Ihr Lieben, wir haben ja schon oft über ADHS im Kindesalter berichtet, aber dieser refelektierte Blick von Ursula Frühe über das Leben mit dem Neuronengewitter ihres ältesten Sohnes, der mittlerweile erwachsen und eigenständig ist, hat uns total geflasht.
Bitte nehmt euch die Zeit, dieser Mama zuzuhören. Was sie durchgemacht und wie sie das bewältigt hat. Was für eine Geschichte mit Klinik, Abrutschen und dann doch wieder Fangen durch Sport und Schauspiel und Menschen, die nie aufhörten, an dieses besondere Kind zu glauben.
Liebe Frau Frühe, Sie haben drei Kinder, eines davon wurde später mit ADHS diagnostiziert, fiel Ihnen von Anfang an auf, dass bei diesem Kind etwas anders war – und wenn ja, was?
Unser erstes Kind hatte von Geburt an eine signifikante motorische Entwicklungsverzögerung, so lernte es z.B. erst mit 22 Monaten das Laufen, auch die Sprache kam stark zeitverzögert. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass es alle Umweltreize mit unglaublich wachen Augen und hoher Sensibilität aufnimmt, aber (noch) nicht entsprechend verarbeiten kann.
Es hatte im ersten Lebensjahr große Hautirritationen, Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme und war sehr schreckhaft. Nun sind das alles eher unspezifische Dinge, die nicht zwangsläufig in eine spätere ADHS-Diagnose münden müssen, das legt man sich vielleicht auch retrospektiv so zurecht, dass es passt. Was ich rückblickend schon auffällig finde, ist die hohe Empfindsamkeit für alle Arten von Sinnesreizen, das betrifft auch Geräusche, Berührungen, Gerüche, was wiederum zur typischen Reizüberflutung passt. Alles wird intensiver wahrgenommen und empfunden.
Deshalb, das möchte ich gleich zu Beginn sagen, passt das Wort Aufmerksamkeitsdefizit auch gar nicht zu unseren Kindern. Sie sind mit einer anderen Art von Aufmerksamkeit ausgestattet, die heutzutage weniger gefragt ist und deshalb defizitär zu sein scheint. Unser dritter Sohn ist ebenfalls betroffen und da hat natürlich die Erfahrung geholfen: mir war schon vor dem Schuleintritt alles klar. Wobei die Kernsymptomatik sich sehr unterscheidet: war unser Großer der unaufmerksame und leicht ablenkbare Typ, hatte es der Kleine vor allem schwer durch seine ungebremsten Impulse und Emotionen.
Nehmen Sie uns doch mal mit in eine Situation, in der Sie dachten: Bis hier hin und nicht weiter. Ich mach das nicht mehr mit…
„Bis hierher und nicht weiter?“…das kam vor allem im Urlaub vor, wenn das Kind noch schlechter schlief als daheim, weglief, das Essen verweigerte, sich in Gefahr brachte, weil es allein zum Strand abhaute und man jede Sekunde aufpassen musste. Der Klassiker: ich war selbst erschöpft und erholungsbedürftig und freute mich auf eine Auszeit. Eigentlich hätte Papa jetzt auch Zeit, aber das Kind klebte an mir.
Ich habe Jahre gebraucht, um zu kapieren, dass genau das, was ich schön finde im Urlaub, nämlich eine komplett andere Umgebung, eine krasse Herausforderung für die Kinder ist, die unglaublich stark abhängig sind von Routinen und Strukturen. Was ich erholsam finde, ist für sie Stress: Alles ist anders als daheim. Sie wollen nicht in die Kinderbetreuung, kein Wunder. Aber damals brachten diese unterschiedlichen Bedürfnisse uns natürlich an den Rand.
Viel später in der Entwicklung kam eine ganz andere Thematik auf, die neue Brisanz erhalten hat durch ein in meinen Augen komplett verfehltes Gesetz: ich sehe absolut „rot“ beim Thema Kiffen, da ist bei mir zero tolerance. Ich habe ganz viel Verständnis für den Wunsch nach „endlich mal Ruhe im Kopf“, aber mit diesem, für vulnerable Gehirne wahnsinnig gefährlichen, Stoff: Nein danke! Das mach´ ich nicht mit!
Haben Sie auch an sich selbst und an Ihren Erziehungskünsten gezweifelt?
Zweifel an meiner Erziehungskompetenz war sozusagen der Normalzustand und die nagenden Fragen nach der „Schuld“, nach dem Auslöser der Schwierigkeiten des Kindes gegenüber seiner Umgebung werden ja auch weiterhin schön gesellschaftlich am Köcheln gehalten. Es wird einem noch oft genug von Außenstehenden unterschwellig suggeriert, dass das (Fehl-)Verhalten des Kindes eventuell doch das Resultat meiner Überforderung ist.
Das Komplizierte daran: ja, wir sind oft genug überfordert gewesen. Aber als Reaktion auf das Verhalten des Kindes, das es bereits mitgebracht hat auf diese Welt, nicht umgekehrt. Letztendlich waren es auch die Zweifel, denen ich versucht habe, produktiv auf den Grund zu gehen, durch das Schreiben. Sie waren indirekt also auch zu etwas gut…
Irgendwann kam dann Ihr „innerer Beinah-Zusammenbruch“, wie Sie. Wie äußerte sich dieser?
Der „Beinah-Zusammenbruch“ äußerte sich darin, dass ich manchmal morgens nicht wusste, wie ich einen neuen Tag überstehen sollte… in einer absoluten Kraftlosigkeit, die ein Schweregefühl im ganzen Körper auslöste. Dem Impuls, liegenzubleiben, konnte ich nur mit dem letzten Rest an Selbstdisziplin widerstehen.
Ich wollte mich am liebsten der Welt und diesem unfassbar anstrengenden Leben entziehen, die Verantwortung abgeben, mal nicht mehr da sein. Es war alles zu viel, auch das ganz normale Leben mit eigener Arbeit, dem ganzen Haushalt, Rechnungen bezahlen, Deadlines einhalten, jede Art von Anforderung fühlte sich zu viel an. Dazu gehörte eine typische Dünnhäutigkeit, Instabilität, viel Weinen, für andere grundlos. Reaktive Erschöpfungsdepression passt voll. Nichts macht mehr Spaß, bringt Freude oder Leichtigkeit.
Der Ausbruch sorgte dafür, dass Sie glasklar erkannten: „So geht es nicht mehr weiter! Wir haben noch zwei andere Kinder und ich habe selbst noch ein Leben.“ Wie ging es denn dann weiter mit dieser Erkenntnis?
Die wichtigste Erkenntnis war: ich brauche jetzt selbst Hilfe, die ist nicht nice to have, sondern elementar. Ich muss mich jetzt um mich kümmern, sonst bricht das ganze Familiensystem zusammen. Das Eine ist die Verpflichtung den anderen gegenüber, das Andere ist der schwerere Teil: ich darf mich auch um mich kümmern, weil ich nicht nur Mutter bin, sondern ein eigener Mensch bin, dem es gutgehen darf. Dazu gehörte die ganze Auseinandersetzung mit den alten Rollenbildern, wie ich sie im Buch beschreibe.
Das war viel Arbeit, die ich ohne professionelle Hilfe nicht hätte leisten können. Es ist auch eine Entscheidung zu sagen: das Muster der Selbstausbeutung kann nur ich selbst verändern. Dann ging es mit vielen winzig kleinen Schritten der Veränderung weiter, ein initialer Impuls war eine Mutter-Kind-Kur mit dem Jüngsten. Die war wunderbar (ich finde, diese Kuren haben zu Unrecht manchmal einen schlechten Ruf), kann aber in drei Wochen keine Wunder bewirken, sondern nur ein Aufruf sein, im Alltag dauerhaft mehr Selbstfürsorge einzubauen.
Ihr Sohn kam dann auch irgendwann stationär in die Klinik, was ging dem voraus?
Dem stationären Klinikaufenthalt ging voraus: selbstverletzendes Verhalten und auch verbal geäußerte Suizid-Gedanken. Außerdem ein aufrüttelndes Krisengespräch mit dem ambulant behandelnden Jugendpsychotherapeuten, der deutlich einen nötigen Strategie-Wechsel benannte. Unser Sohn wollte bis dahin nicht in eine Klinik und wir hatten den Wunsch natürlich respektiert. Sie können Ihr Kind nicht gegen seinen Willen in eine Klinik zerren, die Entscheidung, sich helfen lassen zu wollen, kommt allein aus ihm heraus. Das war das Schwerste: diese Ohnmacht auszuhalten.
In der Klinik verstand Ihr Sohn, dass ADHS zu ihm gehört, aber ihn nicht vollends ausmacht. Dass er mehr ist, als seine gelegentliche Unordnung im Kopf und dass ihn das nicht daran hindern muss, ein gutes Leben zu führen. Was lernte er noch?
Er lernte, dass das, was er als furchtbare Einsamkeit erfahren hatte, ein Da-sein als Außenseiter, ihn auch gleichzeitig stark macht. Einzigartig sowieso. Dass sein spezielles mindset mit der hohen Empfindsamkeit ihn zu einem grandiosen Beobachter der Welt und anderer Menschen macht, der das Leben intensiver wahrnimmt. Das ist anstrengender, aber nicht schlechter. Er lernte, sich nicht mehr mit anderen zu vergleichen.
Er lernte, dass er es sehr wohl selbst in der Hand hat, Zugriff auf sein in Teilen geniales Gehirn zu haben: was schadet mir? Welche Lebensgewohnheiten triggern mich in die ungute Richtung, welche tun mir gut? Er lernte Selbstfürsorge und Autonomie. Er lernte Vertrauen in sich selbst, weil er zum ersten Mal erfuhr, dass er sich sehr wohl auf seine Hirnfunktionen verlassen kann. Und natürlich auch das, was wir alle mehr oder weniger mühsam lernen: Selbstakzeptanz! Ich habe „nur“ diesen einen Körper, dieses eine Gehirn, damit muss ich in diesem Leben klarkommen und es ist schöner, das im Frieden mit sich zu tun.
Ihr Sohn hatte auch große Unterstützung von einem empathischen Freund und zwei Lehrkräften, Sie trauten ihm ein Comeback in die Schule zu. Erzählen Sie mal.
Man darf nicht vergessen, dass die juvenile Krise zusammenfiel mit der Pandemie, bzw. dass sie in ihrer Schwere überhaupt erst ausgelöst wurde durch die häusliche Isolation und den Wegfall aller erlernten Kompensationen. Das Problem wurde nicht die ursprüngliche ADHS, sondern die komorbiden Symptome, die sich „draufgesetzt“ hatten, wie Depression. Es gab damals keinen face to face-Kontakt mit den Lehrern. Als klar war, dass an Schule nicht mehr zu denken und ein cut nötig ist, war ja alles offen: niemand wusste, ob Lukas sich je entscheiden würde, nach einer Auszeit zurückzukehren, nochmal ein Jahr zu wiederholen, einen neuen Anlauf zu wagen Richtung Abitur.
Auch nach dem Lockdown hat sich der Beratungslehrer, mit dem Leiter im Hintergrund, mehrfach bei uns gemeldet, immer mit respektvoller Anfrage, ob das erwünscht ist. Das heißt, der Kontakt und das Band zur Schule rissen nie ab und das hat enorm geholfen, den Schritt zurück zu wagen. Außerdem kam von ihnen klar die Botschaft: wir trauen dir das zu, wir halten dich für einen klugen Burschen, wir glauben, dass du das kannst. Das ist etwas völlig anderes, als wenn die eigenen Eltern das sagen.
Diese Aussage hat Gewicht. Es klingt pathetisch, ist aber so: sie haben an ihn geglaubt. Und ihn das persönlich spüren lassen. Wir Eltern haben sowieso nie daran gezweifelt, dass unser Sohn hochintelligent ist (siehe seine wachen Äuglein als Baby:), haben aber darunter fast so gelitten wie er, dass sein ZUGRIFF auf seine intellektuelle Kapazität ihm selbst so schwerfiel. Da ist nach der Krise ein Knopf aufgegangen. Die Reife kam, zeitlich verzögert. Das ist ein Muster, das sich durch die gesamte Entwicklung zog.
Sport und Theater waren entscheidende Gamechanger im Leben Ihres Sohnes, richtig?
Ich glaube durch unsere persönliche Erfahrung, dass Sport, insgesamt viel körperliche Bewegung und auch die Schulung der Körpereigenwahrnehmung ganz wichtige Bestandteile der Therapie sind. Sie können eine Medikation nicht ersetzen, sind aber selbst fast wie eine zusätzliche Medikation. Dass Sport antidepressiv wirkt, ist kein Geheimnis und wird längst therapeutisch genutzt. Es gibt den Begriff des „runners´ high“, also die Ausschüttung körpereigener Endorphine beim/nach dem Laufen.
Ich glaube, im Gehirn reguliert sich durch körperliches Ausagieren, Schwitzen, Sich-Spüren, Atemvertiefung ganz viel an „emotionalen Dysbalancen“, man steht danach anders auf dem Boden, spürt seine Aufrichtung, seine eigene Kraft, bekommt mehr Zutrauen in seinen Körper, schläft besser nach körperlicher Arbeit.
Das, was eigentlich für alle Menschen essenziell ist, ist für ADHS´ler mit ihrem empfindsamen Nervenkostüm nochmal dringender, vor allem: die Regelmäßigkeit des Trainings. Das Gefühl, in seinem Körper ein gutes Zuhause zu haben, kann manch eine Missstimmung abmildern. Und Sport, ganz wichtig, kann die leider vorhandene Affinität zu Suchtmitteln als Ventil abfedern.
Man sieht bei betroffenen Leistungssportlern, wie gerade ihre ADHS sie zu Ausnahmeathleten machen kann, durch ihre Fähigkeit zum Hyperfokus, alles andere auszublenden (Olympia-Siegerin Simone Biles u.a.). Aufpassen muss man, wenn die Struktur und das Ausagieren durch den Sport wegfallen, z.B. durch Verletzungen oder Infekte. Und sie müssen lernen, rücksichtsvoll mit ihrem Körper umzugehen, weil das Schmerzempfinden verzögert sein oder erst nach massiver Überlastung wahrgenommen werden kann.
Dasselbe, die gute Art der Kompensation, gilt für´s Theater in emotionaler Hinsicht: hier durfte er mal der Clown, der Hofnarr sein, ein bisschen verrückt sein, aus dem Rahmen fallen, vor allem darf man in der Improvisation Gedankensprünge machen, Dinge miteinander verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben. Also all das assoziative Denken, das in der Schule oft im Wege steht, weil man nicht stringent den roten Faden behalten kann, ist plötzlich eine gefragte Stärke. Das tut einfach total gut: vermeintliche Schwächen werden zum Talent und machen ihn zu einem guten Schauspieler.
Nicht umsonst findet man in der Promi-Liste auf ADHSpedia viele tolle bekannte Schauspieler*innen, die vielleicht nicht trotz, sondern wegen ihrer ADHS erfolgreich sind. Das zu sehen, hilft enorm. Lukas konnte nach ein paar Proben nicht nur seinen eigenen Text auswendig, sondern das gesamte Stück mitsprechen, hier entpuppte sich sein fabelhaftes Gedächtnis für Dinge, die ihn interessieren. Außerdem ist Musik ein unglaublich wichtiges wunderbares Mittel, für seelische Ausgeglichenheit zu sorgen, entweder hören, oder noch besser: selber machen, singen, spielen.
Auch ein neuer Blick auf das Thema ADHS hat Ihnen geholfen, indem Sie es nicht mehr nur als Problem, sondern auch als Ressource betrachten konnten, steht in Ihrem Buch „Neuronengewitter“…
Ja, hier ist besonders die systemische Therapie zu nennen, die mir einen anderen Blick auf ADHS ermöglichte. Hier geht es weniger um die ADHS als „wegzumachendes Problem“, als vielmehr um einen veränderten Blickwinkel und damit auch Umgang damit. Es gibt den zunächst seltsam klingenden Begriff vom „Nutzen des Problems“, was bringt es vielleicht sogar an „Vorteilen“ mit sich? Solange es jemandem schlecht geht, mag das zynisch klingen, aber sogar dann lohnt sich der Versuch eines Perspektivwechsels als Gedankenspielerei.
Die Grundlage der systemischen Therapierichtung ist das Denkmodell des Konstruktivismus, das, verkürzt gesagt, davon ausgeht, dass wir alle uns unsere eigenen Wirklichkeitskonstruktionen „bauen“, vollkommen subjektiv und abhängig von unseren bisherigen Erfahrungen, unserer Wahrnehmung, unseren Wertevorstellungen, Biografien, unserer Kultur und Herkunft. Niemals werde ich ganz genau wissen, wie jemand anders diese Welt wahrnimmt und empfindet, auch wenn wir versuchen, uns darüber objektiv zu verständigen.
Diese Art zu denken bringt einen ganz neuen Respekt hinein vor der ganz anderen Wahrnehmung des Gegenübers. Das gilt auch und besonders für Menschen, die ich gut zu kennen glaube. Der Versuch, sich diesem Modell geistig anzunähern, ändert ganz viel, besonders wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die eine andere Art der neuronalen „Verdrahtung“ haben als ich. Statt mich über die „Zeitblindheit“ aufzuregen oder über die Vergesslichkeit, versuche ich, Lösungen der Kompensation zu finden in dem Wissen, dass ein Mensch mit ADHS nicht anders kann. Weil er diese Welt anders wahrnimmt als ich.
Die Ablösung aus dem Elternhaus ist etwas schwieriger bei Jugendlichen mit ADHS, schreiben Sie. Inwiefern. Und inwiefern ist es als Mutter gut, das zu erkennen? Damit man nicht mehr zu sehr als Helikoptermutter angesehen wird?
Ich habe es schon erwähnt, dass Kinder mit ADHS sich manchmal verzögert entwickeln, das kann für ihre kognitiven und motorischen Leistungen gelten, aber auch in sozialer und emotionaler Hinsicht scheint ihr Nervensystem mehr Zeit zum Reifen und Entwickeln zu brauchen, eine allgemeine Beobachtung. Das heißt, sie sind „jünger“ als es in ihrem Pass steht. Das erzeugt natürlich eine dauernde Diskrepanz. Dazu kommt evtl. ein herabgesetzter Orientierungssinn, Mühe mit Terminen, Stundenplänen und Handlungsplanung überhaupt, wie das Packen für eine Reise, sich vorbereiten auf eine Prüfung, selbständig-werden in vielerlei Hinsicht: Umgang mit Geld, alleine verreisen, bis hin zum Auszug von zuhause.
Ich habe den etwas bissigen Satz geschrieben: Wir Deutschen sind Weltmeister im Besserwissen, besonders, wenn es um das Leben der anderen geht. „Warum begleitet diese Mutter ihr Kind noch zum Sport?“ – Meiner kann das längst allein. „Was, dein Kind schläft noch im Elternbett?“ – Das ist aber eine kranke Symbiose. „Wieso wohnt der noch bei euch?“ – Unsere waren in dem Alter schon lange aus dem Haus… und so weiter und so fort.
Wir haben unglaublich festgefahrene Vorstellungen, wie „man“ zu leben hat, wann ein Kind was zu leisten hat und wehe, jemand schert aus. Diese Unfreiheit hat groteskerweise bei aller Betonung der neuen Individualität eher zugenommen, so empfinde ich das zumindest. Vielleicht durch die vielen Vergleiche in den (sozialen) Medien. Mehr Toleranz gegenüber Andersartigkeit ist mein größtes Anliegen, da hilft es zunächst, wenn wir Mütter wissen: unsere Kinder ticken anders, brauchen uns länger und da lass´ ich mir von niemandem in die Suppe spucken, basta. Ganz genau, das Label der Helikopter-Mutter zieh´ ich mir nicht mehr an.
Mit 21 sagte Ihr Sohn dann einen entscheidenden Satz zu Ihnen: „In der Zeit, in der ich dich am meisten gebraucht habe, warst du für mich da.“ Was bedeutete Ihnen das?
Das war sehr berührend zu hören, darin ist ja Dankbarkeit enthalten, auch Wertschätzung. Es heißt für mich, dass es gut war, meinem Instinkt zu vertrauen, der mir damals sagte: „Lass´ die Leute reden, er braucht dich.“ Ich war oft verunsichert, ob ich es „richtig“ mache, aber ich bin trotzdem meinem Gefühl gefolgt. Es war eine wunderschöne Bestätigung. Es heißt auch, er hat sehr wohl erkannt, dass es auch für mich nicht leicht war, die Zeit mit ihm zusammen durchzustehen. Es bedeutet, dass unsere Beziehung trägt. Und sich wandelt: jetzt braucht er mich nicht mehr. Die Freiheit kommt, aber sie kommt verzögert.
7 comments
Danke für diesen Artikel!!!
Wir sind noch am Anfang aller Diagnostik aber ich erkenne vieles was Richtung ADS weist..
Leider hatten wir null Unterstützung von Seiten eines großen Berliner Gymnasiums bisher eher das Gegenteil. Das führte zu einer absoluten Schulangst und einer Verschlimmerung aller Symptome.
Und mir hat es das Vertrauen in das Schulsystem gebrochen weil weder von Seiten der Klassenlehrerin noch vom Direktor irgendetwas ernst genommen wurde.
Also mein Aufruf an alle Lehrenden hier: bitte glaubt den Eltern wenn sie mit der Bitte um Unterstützung an euch herantreten!!!
Hallo, mich würde mal interessieren, ob es in dem Fall ADHS ist oder ADS? „Wir“ haben nämlich ADS und ich habe viel wiedererkannt. Danke!
Als Adhslerin begrüße ich, dass ihr euch dem Thema immer wieder und auch differenziert widmet. Die Überschrift könnte missverstanden werden, da sie die Vermutung nahelegt, dass der Sohn nicht mehr am Leben sei.
Insbesondere die Aussage zur Aufmerksamkeit in der Antwort zur ersten Frage teile ich nicht: Mit Adhs nehmen wir vieles ungefiltert wahr, was ua die wichtigerweise beschriebene Überreizung begründet. Aufmerksamkeit ist aber die willentliche Nutzung und Lenkung von Wahrnehmung sowie die Unterdrückung von Reizen, was mit ADHS schwerfällt und daher als Defizit zu bezeichnen ist.
„Wie ich meinen Sohn mit ADHS überlebte“
Was für ein beschissener und despektierlicher Titel für ein durchaus wichtiges Thema, dem Umgang mit ADHS…
Also „beschissen“ ist hier gar nichts. Aber die Kritik ist berechtigt und wir haben den Titel geändert
Liebe Lisa,
da hast du recht! Das hätte netter formuliert werden dürfen. Dennoch bin auch ich froh, dass ihr den Titel angepasst habt. Er wurde dem interessanten und reflektierten Titel so nicht gerecht!
Liebe Grüsse,
Isa
danke für diesen Text. es tut gut zu hören nicht alleine zu sein. ich finde mich in vielen wieder und kann das “ überleben“ denken gut nachvollziehen. in einigen Situationen ist es nämlich nichts anderes … als Mutter gibst du alles und kämpfst dich durch