Ihr Lieben, ich habe Kati Bohnet vom helpers circle im Rahmen meiner Ausbildung zur Familientrauerbegleiterin zum ersten Mal in einem Vortrag bzw. Workshop gehört und war – ich muss es zugeben – sofort hin und weg. Allein ihre Stimme ist so angenehm, dass man ihr Stunden zuhören könnte, aber vor allem ihre Themen sind es, die sie so gefragt machen.
In ihrem Kurs „Psychohygiene- und Selbstregulierungs-Workshop“ hat uns Kati Bohnet so sehr die Augen geöffnet, dass ich unbedingt nochmal nachfragen und sie euch auch nochmal vorstellen möchte. Sie weiß einfach so viel über die Auswirkungen von ungünstigen Kindheitserfahrungen auf die Gesundheit und spricht, wenn sie ihr Schaffen erklärt, auch immer wieder von der „Nervensystemsbrille“.
Die funktioniert nämlich ähnlich wie eine Sonnenbrille, hat also eine bestimmte Färbung – und mit dieser blicken wir auf die Welt. Diese Färbung lässt sich aber anpassen und so können wir denn auch unsere Sichtweise auf die Welt ein wenig verändern. Ihr versteht nur Bahnhof? Lest selbst, dann erklärt sich alles.
Vorab hat uns eine Leserin aber gebeten, eine Triggerwarnung auszusprechen, sie schreibt: „Ich würde mir eine Triggerwarnung wünschen, da es um Traumata geht und das Lesen dieses Interviews viele Gedanken und Emotionen auslösen kann. Ich habe mich schon viel mit mir und Bindungstrauma beschäftigt und merke, dass das Interview was mit mir macht.“
Liebe Kati, wenn wir Menschen – und insbesondere Kinder – aus der Sicht des Nervensystems betrachten, was wird dann deutlich?
Ich bin ja Traumatherapeutin und in meine Praxis kommen hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Meistens werden sie von ihren erwachsenen Bezugspersonen geschickt aufgrund eines „anstrengenden“ Verhaltens. Manchmal ist es hauptsächlich für die Kinder anstrengend, oft aber auch für die Umwelt. Doch schon im Vorgespräch, was ich fast immer ohne die Kinder führe, wird des Öfteren deutlich, dass dieses „anstrengende“ Verhalten ein ziemlich gesundes Verhalten auf eine für das Kind anstrengende Situation ist.
Wenn wir dann das „anstrengende“ Verhalten mal durch die Nervensystembrille betrachten, dann wird oft deutlich, dass das Kind gar nicht anders reagieren kann, weil das Kind in einem inneren Alarmzustand ist und sich dadurch der Körper in sogenannte Überlebenszustände begibt, die nur bestimmtes Verhalten zulassen.
Ein Körper im Kampf/Verteidigungszustand ist voller Energie und voller Stresshormone, vielleicht mit ganz viel Wut und Aggression, der Neokortex (unser Denkgehirn) ist gar nicht richtig „online“, … in so einem Zustand kann niemand lernen oder schlafen. Das geht rein von der Physiologie her nicht. Auch wenn wir Erwachsenen uns das in manchen Momenten einfach so sehr wünschen.
Dinge, die wir vorher so noch nicht gesehen haben, manchmal verstehen wir Verhalten dann neu und können dadurch anders reagieren
Kannst du uns dazu mal ein typisches Beispiel nennen? Eine Alltagssituation aus dem Familienleben?
Nehmen wir mal ein Beispiel aus der Praxis. Das habe ich so abgewandelt, dass das Kind nicht erkannt werden kann. Das Kind ist in der Grundschule und es fängt ganz offensichtlich immer wieder Prügeleien an. Es gibt ständig Elterngespräche und alle Beteiligten sind ziemlich ratlos, obwohl sie sehr wohlwollend und engagiert sind. Da ich in solchen Situationen auch manchmal mit in die Schulen / Kitas gehe, um mit den pädagogischen Fachkräften zu sprechen, fand auch hier ein Gespräch mit den Eltern, der Klassenlehrerin und der Hortperson statt. Das Kind hatte in der Therapie gesagt, dass es bei den Prügeleien gar nicht anfängt, sondern sich verteidigt. Ich konnte den Erwachsenen dann folgendes „durch die Nervensystemsbrille“ erklären:
Das Kind ist in seinem Leben früh traumatisiert worden und daher konnte sein soziales Kontaktsystem (der ventrale Vagusnerv) nicht vollständig entwickelt werden. Ihm fehlt die sogenannte Myelinschicht. Das sind wie so Fettringe um die Nerven herum, die es ermöglichen, dass komplexe Informationen in einer hohen Geschwindigkeit transportiert werden können. Das ist zum Beispiel für unsere komplexe Mimik erforderlich. Dazu braucht das Baby-Nervensystem ganz viel möglichst zugewandte soziale Interaktion. Hat diese soziale Interaktion nicht genügend stattgefunden, was aus unterschiedlichen Gründen der Fall sein kann, dann ist diese Myelinschicht eben nicht optimal entwickelt und es kommen ggf. nur Bruchstücke der Informationen beim Kind an.
Das heißt?
Nun, diese Komplexität ist zwingend notwendig, um Gesichtsausdrücke möglichst korrekt zu interpretieren. Stell dir nun vor, du würdest von der Seite angestupst. Dein Blick würde sofort in die Richtung gehen und das Gesicht zu dem*der Stupser*in suchen. Schaut es dich freundlich an und lädt die Person dich also zum Spiel ein oder schaut die Person grimmig und es besteht die Gefahr, dass du gleich angegriffen wirst?
Ist dein soziales Kontaktsystem gut ausgebildet und aktiv, dann kannst du das in der Kürze der Zeit gut unterscheiden. Werden nur wenige Informationen übertragen, dann fehlen die Infos und dein Nervensystem interpretiert den Gesichtsausdruck mit hoher Wahrscheinlichkeit eher als Angriff und nicht als Einladung zum Spiel. Vor allem nicht, wenn du bereits viele schlechte Erfahrungen in deinem Leben gemacht hast.
Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir im Stress sind, auch mit gut myelinisiertem sozialen Kontaktsystem. Das soziale Kontaktsystem benötigt ein gewisses Maß an Sicherheitsgefühl, dann ist es voll aktiv. Je mehr Stress wir empfinden, desto weniger ist es aktiv und überträgt dann auch dementsprechend weniger Informationen. In stressigen Situationen sind wir daher nicht mehr so empathisch und zugewandt. Wir können es gar nicht sein, da unsere Physiologie das nicht hergibt.
Wobei hilft uns der andere Blick auf die Situation dann genau?
Aus einem vermeintlich ‚anstrengendem‘ Verhalten kann mit unserem neuen Blick ein gesundes Verhalten auf eine anstrengende Situation werden. Alleine das öffnet oft neue (Handlungs-) Räume. Wenn ich wieder zu unserem Beispiel zurück gehe, dann kann man folgendes beobachten: Die Prügeleien sind meistens in der Bauecke entstanden, wenn ein Kind mein Klient*innen-Kind mit einem Bauklotz oder Auto zum Spielen eingeladen hat. Also von außen beobachtet erst einmal eine freundliche Einladung zum Spiel.
Da das soziale Kontaktsystem meines Klient*innen Kindes nicht voll aktiv war, war es nicht in der Lage, die freundlichen Signale wahrzunehmen. Da wurde das Bauklotz „rüberreichen“ dann als Angriff interpretiert, auf den das Kind reagiert hat und sich verteidigt hat. Wenn wir das also aus der Sicht des Kindes durch die Nervensystemsbrille sehen, dann macht das aggressive Verhalten auf einmal total Sinn. Und auch, dass das Kind sich missverstanden fühlt und gar nicht versteht, warum es die ganze Zeit beschuldigt wird.
Natürlich ist das gewaltvolle Verhalten nicht toll, doch durch Schimpfen und Sanktionen konnte es sich gar nicht verändern. Vor allem, weil das Kind ein sehr bemühtes Kind war und sehr darunter gelitten hat, als „böse“ abgestempelt zu werden, ohne zu verstehen, warum. So hatten alle Beteiligten nun ein umfassenderes Bild der Situation und – dank der offenen und hilfsbereiten Einstellung und den Kapazitäten der pädagogischen Fachkräfte und Adoptiveltern – konnte das Kind ganz anders begleitet werden.
Die gewaltvollen Vorfälle waren nicht von einem Tag auf den anderen verschwunden, doch sie sind sofort deutlich weniger geworden und das Kind konnte ein anderes Dazugehörigkeitsgefühl in der Klasse entwickeln. Das hat super viel für das Kind verändert.
Dir geht es also vor allem darum, Dinge, die geschehen, anders zu bewerten?
Ja, absolut, denn oft haben wir als erwachsene Bezugspersonen das Gefühl, dass unser Gegenüber etwas „mit Absicht“ macht oder nicht kooperieren möchte. Doch in vielen Fällen handelt es sich um ein NICHT KÖNNEN, weil eben die Physiologie kein anderes Verhalten zulässt. Das kann so viel verändern, wenn wir uns nicht mehr persönlich angegriffen fühlen. Das schafft ein bisschen Distanz zum Geschehen. Und wir haben ja ebenso ein Nervensystem :-).
Wenn wir uns angegriffen fühlen und in einen Verteidigungsmodus geraten, dann ist auch unser soziales Kontaktsystem nicht mehr so aktiv. Denn selbst ein gut myelinisierter ventraler Vagus ist nur dann aktiv, wenn wir uns sicher genug fühlen. Wenn wir also genervt werden oder uns angegriffen fühlen, dann verlieren auch wir unser Empathie- und Einfühlungsvermögen und wir haben unter Umständen nicht mehr Zugriff auf all unsere Ressourcen, die in dieser Situation hilfreich sein könnten. Alleine dieser Abstand kann also dazu führen, dass wir eine bessere Begleitung anbieten können.
Es geht dir auch um Selbstregulation in schwierigen Situationen. Was genau meinst du damit?
Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns regulieren können. Das bedeutet, dass wir zum Beispiel unsere Körpertemperatur regulieren können, aber auch unsere emotionale Gefühlswelt. Eine gut funktionierende Regulation bedeutet, dass wir uns aufregen können und uns dann aber auch wieder abregen, dass wir uns freuen können und aber auch wieder in einen Zustand von Ruhe zurückkehren können. Regulation ist etwas, das wir nicht bewusst machen können. Wir können unserem Herzschlag nicht sagen „So, nun geh mal wieder runter auf 70 bpm“, das ist eine Funktion des autonomen Nervensystems.
Regulation muss erlernt werden. Denn das können wir nicht von Geburt an. Babys können sich noch nicht selbst regulieren. Sie können weder ihre Temperatur selber regulieren, noch ihren Gemütszustand. Dazu benötigen sie uns Bezugspersonen. Über die Co-Regulation können Babys und Kleinkinder (und Erwachsene) sich regulieren. Bestenfalls natürlich über ein möglichst gut reguliertes Nervensystem. Dadurch lernt das Baby-Nervensystem dann, wie das überhaupt funktioniert.
Je mehr gute Co-Regulation ein Baby also bekommt, desto besser wird sein Nervensystem lernen, wie es diese Regulation dann auch alleine schaffen kann. Co-Regulation ist also die Voraussetzung für Selbstregulation. Wenn wir das als Kind nicht gelernt haben, dann brauchen wir (als Kind bereits oder später) oft alternative Regulationsstrategien. Und da gibt es gesündere und auf Dauer nicht so gesunde, wie zum Beispiel Rauchen, Alkohol, Drogen, emotionales (Nicht-)Essen, …
Wenn wir also keine gute Selbstregulation auf neuronaler Ebene erlernen, dann fällt uns das im Erwachsenenleben auch schwer. Das kann fatale Folgen für unsere Gesundheit haben und jedoch auch dazu führen, dass wir einfach sehr schwer wieder runterfahren können, wenn wir im Stress sind. Und dann fehlen uns wichtige Ressourcen für empathische Kommunikation, fürs Lernen, für das soziale Miteinander, für körperinterne Wartungsarbeiten, etc. So viele Probleme unserer Gesellschaft sind auf eine mangelnde Selbstregulationsfähigkeit zurückzuführen.
In dem Kurs, den du für uns werdende TrauerbegleiterInnen gegeben hast, hast du ein sehr eindrückliches Beispiel mitgebracht. Es ging um ein Kind, dessen Vater immer bei Hunger wütend wurde und das dadurch sehr aufmerksam mit seiner Umwelt war und feine Antennen für die Mitmenschen hatte, also sehr darauf geachtet hat, wie sich die anderen fühlen – aus Selbstschutz heraus. Dieses Kind verzichtete lieber selbst auf Essen, als sich das Hunger-Donnerwetter des Vaters wieder anzutun. Es lebte also nicht nach den eigenen Bedürfnissen, sondern nach denen der anderen… hab ich das richtig wiedergegeben? Oder magst du noch ergänzen? Und was hat es im weiteren Leben mit diesen Kindern auf sich?
Oft sind genau diese Kinder später die Menschen, die in Gruppen sehr beliebt sind, weil sie erstmal das Wohl der anderen vors eigene setzen, weil sie Schwingungen wahrnehmen und ggfls. gegenarbeiten. Dieses Beispiel verweist auf eine Überlebensstrategie, die in meinen Augen viel zu wenig Beachtung erhält: den Unterwerfungsimpuls.
Das Kind versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass das cholerische Elternteil in eine Stresssituation kommt, die für das Kind gefährlich werden könnte (oder für andere Familienmitglieder). Das bedeutet, dass das Kind seine inneren Antennen – die eigentlich sowohl nach innen auf die eigenen Bedürfnisse als auch empathisch nach Außen gerichtet sind – ausschließlich nach Außen richtet. Es ist darauf angewiesen, frühzeitig die kleinste Regung in die Richtung von zu viel Stress beim cholerischen Elternteil zu erkennen, damit es die Gefahr noch abwenden kann.
Diese Empathiefähigkeit und teilweise Hochsensibilität, die sich daraus entwickeln kann, sind die Lebensversicherung des Kindes. Je früher es erkennt, dass jemand in einen dysregulierten Zustand gerät, was eine potentielle Gefahr bedeuten kann, desto besser kann sich das Kind (und später der*die Erwachsene) schützen. Daher entwickeln Kinder aus dieser Überlebensstrategie oft eine unglaubliche Empathiefähigkeit. Sie können Bedürfnisse anderer sehr schnell erfassen, sind fast immer hilfsbereit, manchmal auch aufopferungsvoll, sind sehr beliebt in Gruppen, da sie in der Regel sehr einfach dafür sorgen können, dass alle sich wohl fühlen.
Erwachsene, die so aufgewachsen sind, gehören oft zu den „People Pleasern“, zu den Menschen, die es allen recht machen wollen (bzw. müssen), die selten NEIN sagen und noch den extra Kuchen backen. Manche von ihnen leiden auch am Helfer*innensyndrom. Doch dies geht alles auf Kosten der eigenen Bedürfnisse bzw. das Bedürfnis nach der eigenen Sicherheit steht vor allen anderen Bedürfnissen und macht diese zweitrangig. Das Verheerende ist, dass wir dieses Muster als Kind erlernen und im Erwachsenenleben nicht so einfach wieder loswerden, auch wenn das cholerische Elternteil nun gar nicht mehr so viel Einfluss auf die Sicherheit hat.
Ich finde diesen Überlebensimpuls wirklich spannend, weil er wirklich viele Facetten hat und stark verbreitet ist. Oft werden Menschen gelobt und geschätzt, wenn sie sich aufopfern. In Schulklassen fallen solche Kinder eher positiv auf. Doch eigentlich sollten sie wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, da sie im Innern in einer gefühlt größeren Notlage stecken als Kinder, die im Kampf- und Verteidigungsmodus sind und durch Aggressionen und Gewalt auffallen und Aufmerksamkeit benötigen.
Kinder im Unterwerfungsimpuls fühlen sich machtlos, aktiv aus der Gefahrensituation wieder herauszukommen. Sie haben eine Strategie entwickeln müssen, um sich mit der Gefahr zu arrangieren. Du siehst, hier könnte ich noch stundenlang weiter erzählen. Ich nehme ganz bald eine komplette Podcastfolge zu dem Thema auf …
Das ist so spannend, Kati, ich muss auch einfach nochmal weiterfragen: Wenn wir eine Familie als Mobile sehen, versucht dieses Kind dann – rein bildlich gesprochen – das Ungleichgewicht auszugleichen bzw. wiederherzustellen?
Mein Blick durch die Nervensystemsbrille ist ein anderer: Das Kind ist darum bemüht, zu überleben. Es kann sich nicht durch Zuflucht, Kampf/Verteidigung oder Flucht wieder in einen Zustand von „sicher genug“ bringen und die Gefahr beenden, sondern es muss einen Umgang mit der Gefahr finden. Das macht einen großen Unterschied.
Wenn wir uns selber aktiv wieder in einen Zustand von Sicherheit bringen können, dann ist da ganz viel Selbstwirksamkeit und Mobilisierungsenergie noch mit drin. Sind wir der Situation ausgeliefert, können wir sie nicht abwenden, dann erlischt immer ein bisschen Hoffnung und es geht darum, die Gefahr nur irgendwie halbwegs zu überleben. Das Nervensystem arbeitet da hierarchisch. Ist eine aktive Gefahrenabwehr nicht mehr möglich, dann geht es ums Überleben mit der Gefahr.
Da geschieht etwas ganz Wesentliches im Nervensystem. Da, wo vorher ganz viel Mobilisierungsenergie war (vielleicht durch Wut), kommt jetzt quasi die Immobilisierung dazu. Es wird quasi zum Gaspedal (Mobilisierung – Sympathikus) auch noch die Bremse gedrückt (Immobilisierung – dorsaler Vagusnerv). Das bedeutet in dem Fall, dass darunter liegende Wut, Angst, Verzweiflung, … nicht mehr ausgedrückt wird. Weil es eben nicht sicher genug war, diesen Impulsen Ausdruck zu verleihen. Da liegt dann die Bremse drauf.
Das kann natürlich zur Folge haben, dass dieses Kind ganz harmoniebedürftig ist und alle Disharmonien auszugleichen versucht. Der Blick durch die Nervensystemsbrille geht aber für mich da eben noch einen Schritt tiefer.
Wenn ein Kind also sehr angepasst in einer Familie ist oder sehr aufmerksam oder vielleicht sogar immer der Sonnenschein: Kann es dann sein, dass für eine andere Rolle in der Familie einfach kein Platz war? Dass da ein Ausgleichsversuch stattfindet?
Das kann ich nicht pauschal sagen. Es kann natürlich sein, dass ein anderes Kind in der Familie in Rage gerät, wenn das cholerische Elternteil „ausrastet“ und dieses Verhalten jedoch nicht zur erhofften Sicherheit und Grenzverteidigung führt, sondern noch mehr Aggression des übergriffigen Elternteils auslöst. Das kann das Kinder-Nervensystem dann als nicht so erfolgreiche Überlebensstrategie abspeichern und es muss eine andere entwickeln, die besser funktioniert. So können unterschiedliche „Rollen“ in der Familie durchaus erklärt werden. Manchmal hat es aber auch eventuell mit anderen Dingen zu tun.
Auch ich selbst musste nach deinem Kurs viel über meine Rolle in meiner eigenen Familie nachdenken, über die Rollen der anderen. Auch, weil du uns werdende TrauerbegleiterInnen gefragt hast: Aus welchem Impuls heraus wollt ihr das machen? Warum möchtet ihr Menschen helfen? Aus einer eigenen Bedürftigkeit heraus? Hattet ihr selbst vielleicht zu wenig Hilfe in bestimmten Situationen? Oder so gute, dass ihr das gern weitergeben möchtet? Wart ihr selbst eher der Sonnenschein der Familie und bezieht über die Reaktionen darauf viel Energie? Eine Anleitung zur Selbstreflexion. Warum ist dir die so wichtig?
Ich finde das eine ganz spannende Frage, warum wir eigentlich helfen möchten. Gesellschaftlich ist es einfach unumstritten hoch anerkannt, sich für andere, für „Schwächere“ einzusetzen. Und das ist auch gut so. Die Welt braucht das. Wenn dies aus einem eigenen stabilen Zustand, aus einer Sicherheit heraus geschieht, dann trägt das einfach meines Erachtens sehr zum Wohl der Gesellschaft bei, wenn wir vielleicht durch Privilegien zur Verfügung stehende Möglichkeiten an Menschen ohne diese Privilegien abgeben und uns hilfreich für das Gemeinwohl machen.
Bei wirklich ernstgemeinter Hilfe geht es aus meiner Sicht um das Hilfreichsein für eine andere Person (oder Gruppe oder Sache …) auf Augenhöhe. Es geht nicht um mich. Ich möchte etwas geben, was anderen hilft. Gleichzeitig darf ich auf meine Grenzen achten. Aus meiner Erfahrung gibt es jedoch auch ganz eigennützige Hilfe, die sehr gern trotzdem unter dem Deckmantel Altruismus und Hilfsbereitschaft unterwegs ist. Das entdecke ich immer wieder, wenn die Hilfe aus eigennützigen Gründen angeboten wird, weil man sich durch die Hilfe für „Schwächere“ auch selber erhöhen und hilfreicher fühlen kann, wenn man sonst nirgends dieses Gefühl erfährt. Doch da verlässt man die Augenhöhe.
Immer wieder erlebe ich auch Situationen, in denen Hilfe angeboten wird und wenn diese aber gerade nicht passt oder nicht das richtige Format hat und abgelehnt wird, dass diese Person(en) dann als undankbar und fordernd beschimpft werden. Dann hat die angebotene Hilfe eher etwas damit zu tun, dass die helfende Person die Anerkennung und Dankbarkeit der anderen Person benötigt. Es stand dann wohl nicht das Hilfreichsein im Vordergrund, denn nur die Person, die die Hilfe empfängt, wie am besten, was gerade gut für sie ist und darf jederzeit ablehnen.
Welche Gefahr siehst du darin?
Wenn Helfen und uns für andere Aufopfern für uns zur Überlebensstrategie gehört, wie oben beschrieben, dann besteht die Gefahr, dass wir über unsere Grenzen gehen und uns eben total aus dem Blick verlieren. Wenn wir nicht NEIN sagen können. Die Gefahr für Burnout ist da sehr hoch. Das kann auch geschehen, wenn wir selbst noch unterversorgte Anteile in uns haben, zum Beispiel wenn wir selber in unserer Kindheit nicht genügend Hilfe und Unterstützung erfahren haben und diese Themen noch nicht aufgearbeitet haben.
Dann kann es geschehen, dass wir unterbewusst versuchen, andere zu „retten“, weil wir selber noch diesen Anteil in uns haben, der gerettet werden möchte. Das ist kein gesundes Helfen. Und auch da erlebe ich es immer wieder, dass es gesellschaftlich gefeiert und gefördert wird, über die eigenen Grenzen zu gehen. Ich feiere das nicht. Ich feiere jeden Menschen, der für sich sorgt und aus der eigenen Stabilität etwas zu geben hat. Nur, wenn wir gut stehen, können wir andere gut halten.
Man könnte sich diese Frage auch bei einem anhaltenden Kinderwunsch stellen, warum noch eins, warum möchtest du immer wieder in die Fürsorge gehen statt mal etwas für dich selbst zu tun, hast du das vielleicht auch nie gelernt? Beziehst du deinen Selbstwert über die Fürsorge für andere? Ganz neutral als Frage, nicht als Wertung. Dir geht es darum, unser Tun zu hinterfragen, nicht zu bewerten, richtig?
Ja, ganz genau. Ich versuche wirklich ganz oft, die Nevensystemsbrille aufzusetzen. Und dann wird immer sichtbar, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat. Auch wenn das Verhalten nicht angenehm ist. Oft steht das Bedürfnis nach Sicherheit dahinter, manchmal andere Bedürfnisse. Und das ist ja ganz menschlich. Das Nervensystem bewertet nicht. Das ist da ganz neutral. Dem geht es ums Überleben. Und wir sind unserem aktuellen Nervensystemszustand manchmal einfach ausgeliefert und können gar nicht anders reagieren.
Auch wenn ich noch so friedvoll mit meinen Kindern kommunizieren möchte, wenn mein Nervensystem in einem Zustand ist, der soziales Kontaktverhalten gerade nicht unterstützt, weil ich zum Beispiel viel zu müde oder überfordert bin, dann ist das rein körperlich nicht möglich. Es sei denn mit einem immensen Kraftaufwand und großer Selbstbeherrschung. Das entbindet uns Erwachsene nicht der Verantwortung, möglichst gut dafür zu sorgen, dass unser Nervensystem möglichst oft in einem regulierten Zustand ist, um möglichst bewusst unser Verhalten zu steuern und genügend Ressourcen zur Verfügung zu haben, damit wir immer näher an das Bild von Eltern rankommen, die wir gerne sein möchten.
Doch ist unser Nervensystem in einem dysregulierten Zustand oder in einem Überlebensimpuls, dann übernehmen andere Gehirnregionen in uns die Kontrolle über unser Verhalten und wir können nicht mehr bewusst entscheiden, wie wir uns verhalten möchten. Wir dürfen Verantwortung für unser Handeln übernehmen und gleichzeitig auch milde mit uns sein.
Du wünschst dir eine bessere Welt für unsere Kinder. Ist das dein eigener Ansporn und: Spielen da auch eigene Erfahrungen aus deiner Kindheit mit rein? Oder was treibt dich da an?
Meistens sage ich, dass ich nicht zufällig in der Traumaarbeit gelandet bin. Ich hatte – um es gelinde auszudrücken – eine ziemlich beschissene Kindheit. In unserer Familie gab es viel Trauma, sowohl auf Elternseite, aber ebenso bei meinen Pflege- und Adoptivgeschwistern. Und auch bei mir. Doch ich war eher in diesem Unterwerfungsmodus und super angepasst, hilfsbereit, schlau, habe keine Probleme gemacht und sehr früh sehr viel Verantwortung übernommen, übernehmen müssen.
Trauma habe ich glaube ich aus sehr vielen verschiedenen Perspektiven kennengelernt, bevor ich selber die Theorie dazu bekam, die mir mein bisheriges Leben erklärt hat. Durch meine eigene Traumaaufarbeitung, die ich vor meinen Therapieausbildungen begonnen habe, habe ich so viel verstanden und habe viel darüber getrauert, dass ich als Kind und als Jugendliche keine gute Hilfe hatte und Erwachsene, die vielleicht noch ein bisschen mehr gesehen hätten, in was für einem Zustand ich oft war.
Es gab eine Lehrerin, die mich gesehen hat und für mich wahnsinnig wichtig war durch ihre Frage, was denn bei und mit mir eigentlich los sei. Diese Lehrerin hat so viel Gutes in mir ausgelöst durch diese eine Frage. Und dennoch war mein Weg lang und steinig, ich habe vieles nicht so leben können, wie ich es mir gewünscht hätte, ich habe lange überlebt, doch erst später angefangen zu leben und manchmal trauere ich noch heute oder bin wütend über diesen fiesen Rucksack, der mir mitgegeben wurde.
Gleichzeitig habe ich mit Anfang 30 erfahren, wie wirkungsvoll und lebensverändernd Traumaarbeit sein kann. Dass es möglich ist, vom Überlebensmodus in einen freudvollen und erfüllenden Zustand von Lebendigkeit zu kommen. Das wollte ich gerne in die Welt bringen. Und da ich als Kind bereits die Mutter meiner Geschwister war, hatte ich schon immer einen guten Draht zu Kindern und ein großes Bedürfnis, ihr Leid zu lindern. Das hat sicherlich mit meiner eigenen Traumageschichte zu tun, aber durchaus auch mit dem – neben allem Schrecklichen in meiner Kindheit – immer offenen Haus für Kinder, die in großer Not waren.
Ich habe gelernt, dass jedes Trauma, das wir bei Kindern verhindern, lindern oder auflösen können, so einen großen Unterschied machen kann, dass es das Potenzial hat, die Welt grundlegend zu einem besseren, gesünderen, lebenswerteren und sichereren Ort zu machen. Und es erspart so vielen Menschen so viel Leid, wenn wir dazu beitragen, dass Kinder zu resilienten und selbstbestimmten Menschen heranwachsen können. Die Arbeit kann ich jedoch nur machen, weil ich große Teile meiner Traumata bereits aufgelöst habe. Sonst würde das nicht gehen.
8 comments
Ein sehr interessantes Thema! Die Frage, die sich für mich nun stellt: ich erkenne m ich hier zu 100% wieder, was machen? Oder wie stelle ich es an, dass meine Kinder hier kein Problem bekommen? Braucht man professionelle Hilfe? Eine „traumatische“ Kindheit in dem Sinne hatte ich überhaupt nicht, dennoch bin ich der absolut angepasste Typ, der es allen recht machen will, aber auch erkennt, dass sich jetzt was ändern muss… Wie lautet dazu Euer Rat?
Danke für diesen tollen Bericht!
Ein tolles Interview! Vielen Dank, dass es Menschen gibt, die Kindern helfen wollen und helfen!
Danke für dieses tolle Interview! Es hat mich sehr tief berührt.
Vielen Dank für das tolle, bereichernde Interview!
Hallo!
Was für ein spannendes , gutes aber auch intensives Interview. Ich würde mir eine Triggerwarnung wünschen, da es um Traumata geht und das Lesen dieses Interviews viele Gedanken und Emotionen auslösen kann. Ich habe mich schon viel mit mir und Bindungstrauma beschäftigt und merke, dass das Interview was mit mir macht vor allem, weil ich selber Kinder habe und Lehrerin bin. Danke aber für neue Informationen und die Erinnerung des Blickwinkels und an die eigene Verantwortung , sich um das eigene Nervensystem zu kümmern, Wer sich als Erwachsene Person für Selbstregulation und Trauma interessiert , kann ich Dami Charf empfehlen, eine Traumatherapeutin, die in dem oben beschriebenen Sinne arbeitet und hilfreiche Bücher und Kurse anbietet.
Viele Grüße
Sehr guter Hinweis, haben wir sofort mit reingenommen in den Text. DANKE
Super! Danke 😊