Vielleicht ist das auch etwas für Euch? Viele Grüße und Euch alles Gute! 🍀
Hallo Julia,
Ich schicke euch ein großes Kraftpaket zu! Danke, dass du eure Geschichte teilst.
Auch wir haben ein Kind mit einem Genfehler (Mikroduplikation 22q11. 21)mit unklarer Prognose, da die Varianz so unheimlich groß ist. Momentan stört uns die fehlende Perspektive nicht. Wir haben über die letzten Jahre gelernt, am besten nur im heute und morgen zu leben und sich nicht zu fragen, was in zehn Jahren sein könnte.
Alles Gute für euch!
Stiefelkind