Meine Mutter gab acht Kinder weg – wie ich meine Geschwister wiederfand

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Ihr Lieben, neulich haben wir auf unserer Facebook-Seite danach gefragt, wer seine Geschwister/Eltern vermisst oder erst spät kennen gelernt hat. Es haben sich einige Leserinnen auf diesen Aufruf gemeldet, Birgit ist eine davon. Wir danken ihr sehr für ihre Offenheit. Es berührt und beeindruckt uns immer, wenn wir Eure Geschichten hören, wie tapfer Ihr Eure eigene Kindheit aufarbeitet und wie sehr Ihr gewillt seid, es besser zu machen.

Wir freuen uns immer, wenn Ihr uns schreibt und Lust habt auf ein Interview auf unserer Seite. Wer von sich, seiner Vergangenheit, seinem Beruf oder seinen Kindern erzählen möchte, kann sich unter info@stadtlandmama.de jederzeit melden!

Liebe Birgit, wie und wo bist du aufgewachsen? 

Ich bin mit 4 Jahren ins Heim gekommen, weil mein Vater Alkoholiker war und meine Mutter psychisch krank. Mit 12 Jahren bin ich dann zu einer Pflegefamilie, wo ich aber nur drei Jahre gelebt habe. Auf meinen Wunsch bin ich dann im Alter von 15 wieder ins Heim, bis ich 18 war.

Kannst du uns noch mehr über deine Eltern erzählen?

Mein Vater war selbst ein Heimkind, weil seine beiden Eltern Alkoholiker waren. Meine Mutter wuchs bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihren beiden Halbbrüdern auf. Mit 15 bekam sie ihr erstes Kind…

Du hast also Geschwister…

Ja, aber auch sie wurden alle im Alter zwischen 2-4 Jahren aus der Familie gegeben. Meine Mutter hat sich diverse Male scheiden lassen und immer wieder neu geheiratet. Sie dachte wohl immer: Mit DIESEM Mann wird alles anders. Leider war dem nicht so, die Männer hatten allesamt Alkoholprobleme. Insgesamt hat sie acht Kinder bekommen, ich war das letzte.

Was wusstest Du über Deine Geschwister?

Ich wusste von nur zweien: dem ersten Kind meiner Mutter und dem ersten Kind meines Vaters (mit einer anderen Frau). Beide waren bei meiner Geburt schon erwachsen. Als ich ins Heim kam, vergaß ich meine Schwester. Von den anderen Kindern wusste ich gar nichts.

Wie hast du dann von ihnen erfahren?

Als ich 12 war, meldete sich mein Onkel, der Bruder meines Vaters, und wollte mich kennenlernen. Er sagte mir, dass ich noch viele Geschwister habe. Ich war total schockiert und überfordert.
Es ist nicht in Worte zu fassen, was ich nach dieser extremen Nachricht fühlte, so viele Geschwister zu haben, die alle ein ähnliches Schicksal hatten. 

Hast du dich auf die Suche nach den Geschwistern gemacht?

Nein. Meine einen Schwester (das erste Kind meiner Mutter) trat wieder in mein Leben, als ich 20 war. Sie hatte den Wunsch, alle Kinder zusammenen zubringen. Ich war sehr skeptisch, muss aber auch sagen, dass ich auch eine gewisse Sehnsucht spürte. Aber ich fragte mich auch, wie sich diese Menschen für mich anfühlen würden. Sie waren ja total fremd und zudem mindestens 15 Jahre älter als ich…

Wie ging es weiter?

Meine Schwester hat sich dann an „Vera am Mittag“ gewandt. Das war eine TV-Show, die Menschen auf der Suche unterstützte. Das TV-Team hat uns auch wirklich geholfen, obwohl wir dann beschlossen haben, nicht öffentlich in der Show zu sein. Es war dann doch zu privat und zu emotional. Das TV-Team hat uns trotzdem unterstützt und tatsächlich alle gefunden.

Wie war der Tag, an dem ihr euch das erste Mal gesehen habt?

Es war seltsam, richtig seltsam. Es kamen nur vier von uns acht zusammen. Die anderen 4 wurden zwar auch gefunden, wollten uns aber nicht kennen lernen. Die anderen Geschwister waren teilweise von anderen Paaren adoptiert worden, einige waren in Heimen großgeworden, wieder andere in Pflegefamilien. Für mich waren es tatsächlich völlig fremde Menschen.

Zwei von ihnen wohnen ganz bei mir in der Nähe, eine sogar in der gleichen Stadt, aber sie wollte keinen Kontakt. Das kann ich gut verstehen. Wirklich. Denn das Ganze ist ungeheuer aufwühlend…

Es ist seltsam, dass ich jederzeit Geschwistern von mir begegnen könnte, ohne es zu wissen. Ich kenne ihre Vornamen, aber die Nachnamen (die sich durch Adoption und/oder möglicher Heirat verändert haben) nicht. Ich würde irgendwie gerne all meine Neffen und Nichten kennenlernen, vielleicht sind welche so alt wie ich oder wie meine eigenen Kinder.  Das wäre toll. 

Wie hat sich der Kontakt entwickelt?

Ich habe mit keinem meiner Geschwister heute mehr Kontakt. Es waren und blieben einfach fremde Menschen für mich. Und ich habe das auch aus Selbstschutz getan. Die meisten haben traurige Schicksale und ihr Leben nicht im Griff. Einer meiner Brüder hat ein Alkoholproblem. Ich kann zu Menschen, die ein Problem mit Alkohol haben, keinen Kontakt haben. Das kann ich nicht ertragen aufgrund meiner eigenen Historie….

Wie würdest du dein Leben heute beschreiben?

Es ist mir wichtig zu sagen, dass ich heute ein ganz normales Leben habe. Ich führe eine gute Ehe und habe drei Kinder. Nur leider haben wir keinerlei sonstige Familie.
Meine Mutter lebt noch, aber ich kann ihr nicht verzeihen. Mein Vater ist gestorben, als ich 10 war. 
Ich gebe meinem Vater keine Schuld. Alkoholismus ist eine furchtbare Krankheit, er hat oft versucht, mit dem Trinken aufzuhören, es aber nie geschafft.
Meine Mutter ist schwer seelisch krank. Auch deshalb kann man ihr nur bedingt Schuld geben. Aber ich habe null Verständnis dafür, dass ich gezeugt wurde, obwohl sie 7!! Kinder bereits vor mir weggegeben hat. 
Ich habe viele Therapien hinter mir, war in Selbsthilfegruppen für Angehörige von Alkoholikern, um mein Schicksal als Kind und Teenager aufarbeiten zu können. Für mich war es ein Segen, dass meine Mutter mich weggegeben hat. Im Heim hatte ich eine ganz tolle Erzieherin, die immer an mich geglaubt hat und immer für mich da war. Ich bin sicher, dass ich heute ein ganz anderer Mensch wäre, wenn ich bei meiner Mutter geblieben wäre. Sie hätte mich nicht erziehen können, hätte mir nie Nähe und Halt gegeben.

Tief im Inneren sehne ich mich aber auch nach einer große Familie. Viele, die wegen Kleinigkeiten über ihre Familien schimpfen, wissen gar nicht wie gut sie es haben. Immerhin sind sie Teil einer Familie und damit sehr reich beschenkt… 

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1 comment

  1. Liebe Birgit, was für schöne, berührende, ehrliche und reflektierte Worte du findest, mit denen du deine schwierige Geschichte erzählst, finde ich wahnsinnig toll!
    Vor allem dein Schlusssatz macht mich heute Abend noch dankbar und demütig.
    Dankeschön!

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