Nachtschreck? Wenn mein Kind im Meltdown zusammenbricht

Nachtschreck

Ihr Lieben, Uschi gehört zu den Frauen und Müttern im Netz, die kaum ein Blatt vor den Mund nehmen und neulich veröffentlichte sie auf ihrem Instagramkanal einen Einblick in Meltdown-Nächte mit einem ihrer drei Kinder. Sie fragte sich, ob es ein Nachtschreck ist oder ob es eine andere Ursache hat und erzählte sehr anschaulich davon, wie sie die Anfälle als alleinerziehende Mama begleitet. Ich fand das so berührend nah und authentisch, dass ich gern mehr dazu hören wollte. Den Instapost hat sie zwar mittlerweile wieder runtergenommen, aber uns hat sie ein Interview dazu gegeben.

Liebe Uschi, eins deiner drei Kinder erlebt nachts manchmal Meltdowns, also Zusammenbrüche. Kannst du uns mal beschreiben, wie so etwas konkret aussieht?

Ich wache von den Schreien meines Kindes auf, muss mich erstmal orientieren – und finde es dann panisch um sich schlagend irgendwo im Haus auf. Daher muss ich jeden Abend sichergehen, dass ich alle Türen verriegle, damit nichts Schlimmes passieren kann. Diese ganz schlimmen nächtlichen Anfälle passieren selten, sie fahren aber in Mark und Bein.

Als es das erste Mal passiert ist, dachte ich, ich muss den Notarzt rufen, weil mein Kind sonst zusammenklappt oder die Lunge platzt oder einen Herzinfarkt bekommt, weil dieser kleine Körper dann so sehr bebt und das Schreien nicht nachlässt. Ich habe schnell gemerkt, dass mein Kind mich ganz offensichtlich nicht wahrnimmt in dem Moment, seine Augen werde rot und treten hervor. „Wie von einem Dämonen besessen“ schießt es einem durch den Kopf. Und: „Was mache ich???“ „Was kann ich tun?“

Wie begleitest du dein Kind durch seine Meltdowns?

Bei den ersten Malen wollte ich mein Kind umarmen bzw. ihm nah sein, aber sobald ich mich ihm körperlich genähert habe, hat es lauter geschrien und getreten. Es ist ein Balanceakt – das Kind davor zu bewahren, sämtliche Möbel umzukippen, Dinge zu schmeißen, die Tür einzutreten, mich oder sich selbst zu verletzten und gleichzeitig nicht näher zu kommen.

Ich halte die ganze Zeit Blickkontakt, bleibe in unmittelbarer Nähe und sage monoton, ruhig, wiederholend: „Ich weiß, du bist gerade gar nicht okay. Ich sehe das. Du bist nicht allein. Ich bin hier. Du bist in Sicherheit, Mama ist da, was du spürst ist sicherlich gleich vorbei, du machst das super, ich weiß, es ist schwer, ich liebe dich“. Ob das hilft oder ich das nur für mich mache in dem Moment, kann ich nicht sagen.

Irgendwann, ebbt es etwas ab, ich nähere mich. Es kann sein, dass es dann nochmal losgeht, fünf bis zehn Minuten später kann ich mein Kind aber meistens in die Arme nehmen und ins Bett tragen, wo es komplett erschöpft einschläft. Danach rollen dann jedes Mal bei mir die Tränen… ganz sicher.

Schaffst du es schon immer, so ruhig zu bleiben oder war das eine Entwicklung bzw. ein Prozess?

Ich bin innerlich durchgegangen, was es sein könnte und musste mich selbst beruhigen, ganz klar. Ich war mir auch bei den ersten Male sicher, dass es einen Krankenwagen braucht, eine Beruhigungsspitze. Ich hatte einfach wahnsinnige Angst, dass mein Kind kollabiert. 

Kannst du dir erklären, woher die Ausbrüche kommen, wird da etwas vom Tage verarbeitet oder sind es Träume?

Da mein Kind neurodivergent ist, dachte ich erst, es käme daher. Du willst als Mutter den Grund wissen. Mein Kind schlafwandelt, seit es zwei ist. Das ist aber immer verbunden mit dem Drang, zur Toilette zu gehen. Ich bin es seit Jahren gewohnt, beim kleinsten Laut da sein zu müssen, weil ich ihm helfen muss, die Toilette zu finden.

Manchmal war so ein Ausbruch mit dem Frust verbunden, wenn das nicht klappte. Aber es ist auch schon passiert, wenn Besuch da war und es keinen Schlaf gefunden hat aufgrund der Veränderung daheim. Dann wieder nachts „einfach so“. Es gibt die Diagnose Nachtschreck – eine Schlafstörung, die meist Klein- und Vorschulkinder betrifft. Ob es das ist oder eine Begleiterscheinung der Neurodivergenz habe ich nicht herausfinden können bislang.

Weiß dein Kind tags drauf noch etwas davon? Redet ihr darüber?

Ich habe ein paar Mal nachgefragt und mein Kind wollte oder konnte darauf nicht antworten. Da geht es um Scham, die die Neurodivergenz mit sich bringt. Also richten wir den Fokus auf etwas Anderes. Ich bin Mutter von drei Kindern (4, 7 und 9 Jahre alt), da gibt es morgens dann direkt 100 neue Themen und die Wahrheit ist: Ich bin einfach froh, wenn es überstanden ist.

Gibt es jemanden, mit dem du darüber sprechen kannst?

Ich habe mir viele Gedanken gemacht, ob die Anfälle daher rühren, dass mein Kind nicht in die Kita will und da dann alles hochkommt, was tagsüber so stressig für es ist. Es hat sich über Jahre wie ein Puzzle mit vielen fehlenden Teilen angefühlt. Von Kita und Schule hieß es immer, alles wäre okay, nichts auffällig, mein Kind wäre schüchtern und „etwas speziell“, sehr schlau, aber alles gut.

Auf sowas sollte man sich aber nie ausruhen, wenn das eigene Gefühl einem etwas anderes sagt. Es ist schade, gerade, wenn man noch andere Kinder hat. Dann wäre es natürlich viel praktischer, man würde von Kita und Schule direkt weitergeleitet werden. Weil sie so viel zu tun haben, passiert das aber meist eher bei Kindern, die „aggressives Verhalten“ zeigen… oder man hat halt Glück.

Erst als ich Videos davon gemacht habe, ging es dann ganz schnell mit der Diagnostik. Allerdings habe ich keine Bewegtbilder von den seltenen heftigen Anfällen, die ich oben beschrieben habe, da weiß ich also bis heute nicht, ob es ein klassischer Nachtschreck oder eine Kombi aus mehreren Auslösern oder etwas ganz Anderes ist. Manchmal bekommen wir das als Eltern nicht raus. Aber je mehr wir selbst hinschauen und ausprobieren und sehen, was funktioniert und was nicht, desto zweitrangiger wird die Definition des Ganzen.

Wenn man das nicht selbst kennt und erlebt mit seinem Kind, ist es schwer nachvollziehbar. Der Austausch unter Gleichgesinnten hilft ungemein, die finde ich zu diesem Thema vor allem online. Ich schau immer mal wieder in eine Supportgruppe von anderen Eltern mit Kindern mit seiner Diagnostik und ab und zu in Instagramprofile, die sich dem Thema annehmen.

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Schwappen solche Nächte auch in euren Alltag rüber? Fühlen sich auch die Tage manchmal an wie das Jonglieren mit rohen Eiern, weil überall Gefahren lauern könnten, die zur Überforderung werden könnten?

Jonglieren mit rohen Eiern trifft es wahrscheinlich, wenn man das Leben mit neurodivergentem Kind beschreiben will. Aber es ist so viel mehr. Die Angst, dass mein Kind etwas Neurologisches hat, hat mich in den ersten Jahren kirre gemacht. Die Sprüche vom Umfeld „ist bestimmt nur eine Phase“, waren sicherlich gut gemeint, aber ich wusste von Beginn an, das mein Leben jetzt anders sein wird. Ich musste lernen, meine Angst zu kontrollieren und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich davor fürchte, dass sein Nervensystem wieder etwas Schlimmes passieren lässt.

Ich habe selbst ADHS, bin impulsiv, emotional, hin- und hergetrieben. Mein Kind struggelt aber mit Nonstop-Geräuschen im Hirn und ich musste lernen, präzise, klar und positiv zu kommunizieren, um es nicht schlimmer für mein Kind zu machen. Ich übe immer noch. Wir zeichnen beide, um runterzukommen und lachen unheimlich viel miteinander. Ich glaube das gegenseitige Verständnis macht die schlimmen Momente schlimmer, weil ich so mitfühle und die guten so schön, das kannst du gar nicht aushalten 🙂

Wie prägt all das auch die Geschwister?

Wenn es nachts passiert, hoffe ich jedes Mal, dass sie nicht aufwachen. Aber auch da bin ich ja von Anfang an drin geübt. Mein Alltag besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich niemand ausgegrenzt fühlt oder denkt, funktionieren zu müssen. Es kann eben passieren, dass das Geschwisterkind nicht in die Schule geht, heftige Sachen brüllt, Sachen kaputt macht und sich die Zähne nicht putzt. Sie dürfen wissen, dass ich die Safe-Person meines Kindes bin und parallel die Mama meiner beiden anderen Kinder bleibe.

Ich mache das, aber ich kann mich nie komplett rausnehmen. Wer kann das schon, aber in dem Fall hat es nichts mit Helikopter-Elternschaft zu tun, sondern wirklich damit, die Sicherheit für alle zu garantieren. Zeit allein mit den Geschwistern ist so wichtig und gleichzeitig so schwer umzusetzen, aber wo ein Wille, da ein Weg …

Ich versuche, dafür zu sorgen, dass die Geschwister Freunde besuchen können. Über die Diagnostik zu sprechen, aber nicht so, dass es etwas Negatives ist, gleichzeitig aber auch nicht so, dass danach alle eine haben wollen, weil es aus ihrer Sicht nur Vorteile bringt. Ich glaube, ich könnte mit meiner Erfahrung der letzten Jahre ohne mit der Wimper zu zucken, Mediatorin werden. Melde Dich gern, wenn Du das liest und Du eine suchst.

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Hattest du dir das als Mutter alles so herausfordernd vorgestellt?

Nein, aber ich habe zum Glück nicht darüber nachgedacht. Die Gedanken gingen nie über das „Schwangersein und Bauchrausstreckenkönnen“ hinaus. Ich bin die große Schwester von zwei kleinen Brüdern, war schon immer mehr Mama als Kind, musste früh viel Verantwortung übernehmen, hatte eine überforderte, emotional unreife Mutter, keinen Vater und irgendwie hat sich mein inneres Kind dann überlegt, dass ich, weil ich das „so gut gemeistert habe“, unbedingt in der Mutterrolle bleibe.

Einmal Prinzessin sein kann ich dann vielleicht mit 60…  Klar sehen mich meine Kinder auch struggeln. Aber noch mehr sehen sie mich als ihren 24/7-Support. So wollte ich es für sie. Und ich sehe jetzt schon den Unterschied, den es macht. Wenn ich meine Menstruation bekomme, macht mir mein 9-Jähriger Sohn einen Tee, mein 7-Jähriger will wissen, wieviel Blut ich heute schon verloren habe und meine 4-jährige Tochter drückt mich und sagt „Meine schöne Mama ist die beste Mama der Welt“. 

Welche letzten schönen Moment hattest du denn mit den Dreien?

Letztens morgens im Auto habe ich den Countdown gezählt, und als das Tiefgaragentor bei 0 aufging, ist unsere Rakete gestartet und dann auf dem Pluto angekommen und wir haben auf der Fahrt zur Schule all die Aliens gesehen, es war ein großer Spaß. Ich versuche, zu vermeiden, „Los geht´s, wir sind zu spät“ zu sagen und es klappt in zwei von zehn Fällen, juhuyeahiyeahi.

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4 comments

  1. Wir kennen das auch. Bis zum 4. Lebensjahr hatte meine Tochter auch solche Attacken. Teilweise 30-45 Minuten lang. Sie ist jetzt 5. Bei ihr wurde auch noch nichts besonderes festgestellt. Es tut gut zu lesen, dass man damit nicht alleine ist. Ich war mir auch unsicher ob es wirklich „nur“ ein Nachtschreck ist. Es wirkte auf mich wesentlich heftiger als das was man zum Nachtschreck so liest und hört.

  2. Hallo, mein Sohn hatte bis er ca. 6 Jahre alt war auch ähnliche Attacken in der Nacht. Ich konnte dann einen Uusammenhang herstellen, dass die Attacken auftraten, wenn die Tage aufregender waren und er am Tag kein Nickerchen gemacht hat. Ich habe dann immer den Vergleich hergestellt, dass der Arbeitsspeicher voll war, wie bei einem PC und er sich bei einem Nickerchen ersetzen muss, damit das System stabil läuft. Das hat ihm geholfen, ein Nickerchen zu zu lassen und der erweiterten Familie hat es geholfen, zu verstehen, warum wir Wert auf sein Nickerchen gelegt haben und nicht auf ein frühes zu Bett gehen am Abend (denn natürlich hat ein Mittagsschlaf mit 5/6 Jahren dafür gesorgt, dass er am Abend länger wach war, als ohne). Mit der Weile ist er 14, wir wissen, dass er hochbegabt ist, sein Geist unaufhörlich arbeitet, alles durchdenkt und daher die Tagschläfe echt wichtig für ihn waren! Und dass sein Körper mit solchen Attacken in der Nacht einfach seine Überlastung angezeigt haben.

  3. Das klingt wahnsinnig anstrengend, sowohl für das Kind als auch für dich. Ich bin aber sicher, dass es ihm enorm hilft, dass während des Anfalls dabei bist. Du machst das ganz toll!

  4. Liebe Uschi,
    Als ich deine Worte zu den nächtlichen Attacken deines Sohnes las, kam mir das gleich bekannt vor. Vor allem das „der Dämon ist in ihn gefahren“. Mein Sohn ist inzwischen 4 und hatte von 3 bis 3,5 solche Attacken, toitoitoi im Moment nicht mehr.
    Bei seinen Attacken fing es im Bett an – er rief oft nein, nein, nein und weinte/jaulte dabei. Dann (vor allem bei Ansprache) wurde er immer wilder und ist dann handgreiflich geworden, verließ das Bett, war im Begriff Gegenstände, uns und sich selbst zu verletzen. Es ist so schwer auszuhalten und man erkennt das eigene Kind nicht mehr. Einmal bin ich mit einem Gegenstand in der Hand von ihm weggegangen, ich wollte den Gegenstand in Sicherheit bringen. Mein Sohn war so schnell hinter mir her, das hat mir richtig Angst gemacht. Wie ein wildes Tier, das war damals mein Gedanke. Als wenn er nicht mehr er selbst wäre und kein liebes Kind.
    Ich habe auch viel von Nachtschreck gelesen, oft wird es aber so dargestellt, dass die Kinder eher weinen und im Bett bleiben. Bei uns war es aber wie bei euch: Bloß nicht direkt ansprechen, monoton sprechen, Abstand halten, dann ging es mit der Aggression. Manchmal kam sie aber auch trotzdem. Die Attacken dauerten bei uns übrigens immer ca 45 Minuten. Sehr hart. 🙁
    Ich kenne mich nicht mit neurologischen Auffälligkeiten und Krankheitsbildern aus, mein Sohn hat in die Richtung noch nichts gezeigt. Daher habe ich das direkt alles auf den Nachtschreck zurückgeführt.
    Alles Gute für dich und deine Familie!!

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