Mutter eines Palliativkindes: „Ich wurde mehr und mehr weniger“

Mutter eines Palliativkindes

Ihr Lieben, wow, uns haben die folgenden Worte unserer Leserin Brenda Meisel wirklich wahnsinnig beeindruckt. Sie ist pflegende Mutter eines Palliativkindes, hat zwei weitere Kinder und irgendwann gemerkt: So kann es nicht weitergehen. Hier muss sich was ändern. Sie hat etliche Glaubenssätze über Bord geworfen und macht das quasi Unmögliche möglich – indem sie wieder arbeiten geht und Zeit außerhalb der eigenen vier Wände und außerhalb der unbezahlten Pflege verbringt. Eine Mutter gehört zu ihrem Kind? Absolut! Aber sie darf auch noch sie selbst sein und weiter für sich existieren… lest es selbst, es ist so voller Engagement, Motivation und Lebens-Spirit, es baut auf und spornt an.

Pflegende Mutter seit sieben Jahren

Seit sieben Jahren pflege ich unsere schwerbehinderte Tochter. Mein Mittzwanziger-Ich hätte niemals gedacht, diese Worte mal in einen Laptop zu tippen. Mittlerweile schreibe und spreche ich nahezu täglich darüber: Ich bin Mutter eines Palliativkindes und zweier gesunder Kinder.

Mein Leben verläuft in Schlangenlinien und gerne mal so schnell, dass mir flau im Magen wird. Ich bin konstant gehetzt und gefordert von den Aufgaben, die ich im Laufe des Tages und der Nacht zu erfüllen habe. Und hin und wieder verläuft unser Alltag dermaßen schräg, dass er mich aus der Bahn zu werfen droht. Die Pflege des eigenen Kindes ist nicht ohne – Grenzüberschreitungen der eigenen Kapazitäten inklusive.

Pflegene Angehörige

Unsere Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Was das bedeuten sollte, haben uns die ersten drei Jahre ihres Lebens gelehrt. Während ihr Bruder vom Kindergartenanfänger zum Schulkind heranwuchs, lebten seine Schwester und Mutter in Summe sechs Monate auf Stationen verschiedener Kinderkliniken.

Schwere Zeiten, die für unser Familienleben gleichermaßen traumatisch und wichtig waren. Denn auf Station habe ich gelernt, was ich lernen musste, um unser Kind zuhause versorgen zu können: Sondieren, katheterisieren, Vitalwerte checken, Sauerstoff regulieren und Krisen erkennen, bevor sie entstehen. Sozusagen eine Ausbildung zur Pflegefachkraft im Schnelldurchlauf; ergänzt um medizinisches Fachwissen, das Assistenzärzt*innen regelmäßig in Verlegenheit bringt.

Kind mit Behinderung: Zurück in die alten Rollenbilder

Und gleichzeitig haben wir in dieser Zeit den Grundstein für ein Familiensystem mit traditionellen Rollenbildern gelegt bekommen: Der Vater ernährt, die Mutter pflegt – für Familien mit pflegebedürftigen Kindern eine übliche Aufteilung der Verantwortlichkeiten. Es ist nicht so, als hätten wir uns bewusst dafür entschieden. Die Umstände unserer Lebensrealität haben die Entscheidung für uns getroffen.

Mein Kind pflegen und einem Beruf nachgehen? Das hätte ich mir damals nicht zu erträumen gewagt. Für Träume war aber auch keine Zeit, ich hatte ein Kind zu versorgen und Notfälle zu beherrschen. Für mich war das eine Vollzeitstelle mit täglich 16 Überstunden, unglücklicherweise ohne Gehalt oder Urlaubsanspruch. Pausen gab es selten, und wenn doch, dann wurden sie mit bürokratischen Ärgernissen gefüllt.

Pflegende Mutter

Die meisten Menschen, denen ich von den Behinderungen und Erkrankungen unserer Tochter erzähle, verstehen schnell, wie viele medizinische Handgriffe über den Tag verteilt nötig sind. Und fast alle sind irritiert, wenn ich erkläre, wie unglaublich zeitaufwendig die Handhabung der Bürokratie rund um Behinderung ist. Es gibt wirklich viele Möglichkeiten der Unterstützung für pflegende Eltern. Nur niemand verrät sie ihnen ungefragt.

Wir hatten uns nach und nach in unserem neuen Familienleben eingerichtet. Rückblickend kann ich sagen: Ich habe es gut auf die Reihe bekommen, unsere Tochter zu versorgen und nebenbei ein beeindruckendes Organisationskonstrukt der Pflege zu etablieren. Zeitweise hatte ich 33 verschiedene Institutionen (nicht Personen), mit denen ich regelmäßig über unsere Tochter im Austausch stand. Es lief, weil es laufen musste. Wie sehr das für mich selbst in die falsche Richtung lief, haben wir nicht gemerkt.

Nach guten fünf Jahren des Funktionierens kam der große Knall. Alltägliches überforderte mich, alles war zu viel, nichts ging mehr. Dass es so nicht bleiben konnte, war schnell klar. Bis ich verstanden hatte, dass es jetzt mal nicht darum ging, wieder funktionieren zu müssen, sondern stattdessen lernen sollte, wieder ich selbst sein zu dürfen – das dauerte ein paar Monate. Und kostete mich viele Nächte des Grübelns und Hinterfragens. Die erste Erkenntnis: Ich war unglücklich mit meiner Pflegeverantwortung.

Mutter eines Palliativkindes: „Ich wurde mehr und mehr weniger“

Für mich war dieses Eingeständnis ein Meilenstein auf dem Weg hin zu einem Leben, in dem ich das Glück wieder suchen wollte. Das mag ausgesprochen kitschig und vielleicht auch etwas melodramatisch klingen, aber genauso empfinde ich das. Ich habe die Belastungen der Pflegesituation jahrelang gekonnt wegignoriert, weil ich überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte, dass es Alternativen geben könnte. Eine Mutter hat sich selbst um ihr krankes Kind zu kümmern, dachte ich. Und bin dabei mehr und mehr weniger geworden.

Es gab nicht diesen einen Tag, dieses eine Erlebnis, das mich zum Umdenken bewogen hatte. Dass ich eine Vorstellung von einem Lebensraum abseits der Pflege entwickeln würde. Die Veränderung kam Stück für Stück. Ohne therapeutischen Support und gute Freund*innen hätte ich mich von meinen altbewährten Glaubenssätzen wahrscheinlich nie verabschiedet. Aber so kam es, dass ich mir im Herbst 2022 in den Kopf setzte, unbedingt einen Job finden zu wollen.

Als pflegende Mutter habe ich gelernt: Pläne sind toll, müssen aber ständig angepasst und umgeschmissen werden. Bei meinem Berufsplan lief das ähnlich. Über eine Verkettung von glücklichen Zufällen und noch besseren Umständen hatte ich bereits kurz vor Weihnachten einen Arbeitsvertrag unterschrieben.

Im Januar gings los: 15 Stunden pro Woche, auf beliebig viele Tage aufgeteilt, mit flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit auf Home-Office. Klingt ein bisschen nach Schlaraffenland mit Option auf Glitzerkekse – und war vollständig nach meinem Geschmack und auf meine Bedürfnisse ausgerichtet. Wahrscheinlich nicht ohne Grund: Ich hatte im Bewerbungsgespräch mit offenen Karten gespielt. Gewonnen haben wir dann einfach alle.

Absolute Transparenz bei der Bewerbung

Meine Bewerbung enthielt Begrifflichkeiten wie „pflegeerfahren“ und „familienerprobt“. Ich erwähnte unsere schwerbehinderte Tochter und die zwei Geschwisterkinder und wie das bei uns alles so anders ist. Ein Privatsphären-Striptease par excellence. Erschien mir auch nicht ungewöhnlich, weil ich mit diesen Menschen fortan regelmäßig Zeit verbringen und auf ihre Rücksichtnahme angewiesen sein würde.

Während meiner Studienzeit (da war ich schon Mutter) hatte mir mal eine Personalerin geraten, mein Jahr Elternzeit am besten nicht im Lebenslauf anzugeben. Kinder seien nicht so gut für die Karriere; über behinderte Kinder hatte sie nichts gesagt. Als ich den Arbeitsvertrag unterzeichnete, musste ich kurz an diese Frau denken und innerlich wohlwollend grinsen.  

Mir war klar, dass es mich fordern würde, neben der Pflege einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass die gesundheitliche Situation unserer Tochter beängstigend eskalieren könnte. Keine drei Monate nach Jobantritt ging es ihr sehr schlecht. Wir mussten ins Krankenhaus und kurz mal eben unser gesamtes Leben umplanen.

Pläne sind da, um umgeworfen zu werden

Noch heute bin ich überaus dankbar, dass niemand von mir verlangt hatte, in dieser Situation zu arbeiten, und alle es akzeptiert hatten, dass ich trotzdem arbeiten wollte. Und so organisierten ein paar Menschen spontan mein Klinik-Office. Zwischenzeitlich übernahm mein Mann für einige Stunden die Versorgung unserer Tochter, ich schälte mich aus meinem Stations-Outfit und fuhr meine erste Präsentation halten. Es sollte nicht die letzte obskure Situation gewesen sein, in der wir kreative Lösungen finden mussten, für die schier unlösbare Aufgabe der Vereinbarkeit pflegerischer Verantwortung und beruflicher Ambitionen.

Seit 1,5 Jahren mache ich meinen Job, habe mittlerweile auf 30 Stunden pro Woche aufgestockt und zahlreiche Ich-werfe-das-jetzt-alles-hin-Momente durchlebt. Der Gesundheitszustand unserer Tochter hat sich wieder stabilisiert, ist aber nicht mehr so geworden, wie er früher war. Die Krankenkasse hat zugestimmt, dass wir rund um die Uhr eine Pflegekraft bei uns zuhause haben sollten.

In der Praxis ist das nicht umsetzbar, weil ständig irgendwer kurzfristig ausfällt, wir nicht genug Pflegekräfte für unser Team finden und die Pflege am Wochenende oft von uns Eltern übernommen werden muss. Aber in der Theorie wird unsere Tochter nun seit einigen Monaten nur noch selten von mir gepflegt.

Behinderung

Ich kann meinen Job machen und dabei meistens nicht daran denken, dass ich Mutter eines Palliativkindes bin. Als Eltern haben wir gelernt, die Verteilung der Verantwortlichkeiten für unser Familienleben nach vorhandenen Ressourcen und aktuellem Belastungsgrad auszurichten. Mein Arbeitgeber und meine Kolleg*innen wundern sich nicht mehr, wenn ich alle drei Wochen spontan verschwinde, um den Sauerstofflieferanten ins Haus zu lassen. Sie wissen um die Herausforderungen, denen wir täglich begegnen. Bei Notfällen reicht eine kurze Nachricht. Wenn ich Lust habe, erzähle ich später ausführlich, was passiert ist. Wenn ich nicht will, lassen sie mich in Ruhe den Kopf freiarbeiten.

„Ich habe mein Kontingent an Zuhause-Zeit aufgebraucht“

Ich schätze die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz und arbeite fast nie von zuhause aus. Vielleicht habe ich aber auch einfach in den Pflegejahren mein Kontingent an Zuhause-Zeit aufgebraucht. Mit einem schwerbehinderten Kind ist es nicht ganz unkompliziert, das Haus zu verlassen. Wir müssen immer Sauerstoff und Co. für den Notfall mitnehmen. Da kommst du nicht einfach mal so eben raus (oder willst es auch gar nicht).

Dabei ist es genau das, was ich brauche: Rauszeit. Den Kopf mit anderen Themen beschäftigen, um nicht in der Wut und der Trauer über verlorene Perspektiven und verpuffte Lebenspläne zu versinken. Ich habe irgendwann wieder zu träumen begonnen. Und mich zaghaft auf die Suche nach diesem Glück begeben.

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4 comments

  1. Vielen Dank für den Einblick in das Leben pflegender Eltern, den wir durch diesen Bericht bekommen. Und für Brenda persönlich alles Gute auf ihrem Weg für mehr Balance im Leben, ich kann es total nachvollziehen. Es braucht ein eigenes Fundament, um anderen Menschen etwas geben zu können. Aber sich mehr Freiraum zu nehmen und etwas loszulassen ist bei einem zu pflegenden Kind sicher deutlich schwerer erstmal. Eure Geschichte als Familie berührt mich sehr, Ihr habt definitiv mein Herz gewonnen. Alles Liebe 💘

  2. vielen vielen Dank für Deinen wunderbaren Bericht. Ich kann alles „unterschreiben“, denn so ist es mit einem besonderen Kind. Es tut gut zu lesen, dass man nicht alleine ist.
    Alles Liebe für Euch!

  3. Was für eine Leistung. Danke für das offene Teilen der sehr berührenden Geschichte. Ich wünsche Euch als Familie alles erdenklich Gute, liebe Menschen und Unterstützung auch in dunklen Zeiten.

  4. Wow, Du bist ehrlich und machst Mut. Wie wertvoll auch für dein Kind nur Mutter und nicht noch Therapeut zu sein. Thomas Sjödin (2/3 verlorene Söhne) sagte über die Erwerbsarbeit: „Wir [die Eltern] sind nie komplett zuhause geblieben, weil uns bewusst war, dass wir etwas brauchen, zu dem wir später zurückkehren können.“ Viel Leichtigkeit wünsche ich euch.

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