Mobbing: Wie und warum werden Kinder zum Mobbing-Täter

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Ihr Lieben, immer wieder haben wir hier Berichte zum Thema Mobbing. Es ist einfach ein wahnsinnig wichtiges Thema, für das man sensibilisieren und dem man entschieden entgegen treten muss. Heute haben wir einen wichtigen Beitrag von Anja. Sie ist zweifache Mutter, Diplom-Heilpädagogin und Autorin des Buches „Vereint gegen Mobbing in der Schule“:

„Noch immer hält sich hartnäckig die Idee, Mobbing sei bestimmt auch die Schuld der Opfer. Irgendeine Angriffsfläche werden sie ja schon geboten haben, sonst wäre das ja nicht passiert. Solche Aussagen sind nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Opfer, sie entsprechen auch einfach nicht der Wahrheit. Fakt ist: Jedes Kind, egal wie viel oder wenig vermeintliche Angriffsfläche es bietet und egal wie resilient (also widerstandsfähig) es ist, kann in die Opferrolle geraten. Und zwar schneller, als wir gucken können. Diese Erkenntnis erschreckt mich immer wieder auf Neue! Was also können wir tun?

Ich schlage vor, dass wir zur Abwechslung mal die Perspektive wechseln! Die zentrale Frage, die sich dann stellt, ist die folgende: Warum sucht sich jemand ein Opfer aus, um es von der Gruppe zu isolieren und es so lange zu erniedrigen, bis es daran zerbricht? Was sind das für Kinder, die zu Mobbing-Täter/-innen werden?

Kinder geben den Druck von zu Hause weiter

Ich kenne zufällig ein paar von ihnen. Da wäre beispielsweise der hübsche, sportliche Leonardo. Er soll einmal die Arztpraxis seiner Eltern übernehmen und weil er in Mathe und Englisch nicht mitkommt, muss er jeden Tag zusätzlich üben, während seine Freunde zum Fußballtraining dürfen. 

Oder Samira, die zwei Mal in der Woche zum Cheerleader-Training geht, ein Mal zum Schwimmen und zwei Mal zum Klavierunterricht. Dabei möchte sie sich nach den Hausaufgaben doch einfach nur ausruhen. Oder mal mit einer Freundin spielen. Aber das lassen ihre Eltern nicht gelten.

Paul hat sich den Arm verstaucht und kommt weinend vom Training nach Hause. Seine Eltern verdrehen nur die Augen und fragen, weshalb er denn jetzt schon wieder heule. In den Arm genommen haben sie Paul schon seit Jahren nicht. Schließlich ist er ja kein Baby mehr. 

Josephine wohnt inzwischen bei der Oma. Mit Mama klappt das einfach nicht mehr, seit sie und ihr neuer Freund das Baby haben. 

Und Martin, der war immer der Schnellste der Klasse und wenigstens einmal in seinem Leben konnte er seinen Vater stolz machen. Bis Milat in die Klasse kam, der nicht nur schneller, sondern auch viel beliebter bei den Anderen ist.

Leonardo, Samira, Paul, Josephine und Martin sind ganz normale Kinder. Und sie alle haben andere Kinder gemobbt. Sie alle haben in der Schule den Druck weitergegeben, unter dem sie zu Hause leiden. Oft unbemerkt. Druck, der immer dann entsteht, wenn die kindlichen Grundbedürfnisse nach körperlicher und seelischer Wertschätzung, nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung nicht erfüllt werden. Wenn sich Kinder nicht um ihrer selbst willen geliebt fühlen, wenn sie sich nicht als wertvoll und selbstwirksam erleben können, wenn sie sich weder ernst genommen noch verstanden fühlen. Wenn ihnen zu viel abverlangt wird und wenn sie ihrer Hilflosigkeit, ihrer Wut, und ihrer Überforderung schutzlos ausgeliefert sind. Wenn sie nie genug sind, egal wie sehr sie versuchen, den Erwartungen der Erwachsenen gerecht zu werden. 

Die Kinder sind oft sehr verzweifelt

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle einmal kurz innehalten und ein wenig nachdenken. Über das, was Kinder eigentlich brauchen. Über die Verantwortung, die wir als Eltern dafür tragen. Über unsere gesamtgesellschaftliche „Höher-schneller-weiter-früher-besser“-Haltung. Darüber, was Kindheit eigentlich sein sollte. Und über ein Schulsystem, das durch größtmögliche Homogenität, durch Vergleich und Bewertung und durch Konkurrenz und Leistungsdruck genau den Nährboden zur Verfügung stellt, auf dem Mobbing entsteht. Ich denke, es wird höchste Zeit, dass wir beim Thema Mobbing nicht mehr auf die vermeintliche Schuld der Opfer schauen, sondern auf all die Kinder, die zuschauen und nichts tun, und vor allem auf die Kinder, die für die Qual ihrer Opfer verantwortlich sind. Und zwar nicht, indem wir uns bösartige Kreaturen ohne Gewissen vorstellen, sondern indem wir Mobbing-Täter/-innen als das begreifen, was sie in der Regel sind: ganz  normale, aber sehr verzweifelte Kinder. 

Um zu verhindern, dass Kinder ihren Frust im Mobbing anderer Kinder ausleben, brauchen sie vor Allem eines: verlässliche Bindungspersonen, die von Geburt an ihre Grundbedürfnisse befriedigen und damit ihre Hirnentwicklung positiv beeinflussen. Aber auch Erzieher/-innen, Lehrkräfte oder die Bezugspersonen, denen Kinder bei ihren Freizeitaktivitäten begegnen, können den Unterschied machen. Dazu muss man Folgendes wissen: die kindliche Persönlichkeit entwickelt sich in einem komplexen Wechselspiel aus Genen und Erfahrungen. Die DNA eines Kindes können wir (zum Glück) nicht verändern, welche Erfahrungen ein Kind machen darf, darauf haben wir aber sehr wohl Einfluss! Und den müssen wir nutzen! Lasst uns also dafür sorgen, dass unsere Kinder die richtigen Erfahrungen machen! Erfahrungen, die ihre Lebenskompetenzen fördern! Positive, stärkende Erfahrungen, die den Wert sozialer Beziehungen fest in ihrem Gehirn verankern! Lasst uns dafür sorgen, dass sie gesehen und ernst genommen werden, lasst uns genau die verlässlichen und zugewandten Bindungspersonen sein, die sie zum Wachsen brauchen. Lasst uns Erwachsene sein die ermutigen, die zuhören und die positiv leiten ohne einzuschränken. Die dafür sorgen, dass sich alle Kinder in einer Gruppe wohlfühlen und sich ein starkes Wir-Gefühl entwickelt. Lasst uns alles dafür geben, dass Kinder zu empathischen Persönlichkeiten heranwachsen, die authentisch agieren und verantwortungsvoll für sich und andere einstehen. Lasst uns sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen, ohne ihnen ein Korsett aus Erwartungen und Leistungswahn zu schnüren, lasst uns den Druck des Vergleichens und Beurteilens von ihnen nehmen. Und lasst uns die Vielfalt feiern und die Einzigartigkeit wertschätzen, die jedes einzelne Kind auszeichnet! Lasst uns ihnen eine Kindheit schenken, in der sie sich ohne Frust entfalten können!

Wir dürfen Kinder nicht formen

Dafür nötig sind Erwachsene, die Kindern auf Augenhöhe begegnen und sie nicht nur als Empfänger von Input verstehen. Eltern, Erzieher/-innen und Lehrkräfte, die Kinder nicht an ihren eigenen Erwartungen, Wünschen oder Träumen messen. Die den Mut haben, sich und ihre Verhaltensweisen zu reflektieren und die bereit sind, eigene ungünstige Denk- und Bewertungsmuster zu verändern. 

Wenn wir anfangen, Kinder auf ihrem Lebensweg zu unterstützen, statt sie formen zu wollen, wenn wir uns als Eltern und als Gesellschaft „Wertschätzung“ auf die Fahne schreiben und wenn wir unseren Kindern die bedingungslose Liebe entgegenbringen, die sie verdienen, dann werden wir in Zukunft auch deutlich weniger Mobbing-Fälle zu beklagen haben! Weil dann weniger Kinder ein solches Ventil brauchen werden und weil sich dann innerhalb einer Gruppe genügend Kinder dafür stark machen werden, Mobbing schon im Keim zu ersticken! 

Lasst uns doch einfach heute damit beginnen! Jeder für sich und wir alle gemeinsam!


Wer mehr über Anja erfahren möchte, kann sich auf ihrer Homepage umsehen. Und HIER könnt ihr das Buch kaufen.

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Buchcover

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5 comments

  1. Eine durchaus interessante Perspektive, die zum Nachdenken anregt, Trotzdem möchte ich an dieser Stelle ein großes ABER einfügen: Nicht alle Kinder, die so aufwachsen werden Mobbing-Täter, viele werden auch Mobbing-Opfer weil sie ängstlich und unsicher sind. Ich möchte auch dringlich davor warnen, die Täter zu stark in Schutz zu nehmen und zu entschuldigen, denn Mobbing ist IMMER eine bewusste Entscheidung und weder zu rechtfertigen noch zu entschuldigen! Die Opfer leiden schlimmstenfalls ein Leben lang unter den Folgen! Mobbing ist mit nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen! Nein, die Täter sind nicht „ganz normale Kinder“, sondern sie sind das, was sie sind: TÄTER, deren Opfer unter Umständen ein Leben lang unter den Folgen ihrer Taten leiden werden. Kein Verständnis für Mobber! Sorry!

  2. Es passiert auch durchaus, dass Kinder, die selber gemobbt würden, andere mobben, zumindest kann ich das aus meiner eigenen Erfahrung so sagen. Eigentlich müssten sie es besser wissen, aber Gruppenzwang, Hackordnung und Angst davor, wieder ganz unten zu sein verleiten einen auch zu keinem schönen Verhalten. Und auch das Gefühl, überlegen zu sein. Es ist sicherlich auch oft von Haus aus für die mobbenden Kinder schwer, aber ich glaube trotzdem, dass das nicht die einzigen Gründe sind. Auch selbstbewusste und in sich ruhende Kinder müssen sich von einer Gruppendynamik erstmal befreien.

  3. Einerseits richtig formuliert aber es geht leider wieder nur um die “ Täter“. Wie fühlt sich ein Mobbingopfer, das auch noch mit ansehen darf wie das “ Täterkind“ betreut wird und das Opfer selbst sehen darf wie es an Unterstützung kommt. Nicht missverstehen, Kinder die mobben müssen Strategien lernen wie sie gewaltfrei mit Druck umgehen können. Und natürlich muss da auf die Familie geschaut werden.
    Die sehr wichtige Aussage, die mir hier zu kurz kommt, ist Kinder zu EMPATHIE anhalten/ erziehen. Wenn es keine Mitläufer/ Stillhalter gibt, funktioniert Mobbing nämlich nicht. Das bedeutet allerdings, dass Erwachsene/ Eltern diese Stärke/ Courage selbst haben und vorleben können. Und Kinder Eltern erleben die nicht wegsehen.

  4. Hm, na ja, wenn es so einfach wäre… Kinder, die andere systematisch fertigmachen, haben alle Eltern, die daran schuld sind- meistens deshalb, weil sie ihr Kind nicht so lieben wie es ist.
    Ich bin Lehrerin und kann das so in dieser Oberflächlichkeit nicht bestätigen!
    Das Thema „Mobbing“ ist ein so aufgebauschtes und trotzdem komplexes Thema.

  5. Ohne den geäußerten Gedanken widersprechen zu wollen, dass Kinder das Verhalten der Eltern/ des Umfeldes kopieren bzw. durch solch Verhalten einen Mangel an Erfüllung von Grundbedürfnissen aufzeigen, möchte ich dennoch darum bitten die Perspektive nochmals zu erweitern und die Eltern nicht als Kindererziehungsmaschinen zu sehen, die einfach mal ihr Verhalten optimieren mögen, sondern als Menschen, die mit begrenzten Ressourcen, ihrem eigenen Päckchen und der Überforderung dieser Zeit jonglieren, und gleichsam wertschätzbare Erziehungsarbeit leisten, auch abseits der Idealvorstellungen.
    Bedingungslose Liebe und Wertschätzung kann man nur verschenken, wenn man sie erfahren hat und ebenso für sich selbst anwenden kann.

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