Mit allen Sinnen wachsen: Warum mein Kind so tickt wie es tickt

Mit allen Sinnen wachsen

Foto: pixabay

Ihr Lieben, früher – also als Kind – dachte ich, alle Menschen wären gleich. Manche kommen halt dünn zur Welt, andere fülliger, manche sind von Natur aus nett, andere streiten lieber. Wie viel davon selbst mitgebracht wird, wie viel dann auch an Umwelteinflüssen dazu kommt, das wir mit allen Sinnen wachsen, das hatte ich nicht auf dem Schirm.

Gerade durch meine einmalige Chance, eineiige Zwillinge durchs Leben begleiten zu können, habe ich quasi meine eigene kleine Sozialstudie zu Hause. Die beiden mögen die gleichen genetischen Grundvoraussetzungen haben, aber sie sind sehr verschieden.

Familie: Jeder und jede hat eine andere Wahrnehmung

Bestimmt auch, weil sich jeder seine Nische sucht. Der eine vielleicht gern mal als Klassenclown, der andere als Kummerkastenonkel, dem man Geheimstes anvertrauen kann. Wenn ich mir dazu unsere Tochter ansehe, die so ganz anders ist als die beiden, sind wir doch immer wieder erstaunt. Und stellen fest: Jeder und jede hat eine andere Wahrnehmung, nimmt Dinge anders auf, „funktioniert“ nicht auf die gleiche Art und Weise.

Unsere Kinder kommen ohne Gebrauchsanweisung daher und manchmal fasst man sich an den Kopf, weil man selbst vielleicht so ganz anders tickt. Kinder geben einfach oft auch Rätsel auf. Und um diese zu entschlüsseln, hat Familienberaterin und Bestseller-Autorin Inke Hummel (ihr kennt sie von ihrem Pubertätsbuch, von ihrem wunderbaren schüchternen Kind, ihrem Babyzeit-Buch, ihrem wunderbaren wilden Kind-Buch und ihrem SPIEGEL-Bestseller: Nicht zu streng, nicht zu eng) nun ein neues Buch geschrieben.

Mit allen Sinnen wachsen: Körpergefühl, Motorik, Konzentration, Miteinander

Es heißt: „Mit allen Sinnen wachsen: Körpergefühl, Motorik, Konzentration, Miteinander. Wie du die Superkraft der Wahrnehmung unterstützt“. Und ja, es kann als eine Art Gebrauchsanweisung oder Beipackzettel mit möglichen Nebenwirkungen im Erziehungsalltag begriffen werden. Nach der Lektüre, das garantiere ich euch, werdet ihr eure Kinder besser verstehen. Besser nachvollziehen können, warum sie wann wie ticken.

Wenn ihr also auch zu den Eltern gehört, die ab und zu mal sagen oder denken: „Diese Gezappel macht mich so wahnsinnig. Mit 5 Jahren muss man doch mal ein paar Minuten stillsitzen können, oder nicht?!“ oder: „Sie grätscht einfach immer dazwischen und macht damit unser Familienleben so schwierig!“ oder: „Er ist wie ein Faultier: so langsam und dazu auch irgendwie interessenlos“, dann könnten Inkes Worte für euch zum Augenöffner werden.

Sie richten sich an Eltern von Kindern zwischen zwei und sechs. Aber auch ich mit meinen größeren Kindern konnte nochmal viel rausziehen und wieder neu lernen. Danke für deine wertvolle, wertschätzende und ja, würdevolle Arbeit, liebe Inke. Und danke fürs Interview!

Liebe Inke, in deinem neuen Buch schreibst du darüber, inwiefern Wahrnehmung die Ursache für Alltagskonflikte sein kann. Wie kamst du auf die Idee?

Mit allen Sinnen wachsen
Inke Hummel. Foto: Benjamin Jenak/Veto Magazin

Ich habe beispielsweise im letzten Jahr etwa 400 Familien in der Beratung gesehen und in den meisten dieser Gespräche ging es um Konflikte zwischen Eltern und Kind. Die Ursachen waren natürlich unterschiedlich: Manche Eltern waren sehr distanziert oder autoritär, andere über eine zu lange Zeit sehr konfliktscheu, so dass dem Kind Leitplanken fehlten.

In vielen Familien fehlte Wissen dazu, ab welchem Alter man von einem Kind erwarten kann, dass es sich beispielsweise mitfühlend auch mal zurücknimmt oder wann andere Meilensteine in der Entwicklung anstehen. Und bei vielen Familien bemerkte ich, dass Stressmomente ihre Ursache darin hatten, dass die Großen nicht gut sehen können, was die Kleinen in dem Moment wahrnehmen:

Wie empfindlich ist die Haut des Kindes? Wie gut kann es spüren, wie fest es zugreift? Wie viel Hilfe benötigt es noch von Mund und Zunge beim Erfahren der Welt? Wie sicher ist es beim Einschätzen, wann sein Magen satt ist?

Wahrnehmung nach außen und auch nach innen in den eigenen Kinderkörper ist ein wichtiges Entwicklungsfeld, das Eltern noch zu wenig kennen, verstehen und begleiten können. Das möchte ich mit dem Buch ändern. Denn wenn wir einander besser kennen, müssen wir weniger aneinander verzweifeln und uns streiten.

Du bringst uns im Buch bei, die Abläufe von Wahrnehmung genauer er erkennen: Welche Unterschiede es von Mensch zu Mensch gibt. Und wie das beim eigenen Kind aussieht und wo es zu Schwierigkeiten kommen kann. Kannst du uns dazu mal ein Beispiel nennen?

Ein ganz simples Beispiel wäre die Empfindlichkeit beim Sehen. Die eine sitzt auf dem Sofa, möchte ein Buch anschauen und steht immer noch mal auf, um den gedimmten Deckenstrahler heller und heller zu machen. Der andere sitzt dort und hat selbst bei gedimmter Stufe das Gefühl, das Licht sei zu grell.

Ein anderes Beispiel ist die Auswahl von Reizen: Eine Person kann auf dem Bahnhof stehen und einfach nur auf die Lautsprecherdurchsage hören, um zu wissen, wo der Zug nun abfährt. Eine andere Person nimmt die Durchsage gleichberechtigt war mit dem Rattern der Züge, den Stimmen der Menschen, dem Geräusch der Rollen am Koffer.

Und wieder eine andere hört möglicherweise auch all das, aber ist zusätzlich noch damit zu Gange, den Geruch von der Würstchenbude und die hellen Sonnenstrahlen, die durchs Glasdach kommen zu verarbeiten. Wer kommt wohl am entspanntesten bei seinem Zug an? Und wer fährt am ehesten aus der Haut, wenn ihn oder sie jetzt noch jemand anrempelt?

Kann man Wahrnehmung trainieren?

Auf jeden Fall. Das tun wir alle, im Grunde schon vor der Geburt im Bauch, einfach durch die Tatsache, dass wir Reizen begegnen. Als Baby- und Kleinkind geht das kontinuierlich weiter und hängt davon ab…

  • …welche Wesensart wir mitbringen (Traue ich mich an Reize heran? Nehme ich mir Zeit, um Reize in Ruhe zu spüren?),
  • …in welchem Umfeld wir groß werden (Begleiten mich meine Eltern in einen wahrnehmungsstarken Alltag? Habe ich Gelegenheiten, meine Sinne zu nutzen?)
  • …und welche Wahrnehmungsfähigkeiten ich mitbringe (Wie schnell stressen mich Reize? Wie gut kann sich sie sortieren und bewerten?).

Naja, und im Grunde geht das „Training“ natürlich ein Leben lang weiter, indem ich mich im Alltag verschiedenen Reizen aussetze und nicht in einer dunklen Höhle vor mich hinstarre.

Dein Ziel ist es, mit diesem Buch mehr Entspannung in den Familienalltag zu bringen. Indem du uns erklärst, wie unser Kind sich und die Welt um sich herum wahrnimmt. Ist das letzten Endes eine Lehrstunde in Sachen Empathie? Dass wir uns besser hineinfühlen können, um dann adäquater reagieren zu können?

Mit allen Sinnen wachsen
Innige Liebe. Foto: pixabay

Empathie meint ja die Bereitschaft und Fähigkeit, bei anderen Menschen mitzufühlen. Sie umfasst natürlich mehr als nur Wissen um die Wahrnehmungsart des Gegenübers, nämlich beispielsweise auch die Beachtung, mit welchen kulturellen Werten jemand groß geworden ist. Das betrifft dann auch das Feld „soziale Wahrnehmung“, das in meinem Buch nicht auch noch Platz finden konnte.

Aber die rein körperliche Wahrnehmung ist schon ein so umfassendes Feld, und natürlich werden wir empathischer, wenn wir darum wissen, wie das alles funktioniert und wie unsere Liebsten sich hier von uns unterscheiden. Darum zeigt sich mir das Thema in den Familienberatungen als so relevant.

Es ist wie du sagst: Wenn wir uns damit auskennen, können wir auch unser Kind besser verstehen und sinnvoller begleiten. – Im Buch enthalten ist übrigens auch ein kleiner Exkurs zur Wahrnehmung bei Kindern mit besonderen Temperamenten: gefühlsstark und mehr hat nämlich auch auf die Wahrnehmung Einfluss.

Dein Buch ist trotzdem ein lebensnaher Ratgeber mit vielen Beispielen geworden…

Ganz genau. Es ist kein anstrengendes Fachbuch. Natürlich ist „Wie funktioniert Wahrnehmung?“ erstmal ein herausfordernderes Thema als „Wie funktioniert ein Salzstreuer?“ Aber ich habe es so leicht aufbereitet wie möglich und helfe den Leserinnen und Lesern durch Beispiele mit Besteckschubladen, Hosengrößen und Sortiermaschinen, die Komplexität einfach begreifen zu können.

Wenn hier jetzt eine Mutter mitliest, bei der es immer und immer wieder zu überforderten Situationen im Alltag kommt. Sagen wir etwa, immer morgens: wenn es schnell gehen muss und dann aber der Schuh drückt, die Jacke kratzt, der Schal weg ist… was rätst du dann?

Da rate ich tatsächlich zu einem fachlichen Blick von außen. Es kann eine besonders sensible Wahrnehmung der Haut dahinterstecken, aber es können auch bestimmte Erfahrungen oder der Erziehungsstil der Eltern Ursachen sein. Das ist das Herausfordernde am Wahrnehmungsthema: Bestimmte Symptome können darauf hindeuten, dass wir uns die Wahrnehmung genauer anschauen sollten, aber sie können auch eine andere Erklärung haben.

In meinem Buch gehe ich auf die verschiedenen Bereiche ein. Zu Erziehungsstilen und auch zu vielen Entwicklungsmeilensteinen gibt es inzwischen vieles an Literatur. Wahrnehmung ist aus meiner Sicht der Bereich, der noch fehlte, um alle Ursachen mitdenken zu können.

Manchmal vergleichen wir uns ja auch und denken: Das gibt´s doch nicht. Meine Freunde erziehen doch fast gleich, die Konstellation ist ähnlich… warum läuft es denn bei denen so rund und bei mir und meinem Kind (oder Kindern) nicht. Welche Fragen kann ich mir dann stellen?

Das ist eine ganz typische Aussage in meinen Beratungen: „Alle anderen können das schon.“ oder „Kein anderer macht da so einen Stress wie unser Kind.“ Deswegen sind der individuelle Blick und die Ursachensuche so wichtig: Liegt es an Belastungen im Umfeld des Kindes? Liegt es am Umgang von uns Eltern mit unserem Nachwuchs? Oder gibt es einen inneren Grund im Kind für diese Schwierigkeiten: vielleicht eine sehr langsame Wahrnehmungsentwicklung oder eine andersartige Wahrnehmung?

Da ist ja aber auch immer der Außenblick, da sind die Leute, die die Nase rümpfen und vielleicht meinen, wir hätten in der Erziehung versagt, unser Kind stelle sich an, sei „verwöhnt“, wie reagieren wir auf die?

Mit allen Sinnen wachsen
Foto: pixabay

Oh ja, das ist ein wichtiges Thema, das sicher fast alle Eltern kennen und jedes Elternteil sehr unterschiedlich verarbeitet. An einigen prallt das ab, andere stresst die Kritik sehr, sie stellen sich in Frage und werden unsicher und möglicherweise am Ende auch hart dem Kind gegenüber.

Im Umgang damit empfehle ich immer zwei Dinge:

  1. Selbst sicher darüber werden, warum es bei uns so läuft, wie es läuft. Verwöhne ich beispielsweise überfürsorglich oder gibt es andere Gründe?
  2. Wenn ich diese Sicherheit gefunden habe, sie anderen gegenüber klar zu vertreten. (Wer dabei Hilfe benötigt, dem mag ich mein Buch „Nicht zu streng, nicht zu eng“ ans Herz legen.)

Es gibt dazu auch dieses Sprichwort: Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht 1000 Schritte in seinen Schuhen gelaufen bist…

Ja, das passt hier supergut. Weder die anderen Erwachsenen, die euch kritisieren, wissen um alle Umstände, die in eurer Familie wirken, noch wisst ihr Eltern, was genau in eurem Kind abläuft, wenn ihr euch mit Wahrnehmung nicht befasst.

Wenn und mal alles zu viel wird. Hast du einen 5-Punkte-Plan für uns zur Rettung. Was dürfen wir dann gedanklich erstmal durchgehen? Und magst du uns noch einen kurzen allgemeinen Schlüssel zu mehr Harmonie im Familienleben mitgeben?

Vielleicht dies:

  1. Wissen wir gut über unser Kind und seine Entwicklung Bescheid oder brauchen wir Unterstützung?
  2. Wissen wir gut über uns selbst Bescheid und schauen uns ständige Konfliktmomente mal tiefer an, anstatt alles immer irgendwie hinzuwurschteln?
  3. Wie gut sind mein Kind und ich in Beziehung? (Wer hier einen Schmerzpunkt hat, dem mag ich sehr das Buch „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht)“ von Oliver Dierssen ans Herz legen.)
  4. Wer / Was könnte Hilfe und Entlastung bringen?
  5. Und wenn es eine Partnerschaft gibt: Wie gut geht es der? Was sollten wir ggf. verändern? (Manchmal ist nämlich hier eine mangelnde Kommunikation schon das, was alles so schwer macht.)

Ui, und „Harmonie im Familienleben“ ist ja gleich mal so eine große Hausnummer. Ich glaube allein der Gedanke daran ist schon der erste Schritt in eine Unzufriedenheit. Ohne Konflikte geht Beziehung nicht, egal welche Art von Verbundenheit. Weniger Konflikte können es werden, aber ein rosaroter Wolkenhimmel wird Familie nie konstant sein. Vielleicht ist das der allgemeine Schlüssel: sich aktiv mit den herausfordernden Themen befassen, Wissen erwerben und ggf. Hilfe holen, auf der anderen Seite aber annehmen, dass nur ein „gut genug“ zu erreichen ist, kein „perfekt“ – und dass das ausreicht, damit unsere Kinder gesund groß werden.

f639cc120328485abfc413273da6ed5f

Du magst vielleicht auch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert