Misophonie: Von der Unaushaltbarkeit von Schluckgeräuschen

Misophonie

Biance Gutzeit

Ihr Lieben, unsere Leserfrage zum Thema Misophonie hat für viel Resonanz gesorgt, etliche meldeten sich, dass ihre Kinder oder sie selbst auch keine Schluckgeräusche von Menschen ertragen. Wir dachten uns, wenn das ein so großes Thema ist, fragen wir doch mal Bianca Gutzeit nach ihrer Einschätzung zum Thema. Sie arbeitet als zertifizierte Hypnosetherapeutin, Hypnosecoach, Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Bioresonanztherapeutin und geprüfte MPU-Beraterin in einer eigenen Praxis in der Nähe von Hannover.

Das vielleicht noch vorab, Bianca Gutzeit sagt: „Die Forschung zum Thema Misophonie befindet sich noch in den Anfängen. Es gibt lediglich Hinweise, dass eine Überaktivierung bestimmter Hirnareale durch Triggergeräusche visuelle Reize oder Gerüche angeregt wird. Der Trigger selbst löst keine Emotion aus, sondern einen körperlichen Reflex aus, der vom vegetativem Nervensystem gesteuert wird. Dieser Reflex aktiviert eine extreme Emotion, weil das Gehirn den Reflex als Angriff deutet und der Organismus einen Kampf- oder Fluchtmodus aktiviert.

Seit Jahren unterstützen Sie Kinder und Jugendliche mit Misophonie in Ihrer Praxis – was hat sich über die Jahre am Krankheitsbild verändert?

Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass es sich um keine „Krankheit“ handelt, sondern um einen Reflex, der mit zahlreichen Körperreaktionen zusammenhängt. Eine Veränderung in der Entwicklung kann ich nicht beobachten, die Beschwerdebilder sind generell in unterschiedlichen Intensitäten ausgebildet.

Werden es eher mehr Fälle von Misophonie?

Statistiken vermuten, dass bis zu 15% der Menschen unter Misophonie leiden. Da sich das Wissen über das Beschwerdebild jedoch erst noch verbreitet, ist die Misophonie noch nicht ausreichend geläufig, um als solche erkannt zu werden. Ich vermute, es werden eher mehr Fälle, da die genetische Veranlagung eine Rolle spielen kann. 

Gibt es leichtere und schwerere Formen der Misophonie?

Es gibt unterschiedliche Schweregrade, die sich durch Fragebögen greifbarer bewerten lassen, zum Beispiel die „Amsterdam Misophonieskala„.

Worauf basiert die Misophonie? Ist das wie eine Art Tic?

Bei der Misophonie handelt es sich um eine Art Reflex mit körperlichen und emotionalen Reaktionen. Da das Thema noch nicht ausreichend erforscht ist und nicht in die Klassifizierung psychischer Erkrankungen aufgenommen ist, werden häufig Fehldiagnosen gestellt. 

Ist die Schwierigkeit, mit Schluckgeräuschen umzugehen angeboren – und damit also vererbbar?

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Die Trigger-Geräusche können weit über Schluckgeräusche hinausgehen, wie zum Beispiel Kratzgeräusche oder das Drücken von Kugelschreibern. Die genetische Disposition ist gegeben. Misophonie kann jedoch auch auftreten, weil ein Eltern- oder Geschwisterteil entsprechende Beschwerden aufweist und der Fokus entsprechend gelenkt wird.

In welchem Alter treten die meisten Fälle auf? Und womit hängt das zusammen?

Meist treten die Beschwerden im frühen Kindesalter auf und verstärken sich im Laufe der Jahre. Jedoch kann sich auch im späteren Erwachsenenalter ein misophonisches Störbild entwickeln. Eine Erklärung dafür ist bisher noch nicht bekannt.

Womit haben Menschen mit Misophonie vor allem zu kämpfen, körperlich und emotional?

Eine Misophonie geht meist mit großer Wut und Hassgefühlen einher. Die Gefühle richten sich häufig gegen (eigentlich) geliebte Mitmenschen. 

Welche guten Möglichkeiten haben Familienangehörige von Betroffenen, um gut durch den Alltag zu kommen?

Betroffenen sollte durch die Familienangehörigen die Möglichkeit gegeben werden, sich in Trigger-Momenten zurückzuziehen, allein zu essen, oder durch Kopfhörer eine Untermalung stattfinden zu lassen. Auch sollten die Ernsthaftigkeit der Beschwerden und die emotionale Belastung der Betroffenen respektiert werden.

Unterstützend kann sein, die Trigger zu identifizieren und zu vermeiden, bei unvermeidbaren Reizen einen Gehörschutz zu tragen, sowie Entspannungstechniken zu erlernen. Auch Selbsthilfegruppen können das Wohlbefinden Betroffener positiv beeinflussen.

Wo setzen Sie mit Ihrer Behandlung an?

Misophonie

Meine Arbeit setzt bei allen Symptomen der Misophonie an, die sehr individuell sein können. Gemeinsam arbeiten wir an den Triggern, an den Ursachen, an Emotionen und körperlichen Reaktionen. Eine reine Hypnose reicht hier nicht aus, vielmehr handelt es sich um die Anwendung verschiedenster Therapieformen. Betroffene sollten zu Hause parallel Entspannungsübungen durchführen, um die Wut wieder zu „verlernen“.

Ist Misophonie heilbar oder erlernen Betroffene einfach den Umgang damit?

Misophonie ist nicht heilbar, ein entsprechendes Coaching kann jedoch helfen, dass keine weiteren Trigger hinzukommen (was ohne Behandlung meist der Fall ist) und sich bestehende Trigger reduzieren. Wenn die emotionalen Netzwerke im Organismus nicht mehr befeuert werden, reduzieren sie sich über die Zeit. In Elterngesprächen ergibt sich manchmal, dass Vater oder Mutter selbst früher unter Misophonie litten, während sich die Beschwerden im Heute komplett gelöst haben. 

Was möchten Sie betroffenen Familien noch mit auf den Weg geben?

Gern gebe ich betroffenen Familien den Hinweis, dass es Sinn macht, sich Unterstützung zu holen, da sich Trigger häufig ausweiten und zu wutauslösenden Geräuschen auch optische Trigger hinzukommen können. Je früher man eine solche Hilfe in Anspruch nimmt, desto mehr Leid erspart man den Betroffenen. 

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4 comments

  1. Hallo Katharina,

    vielen Dank für Ihre spannende Frage.

    In der Tat hatte ich schon Gespräche mit Elternteilen, die mir berichteten, dass sie früher unter Misophonie litten, heute das Problem jedoch gar nicht mehr besteht.

    Bei allgemeiner Empfindsamkeit kann auch eine Hochsensibilität vorliegen. Dies ist zwar keine „Diagnose“, das Wissen kann jedoch den Umgang mit der eigenen Sensibilität erleichtern. Im Netz finden sich entsprechende Tests dazu.

  2. Hallo Frau Gutzeit!
    Vielen Dank für das interessante Interview. Mich interessiert besonders der Punkt mit der Wut. Sie schreiben eine Misophonie ginge meist mit großer Wut und Hassgefühlen einher. Ich habe im familiären Umfeld einen ähnlichen Fall, bei dem es aber um bestimmte Gerüche (von Geschirr aus der Spülmaschine) geht. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man wegen so etwas ausrasten kann und äußerst verletztende Dinge von sich gibt (Schuldzuweisung, dass der Geruch entstanden ist) und denke eigentlich, dieses Verhalten ist inakzeptabel und grenzüberschreitend. Daher war ich jetzt überrascht, dass Sie Wut und Hass im Zusammenhang mit Misophonie ohne Wertung nennen. Können Sie dazu etwas sagen….ist das auch ein Trigger…und Bedarf eines anderen Umgangs miteinander und Verständnis?

    1. Hallo Sarah,
      vielen Dank für Ihre interessante Frage.

      Ein Verständnis für diese Gefühle und Reaktionen aufzubringen, ohne selbst betroffen zu sein, ist in der Tat schwierig.
      Die beschriebenen Beschwerden klingen nach einem Trigger, jedoch kann ich hier nur vermuten. Solche Reaktionen können leider mit reiner „Beherrschung“ nicht reduziert werden, Betroffene sind dem zunächst unkontrolliert ausgesetzt.
      Genau daran arbeite ich mit meinen Klienten, unter Berücksichtigung der Gesamtsymptomatik.
      Gern darf sich Ihr Familienmitglied persönlich am mich wenden.

  3. Kann sich das auch verwachsen?
    bzw man damit später besser umgehen?

    ich war so froh als ich vor 1-2 Jahren auf das Thema gestoßen bin.
    Ich hatte das nämlich sehr extrem als Kind. Allein mit meiner Mutter in der ruhigen Küche, keine netten Gespräche, die waren immer komisch, und ihre Ess-und Trinkgeräusche haben mich immer soooo genervt. oder aggressiv, interessant, ich war nämlich damals auch sehr schnell aggressiv, hängt wahrscheinlich nicht nur daran aber mit ein Grund.

    Heute bin ich auch noch empfindlich aber nicht so sehr.
    Mein Mann mag immer Musik hören, von daher läuft beim Essen auch meist Musik, da hört man das andere nicht so laut.
    oder ich schaue aus dem Fenster ins Grüne und ignoriere die anderen 🙈.

    aber ich bin generell sehr Geräuschempfindlich.
    Hängt das vielleicht zusammen, wenn man in dem Sinnesbereich sowieso sehr empfindsam ist?

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