Ihr Lieben, immer wieder hören wir von Messerattacken, nun durften wir mit Yasin Güler sprechen, der ein solches Messerattentat knapp überlebt hat. Er war 21, als im Frühjahr 2023 ein Islamist in Duisburg in einem Fitnessstudio vier Menschen verletzte, drei von ihnen schwer. Yasin hat über diese Erfahrung ein Buch geschrieben. Es heißt: Vergeben statt vergelten. Uns hat er erzählt, was an dem Tag passiert ist und wie es ihm heute geht.

Lieber Yasin, im Frühjahr 2023, du warst grad 21, wurdest du in einem Duisburger Fitnessstudio von einem Islamisten brutal mit einem Messer angegriffen. Wie erinnerst du dich an diesen Tag?
Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Tag. Ich war vorher in Bochum, da ich dort an der Ruhr-
Universität Germanistik und Geschichte auf Lehramt studiere und nahm an einer Vorlesung teil. Zu dieser Zeit war ich noch sehr sportlich, weshalb ich mir an jedem Morgen vorgenommen hatte, nach der Vorlesung zum Training zu gehen.
Ursprünglich komme ich aus Oberhausen und gehe eigentlich dort trainieren, doch am 18.04.2023 traf ich eine alles verändernde Entscheidung. Ich beschloss, nach der Uni im Fitnessstudio John Reed in Duisburg zu trainieren. Als ich in der Umkleide angekommen war und mir gerade mein T-Shirt ausgezogen hatte, hörte ich einen lauten Hilfeschrei aus den Duschen und ehe ich mich versah, hatten sich meine Beine schon in Bewegung gesetzt.
Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Schrei. Mir war sofort bewusst, dass da ein Mensch gerade
um sein Leben geschrien hatte. Ich sollte den Hilfesuchenden jedoch nicht erreichen, denn auf der Hälfte der Strecke stieß ich mit einem Mann zusammen, der sich wenige Augenblicke später als Grund für die Hilfeschreie erweisen sollte.
Wenige Sekunden danach rief er etwas auf Arabisch und stach mir das Messer in die rechte Flanke. Damit hatte ich nicht gerechnet und ehe ich mich versah, war er auch schon weitergeeilt und mein Blut tropfte auf den kalten Boden der Umkleide. Ich blickte an mir herab und konnte ein riesiges Loch erkennen, aus dem viel Blut herausfloss. Mich ergriff die Panik und so rannte ich in Richtung Treppenhaus, um jemanden zu finden, der mir irgendwie helfen könnte.
Leider fand ich nicht direkt jemanden und ehrlicherweise kam ich auch nicht weit. Kurz vor der Frauenumkleide ging ich zu Boden, ich hatte einfach schon zu viel Blut verloren. Kurzzeitig verlor ich das Bewusstsein. Als ich meine Augen das erste Mal wieder öffnete, kniete ein Mann vor mir und drückte mir ein Handtuch auf die Wunde.
Der Mann, der dir half, wurde dann auch noch angegriffen…

Genau, das habe ich aber nicht selbst mitbekommen, das weiß ich also nur aus den Schilderungen anderer. Mein Helfer sagte später vor Gericht aus, dass der Täter in diesem Moment wohl noch einmal zurückgekehrt sei und – als dieser ihn auf dem Boden knieend entdeckt hatte – ihm zweimal ins Bein gestochen hatte. Der Mann floh und ließ das Handtuch auf meiner Wunde liegen.
Zu dieser Zeit war ich wieder bewusstlos und als ich dann wieder erwachte sah ich in das Gesicht einer jungen Frau, die sofort lebenserhaltende Maßnahmen einleitete. Sie war und ist auch heute noch mein Engel. Sie hielt mich bei Laune, sprach mit mir über mein Studium, mein Leben und das Training. Sie wusste ganz genau, was sie sagen musste, um mich wachzuhalten und ich war so dankbar, weil ich in diesen Momenten sehr schläfrig wurde und mich kaum halten konnte. Wenn ich mich dieser Müdigkeit hingegeben hätte, wäre ich wahrscheinlich in einen ewigen Schlaf gefallen.
Nach einer Stunde und einem Vorfall mit der Polizei (sie hatten sie mit der Waffe bedroht und dazu aufgefordert, von mir wegzutreten, doch sie hatte sich geweigert und weiter um mein Leben gekämpft), kamen endlich die Rettungskräfte und hievten mich auf eine Trage. Nun bemerkte ich die ersten Schmerzen. Es fühlte sich fast so an, als ob die Schwerkraft mich in den Boden stampfen würde und ich war erleichtert und froh, als ich mich endlich im Krankenwagen befand.
Die gesamte Zeit über hatte ich nur einen Gedanken: Werde ich meine Mutter wiedersehen? Diese Frage plagte mich und ich war froh, als ich auf einer Intensivstation in Duisburg wieder erwachte und in das Gesicht meiner Mama blicken konnte.
Welche Verletzungen hast du davon getragen – seelisch und körperlich?

Ich habe bei dem Angriff meine rechte Niere verloren. Die linke Niere hat aufgrund der vielen Operationen und des hohen Blutverlusts damals ebenfalls den Dienst eingestellt. Mittlerweile hat sie zwar wieder eine Funktion von 26%, aber das ist leider wirklich nicht viel. Diese fehlende Leistung hat natürlich auch enorme Auswirkungen auf meine Psyche und Physis.
Ich bin stets müde, kann kaum mehr Sport machen, kann nur ganz bestimmte Lebensmittel konsumieren und darf nicht zu viel trinken. Ich habe im Laufe der insgesamt 14 Operationen auch sehr viele andere Probleme entwickelt. Man musste mir die Gallenblase, den Blinddarm, einen Teil des Dickdarms und einen Teil der Leber entfernen.
Darüber hinaus hatte ich eine Bauchspeicheldrüsenentzündung und mehrere Lungenembolien. Auch Thrombosen haben mich in dieser Zeit geplagt, weshalb man mir beinahe die Beine hätte amputieren müssen. Das seelische Trauma habe ich, auch durch das Buch, gut verarbeitet, doch natürlich leide ich immer mal wieder unter den psychischen Folgen des Angriffs.
War dir in den Jahren zuvor schon einmal etwas Ähnliches passiert? Oder zumindest eine Bedrohungslage?
Es gab viele Momente, in denen ich mich nicht sicher fühlte, doch eine solche Situation war mir zuvor
noch nicht untergekommen. Natürlich hatten wir schon in unserer Jugendzeit immer wieder von
Messerangriffen gehört und waren dementsprechend besorgt und vorsichtig, doch keiner von uns
hätte je daran geglaubt, dass es uns vielleicht irgendwann mal treffen könnte.

Wer stand dir in der schweren Zeit bei, hattest du auch emotionale Begleitung durch einen Psychologen oder Notfallseelsorger?
Meine Mutter war meine wichtigste Stütze in dieser Zeit. Natürlich habe ich auch viele gute Freunde
an meiner Seite gehabt, doch meiner Mutter war die wichtigste Person an meiner Seite. Sie hat fast
fünf Monate lang auf einem Stuhl neben meinem Bett geschlafen, damit ich mich einigermaßen gut
fühlen konnte. Ich hatte in dieser Zeit eine starke Verlustangst und konnte deshalb nicht alleine sein.
Welche Strafe hat dein Angreifer bekommen?
Der Attentäter hat damals eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung erhalten, d.h. er wird das Tageslicht wahrscheinlich nie wieder sehen und das ist auch gut so. Trotzdem werden in vielen Fällen viel zu milde Urteile gesprochen. Wenn wir das Problem des Radikalismus, der im Übrigen von allen Seiten ausgeht, bekämpfen wollen, müssen wir Straftaten mit der vollen Härte des Gesetzes bestrafen.
Wie denkst du heute über den Täter?
Ich denke, dass er ein sehr armer Mann war, der in Deutschland keinen Anschluss gefunden hat und
deshalb leicht in das Netz der Islamisten geraten ist. Genau deshalb ist Integration so wichtig. Wenn er der deutschen Sprache mächtig gewesen wäre, hätte er sich sozialisieren können und diese Sozialisation hätte sehr wahrscheinlich Freundschaften entstehen lassen, welche ihm dann schlussendlich möglicherweise ins Gewissen geredet hätten.
Die Rekrutierer solcher Organisationen suchen sich immer die schwächsten Glieder der Kette heraus und geben diesen Menschen dann ein Gefühl von Zusammenhalt, dass sie so nie in unserer Gesellschaft erfahren haben. Er hätte sich integrieren müssen.
Schlussendlich geht es nun darum, neue Perspektiven gegen Gewalt zu finden, ohne unsere Prinzipien über Bord zu werfen und gleichzeitig realistisch an die Probleme heranzugehen. Dies erfordert einen Spagat, den unter anderem ich zu leisten bereit bin. Kommunikation und Inklusion dienen als Präventionsmaßnahmen und dies sollte das Ziel sein. Wir sollten die Vorfälle präventiv verhindern, anstatt immer nur nach Antworten auf bereits geschehene Anschläge zu suchen.
Wie hast du es geschafft, ihm zu vergeben? Und wie fühlt sich das an für dich seitdem?

Ich habe ihm vergeben, als ich seine leere Hülle vor Gericht sitzen sah. Es wirkte fast so, als ob er gar nicht anwesend gewesen wäre. Als er von der Vernichtung der Ungläubigen redete und klarstellte, dass für ihn auch die Muslime, die in Deutschland leben, die Feinde sind, entschied ich mich dazu, diesen Hass nicht in mir fortleben zu lassen.
Ich wurde im Laufe meines Lebens immer wieder mit Hass konfrontiert und als ich ihn dann so vor Gericht sah, wurde mir klar, dass ich diesen Teufelskreislauf durchbrechen musste. Seitdem hat sich vieles zum Guten gewendet. Ich lebe nicht mehr mit der Dialyse, mein Körper hat sich einigermaßen regeneriert und ich habe meinen Verlobten kennengelernt. Vergebung öffnet Türen. Hass lässt Räume einstürzen.
Was hast du aus der Messerattacke mitgenommen? Angst? Aber auch Dankbarkeit?
Es ist klar, dass wir nirgendwo wirklich sicher sind und dass es jedem passieren kann. Trotzdem appelliere ich an die Vernunft der Menschen. Diese radikalen Kräfte wollen uns spalten. Sie wollen uns auseinandertreiben und indem wir anfangen, uns gegenseitig zu bekämpfen, geben wir ihnen genau das, was sie mit diesen Anschlägen bezwecken wollen. Diese Anschläge sollten uns nur noch enger zusammenschweißen. Wir sollten nicht immer nur auf unsere Unterschiede achten, sondern viel mehr auf unsere Gemeinsamkeiten. Wir sind alle eins! Wir sind nur zusammen stark!
Heute stehst du für mehr Solidarität und Integration in der Gesellschaft ein. Wie genau machst du das?
Ich tue das, indem ich Dialog ermögliche. Ich versuche, mit meinem Buch neue Perspektiven gegen Gewalt und Hass zu erörtern, arbeite in einem Verein, welchen ich mit einigen guten Freunden gegründet habe, an der Prävention von Kriminalität und setze mich auch sonst immer wieder für Menschen ein, die niemanden haben. Ich möchte Menschen eine Stimme schenken, die keine Stimme haben. Das ist mein Anspruch!
Was braucht es, um Jugendlichen – egal welcher Herkunft – eine Perspektive jenseits von Hass und Extremismus zu bieten?
Es braucht ganz viel Aufklärung an den Schulen. Darüber hinaus pflegen wir mittlerweile keine gute
Gesprächskultur mehr. Wir sollten wieder miteinander reden. Die meisten Menschen reden heutzutage jedoch leider übereinander oder aneinander vorbei. Das ist ein sehr großes Problem!

Wie reagierst du auf populistische Abschiebesprüche einiger politischer AkteurInnen hierzulande?
Abschiebung ist in vielen Fällen eine logische Konsequenz und wichtig. Trotzdem dürfen wir aufgrund der Debatte nicht damit anfangen, alle Menschen in einen Topf zu werfen. Die Pauschalisierung nimmt immer weiter zu. Rassismus ist ebenfalls wieder an der Tagesordnung und Menschen, die seit mehreren Generationen hier leben und sich als Deutsche identifizieren wollen, bekommen immer wieder das Gefühl vermittelt, dass sie niemals Deutsche sein werden. Man kann nicht ständig von Integration reden, wenn man sie selbst aktiv verhindert. Integration ist ein gesellschaftlicher Akt, welcher von allen Parteien mitgetragen werden muss.
Was würde Deutschland in all seiner Vielfalt wirklich helfen?
Wir müssen uns unsere Fehler vergeben und endlich wieder in der politischen Mitte zusammenfinden. Es ist normal, dass es in einer Demokratie unterschiedliche Meinungen gibt. Diese Meinungen muss eine Demokratie aushalten können. Hass ist jedoch keine Meinung und somit untragbar. Wir stehen vor enormen Herausforderungen, doch ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auch diese Herausforderungen meistern werden. Gemeinsam!
1 comment
Ein beeindruckender, unglaublich starker junger Mann. Was für eine Haltung! Danke für das Interview.
Alles erdenklich Gute an Yasin, seinen Partner, seine Familie.