Diese Woche berichteten der WDR und die Süddeutsche Zeitung über die durchaus fragwürdigen Behandlungmethoden des bekannten Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff. In einer TV-Doku erhoben ehemalige Patienten schwere Vorwürfe, Winterhoff habe ihnen – zum Teil ohne offensichtlichen Grund – stark sedierende Medikamente verschrieben. Mittlerweile gibt es auch eine Strafanzeige gegen Winterhoff.
Wir haben den Link zu der TV-Doku auf unserer Facebook-Seite geteilt, daraufhin hat sich Marianne bei uns gemeldet, die mit ihrem Sohn Hannes (beide heißen eigentlich anders, wollen aber anonym bleiben) bei Dr. Winterhoff in Behandlung war. Nach der Doku war sie sehr geschockt und wollte uns ihre Geschichte erzählen:
Liebe Marianne, vor sechs Jahren warst du mit deinem damals 13-jährigen Sohn Hannes in Behandlung bei Dr. Winterhoff. Warum habt ihr seinen Rat gesucht?
Hannes ist schon seit der Kindergartenzeit verhaltensauffällig. Wir haben uns deshalb schon früh Unterstützung geholt, es gab im Laufe der Jahre mehrere Diagnosen. Wir hatten keine einfache Zeit, es gab Probleme mit der Schulfindung, Hannes hat von Seiten der Schulen viel Ablehnung erfahren. Irgendwann bin ich dann über die Bücher von Dr. Winterhoff (z.B. „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) gestolpert, die sich ja sehr gut verkauft haben. Ich dachte, dass er uns vielleicht helfen kann und habe einen Termin ausgemacht. Damals war ich noch alleinerziehend und meine finanzielle Situation war nicht leicht, aber ich wollte es unbedingt probieren.
Wie war dein Eindruck von Dr. Winterhoff? Wie war euer Termin dort?
Wir hatten einen Doppeltermin – also einen Tag Diagnostik und einen Tag Gespräche. Diese Termine liefen genau so ab, wie in der Reportage geschildert. Am ersten Tag musste Hannes in den Keller, dort fand die Diagnostik statt. Am zweiten Tag gab es dann ein 20-minütiges Gespräch. Hannes war bei dem Gespräch dabei und ich erinnere mich, dass er von Dr. Winterhoff ständig „reguliert“ wurde. Er solle sitzen bleiben, nichts anfassen, ruhig sein.
Wie lautete seine Diagnose?
Dr. Winterhoff stellte mir seine Theorie der starken Symbiose zwischen Hannes und mir vor. Ich hatte schon damals das Gefühl, dass er einfach einen Text abspulte, den er schon hunderte Male aufgesagt hatte. Dann diagnostizierte er narzisstisches Verhalten bei Hannes, genau wie er es fast allen aus der Reportage auch diagnostiziert hatte. Hannes sei in der Generation nach dem Jahr 2000 geboren und somit „Helikoptereltern“ ausgeliefert.
Ich weiß noch, dass ich sagte, dass ich noch drei weitere Kinder hätte und bei denen keinerlei Verhaltensauffälligkeiten vorhanden seien. Ausserdem sei ich definitiv keine Helikoptermama, da man bei vier Kindern schnell lernt, loszulassen und Kinder auch mal machen zu lassen. Dr. Winterhoff ging mit keinem Wort auf meinen Einwand ein. Er sagte, ich solle mir mehrmals die Woche stundenlange Auszeiten von den Kindern nehmen, alleine in den Wald gehen oder mich einfach mal in eine Kirche setzen und meinen Gedanken freien Lauf lassen.
Welche Behandlung schlug Dr. Winterhoff vor?
Hannes bekam das Medikament Pipamperon verschrieben. Ich sollte ihm zu Beginn drei Mal täglich eine Dosis geben und diese wöchentlich steigern. (Anm. d. Red.: das Medikament ist ein Antipsychotikum mit laut Hersteller „sedativ-hypnotischen, erregungsdämpfenden Eigenschaften“ – Quelle: Süddeutsche Zeitung)
Wie veränderte sich Hannes dadurch?
Er wurde lenkbarer. Früher war es so, dass er meist genau das Gegenteil von dem tat, was ich sagte. Das veränderte sich nun. Auch in der Schule war er viel angepasster.
Wie lange wart ihr in Behandlung bei Dr. Winterhoff?
Wir waren noch drei Mal in der Praxis, allerdings hatte ich auch dann nie das Gefühl, dass echtes Interesse an meinem Sohn vorlag. Die Gespräche verliefen immer gleich und waren irgendwie sehr „kalt“.
Wie ging es weiter mit Hannes?
Hannes hat das Medikament fast zwei Jahre erhalten, erst war er angepasster, doch mit der Zeit schlug das Verhalten wieder um und er wurde sehr auffällig. Ich wandte mich an eine Kinder-und Jugendklinik für psychische Gesundheit, dort wurde Hannes dann stationär aufgenommen. Die Ärzte haben das Medikament dort ausschleichen lassen, weil sie gerne „den echten Hannes“ kennenlernen wollten, wie sie sagten.
Nach dem Aufenthalt dort kam Hannes in eine Wohngruppe, wir gehen davon aus, dass bei Hannes ein Asperger-Autismus vorliegt. 2018 zog Hannes wieder zu mir und hat nach all diesen Höhen und Tiefen seinen Hauptschulabschluss geschafft. Das finde ich ganz toll.
2020 kamen dann leider starke Depressionen dazu, die Pandemie ist für Hannes sehr sehr schwer. Deshalb ist er nun auch wieder in Behandlung bei einer Psychologin. Hannes möchte ab September nochmal zur Schule gehen, sein größter Wunsch ist es, seinen Realschulabschluss zu machen. Ob ihm das gelingt, ist noch nicht sicher. Durch die schweren Depressionen und die ganze Vorgeschichte hat er nun einen Schwerbehindertenbescheid in Höhe von 60% und ich bin stets mit dem Jugendamt, der Schule, den Ärzten und der Krankenkasse in Verbindung.
Als du nun die Doku im TV gesehen hast – was ging dir da durch den Kopf?
Zuerst einmal mache ich mir schwere Vorwürfe, dass ich diesen Medikamenten zugestimmt habe. Ich habe damals den zunächst positiven Effekt der Gabe gesehen und mich davon verleiten lassen. Ich hätte damals auf mein Bauchgefühl hören sollen. Denn das war von Beginn an nicht gut. Ich weiß nicht, was die Intention von Dr. Winterhoff ist, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie darin liegt, Kinder und Eltern als Individuen zu sehen und ihnen zu helfen…
15 comments
Einen in mehrfacher Hinsicht mutmaßlich Kriminellen mit Autoren, die einen bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern vermitteln wollen (der für ausnahmslos alle Kinder wünschenswert wäre) zu vergleichen, braucht schon ein gutes Stück Unverfrorenheit.
Kein Mensch hat Winterhoffs Verbrechen mit unbescholtenen Ratgeberautorinnen verglichen!!!
Entweder ihr versteht es wirklich nicht oder wollt gar nicht. Ich bin daher raus aus dieser sinnfreien Runde?! Schade.
Die Kommentatoren Flo und Sina haben anscheinend nie auch nur ein einziges Buch aus dem Umfeld der „Mierau-Imlau-Renz-Polster-Truppe“ (ich würde noch Jesper Juul und Alfie Kohn hinzufügen, beides absolute Augenöffner für mich) aufgeschlagen oder gar zuende gelesen. Sonst würden sie wissen, dass es in der bedürfnisorientierten Erziehung immens wichtig ist, dass Eltern Grenzen setzen – und zwar persönliche Grenzen. Es wird bei dieser Form der Pädagogik auch immer wieder betont, wie bedeutend es ist, eben nicht in einer künstlichen Säuselstimme zu sprechen, wenn man sich ärgert („Das war nicht schön, Emma-Luise“) sondern authentisch zu sein. Authentisch heißt, Ton und Körpersprache drücken aus, was die Eltern wirklich fühlen. Nur so kann das Kind erfahren, wer seine Eltern sind. Das ist halt nur kein Freibrief für unkontrolliertes Rumschreien, Kleinmachen und Beleidigen. Aber es ist ja leichter, sich nur Halbwissen aus der Instagram-Bubble anzueignen. Dass man dann einen mutmaßlichen Straftäter wie Herrn W. auf eine Stufe stellt mit den BO-Autoren, ist allerdings ein starkes Stück. Herr Renz-Polster hat schon recht, wenn er in seinem Kommentar zur Winterhoff-Debatte von einer „autoritären Bereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung“ spricht. Johanna Haarer lässt grüßen, die hätte sich nicht träumen lassen, wie lange ihr Einfluss andauert.
Die Kommentatorin Elli weiß alles- auch, wer welche Bücher gelesen hat. Einfach toll!
Und wie schön, dass sie für sie solche Augenöffner sind. Für mich nicht- und das heißt natürlich, dass meine Kinder (und Flos sicher auch) im Stile Johanna Haarers erzogen, angebrüllt und kleingemacht werden.
Herrn Winterhoff finden wir dementsprechend super-muss ja so sein-die Kommentatorin Elli hat es schließlich so geschrieben?!
Was für ein arroganter und gemeiner Kommentar, Elli.
Viele Grüße Sina
vielen dank elli, so habe ich es nicht geschafft auszudrücken, ich bin ganz deiner meinung. und ich finde es erschreckend das hier die imlaus/mieraus etc. mehr kritisiert werden unter diesem beitrag als das was herr winterhoff da getrieben hat.
Nochmal: Was ich (und ich glaube, Flo auch) meinten war, dass Extreme andere Extreme begünstigen können.
Das bedeutet: Wenn die eine Hälfte hinter der ganzen BO-Ratgeber-Literatur herläuft und jede Selbstverständlichkeit im Umgang mit Kindern verliert und Angst hat, der Bindung zu schaden, weil das Kind in einem Gitterbett schläft…dann ist die Gefahr größer, dass die andere Hälfte auf Scharlatane wie Herrn Winterhoff hört.
Wenn ich als Eltern meinen Verstand benutze, lasse ich mein Kind doch NiEMALS ohne Zweit-oder sogar Drittmeinung medikamentös (bei psychischen Problemen) sedieren und behandeln. Und wenn der Arzt noch so bekannt ist. Ich informiere mich ausführlich über ein entsprechendes Medikament und gebe es meinem Kind nur, wenn mir mehr als nur ein Arzt erklärt hat, warum es notwendig ist, das zu geben.
Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass die Verbrechen von Herrn Winterhoff zum Kotzen sind! Wie gesagt, war es ja auch etwas abschweifend.
Und genau deshalb schrieb ich, dass Sie die Bücher nicht gelesen haben und – mit Verlaub – einfach gar nicht wissen, was bedürfnisorientierte Erziehung ist. Ich besitze die Bücher, die sie verteufeln und kann Ihnen versichern: In keinem einzigen davon werden sie geschrieben finden, dass es „Kindern psychisch schadet, wenn sie im Gitterbett schlafen“. Was in den Büchern stehen mag, ist die Empfehlung des Rooming-In bei Säuglingen (mit den Eltern in einem Zimmer schlafen im ersten Lebensjahr, senkt erwiesenermaßen das Risiko für SIDS. Die Empfehlung umfasst jedoch Babybay, Elternbett und Gitterbett gleichermaßen, wichtig ist nur derselbe Raum). Und die Empfehlung, Babys nicht allein in ihrem Bettchen weinen zu lassen, bis sie vor Erschöpfung einschlafen (senkt erwiesenermaßen die Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter an Depressionen und Angststörungen zu erkranken). Beide Empfehlungen sind mit Studien belegt. Aber selbst, wenn ein Elter diese Stellen falsch versteht und so interpretiert, dass Gitterbetten schädlich seien und seine Kinder deshalb aus Mitleid nicht darin schlafen lässt, sehe ich keinen kausalen Zusammenhang, wie diese aus Empathie gefällte Entscheidung dazu führen sollte, dass andere Eltern in die autoritären Arme eines Dr. W getrieben werden. Wie soll denn da der Gedankengang aussehen? „Mein Nachbar verhält sich zu empathisch, deshalb verhalte ich mich mal extrem unempathisch“? Zu dem Punkt mit den Medikamenten: Es ist kein Zufall, dass die Opfer dieser Strategie zu 90% Heimkinder – die Schwächsten – sind. Die haben nämlich keine Eltern, die sich schützend vor sie stellen und wie die Doku ja zeigte, stecken die Unterbringungs-Institutionen zum großen Teil selbst in der Sache drin. Haben davon profitiert, dass es Zeit und Arbeit spart, alle Kinder 2x im Jahr im Minibus zum selben Arzt zu fahren, der sie mit Medikamenten gefügig und besser handelbar macht.
spannend, das hier mehr geschrieben wird über personen und ein themen, um die es in diesem artikel gar nicht geht, statt über das winterhoff und seine methoden. ich finde es wichtig das auch über solche menschen wie winterhoff berichtet wird.
Klar ist es das.
Und ich bin tatsächlich ein bisschen abgeschweift… was heißt denn, dass du es „spannend “ findest???
Der Aufhänger war dieses gar nicht mehr locker sein dürfen, immer begleiten müssen, darum, dass man -laut Imlau, Hummel und anderer sog. Experten – Bücher lesen sollte, weil ja jedes Kind so superindividuell ist und keinesfalls mal blöd angemeckert werden sollte…und alle Kinder, die nicht Gefühlskälte, schüchtern etc. sind, sind ja nur normierte Langweiler…dieses Extrem fördert das andere (echt üble) Extrem von Winterhoff.
Ich glaub, das war der Denkansatz.
Endlich sagt das mal jemand (außer mir selber:) Mir ist diese Imlau-Mierau-Hummel-Cammarata- Truppe nämlich auch eher unsympathisch. Hauptsächlich weil sie aus Banalitäten zehn bis zwölf Ratgeber machen.
Mit kritischen Kommentaren müssen Sie rechnen, wenn sie einen Mann, der mutmaßlich Kindern jahrzehntelang kontraindizierte Medikamente verschrieben und sie mutmaßlich missbräuchlich sie im Genitalbereich angefasst hat, als „das andere Extrem“ vergleichen mit BO-Autor*innen. Autor*innen die immer wieder betonen, dass jede Familie ihren persönlichen Weg finden muss und lediglich dafür plädieren, Kinder ernst zu nehmen und wie Menschen zu behandeln. In Ihren Kommentaren haben Sie deren Theorien als „Banalitäten“ bezeichnet und gefordert, dass man Kinder auch mal „blöd anmeckern“ dürfen muss. Ich finde meine Antwort darauf nicht „gemein“, sondern realistisch.
Mein Post bezog sich auf Flos Kommentar.
Irgendwie überrascht mich das alles nicht.
Zwar bin ich nun weiß Gott kein Verfechter dieses Augenhöhefetischs, der in der Praxis doch nur zu permanenten Kniefällen der Eltern vor den eigenen Sprösslingen führt, jedoch ist mir der Alarmismus und Populismus des Dr. Winterhoff mindestens genauso zuwider.
Für mich war Winterhoff immer das andere Extrem gegenüber den Eltern, die meinen ihr „biodynamisch ernährtes HSP-indigo-Kind namens Fynn-Sören-Corbinian (mit Bindestrichen)“ würde an einem gelegentlichen elterlichen Anpfiff für ein Fehlverhalten gleich psychisch zerbrechen- quasi die Übertreibung in die andere Richtung.
Winterhoff witterte ja überall die völlige Verwahrlosung unserer Jugend, die unweigerlich zum „Untergang des Abendlands“, wenn nicht gar zu Schlimmerem führen würde.
Dass er in seiner psychiatrischen Praxis mit medikamentösen Kanonen auf Spatzen schießt, ist wirklich nicht verwunderlich, sondern passt perfekt ins Bild.
Kinder sind weder kleine zarte Pflänzchen, die vor allem Unbill bewahrt werden müssen, noch sind sie Maschinen, die man mit dem entsprechenden (medikamentösen und erzieherischen) Input wieder „auf Linie bringen“ kann, wenn sie mal „nicht funktionieren“.
Was bleibt ist die Erkenntnis: Finger weg von populistischen Erziehungsratgebern und erst recht von deren Autoren, wenn sie als Psychologen, Ärzte o.ä. praktizieren!
Zum Erziehen brauchen wir weder Winterhoff noch die Mierau-Imlau-Renz-Polster-Bubble, sondern vor allem gute Nerven und gesunden Menschenverstand.
Ich wünsche der Familie alles Gute! Ich bin froh, bisher noch nicht in einer solchen Situation gewesen zu sein.
Meine Schwester ist Pharmazeutin und ich habe sie nach ihrer Meinung zum Thema gefragt. Sie meinte, dass es schon Usus sei, das Medikament zu verschreiben und dass die Ärzte sich aber oft die Anmerkungen der Pharmazeuten verbieten, ihr gar drohend gegenüber treten. Das finde ich schon krass. Denn in der Apotheke gibt es doch die Spezialisten für Wechselwirkungen, die vielleicht auch die Familie besser kennen und Einblicke haben, Ärzte sind nun Mal keine Götter. Ich will nicht alle in einem Topf werfen, aber es scheint schon etwas dran zu sein. Ich als Lehrkraft muss mich auch ständig reflektieren und muss meine Methoden überdenken, im Team für die Kinder arbeiten. Schade, dass das wohl im medizinischen Bereich nicht gern gesehen wird.
Und zu Dr. Winterhoff, Macht scheint sein Antrieb, wie leider so oft in unserer Gesellschaft, erst ich, dann der Rest und vor allem, ich bin der Boss. Hoffen wir, dass sich rzess verändert.
PS: Wollt ihr vielleicht auch Mal über Ikke Hüftgold schreiben und nachfragen, wie deine Projekte nun laufen? Man hat schon wieder nichts mehr über das Thema gelesen.
Sehr guter Kommentar!
Schrecke auch sowohl vor dem ganzen „bindungsorientiertem“ Hype als auch vor Winterhoffs immer sehr verallgemeinernden/alle über einen Kamm scherenden Meinung zurück.
Ist mir alles zu extrem.