Ihr Lieben, das Wertvollste an Stadt Land Mama seid Ihr. Eure Geschichten, Eure Erfahrungen und Euer Vertrauen, uns davon zu berichten. Wir haben hier schon so viele unterschiedliche Frauen interviewt, kein Leben gleicht dem anderen. Und an jede von uns stellt das Leben vor andere Herausforderungen. Heute erzählt uns Nicoletta (36) von ihrer Kindheit ohne Mama – und wie sie das Leben mit den Großeltern geprägt hat.
Liebe Nicoletta, als deine Mutter starb, warst du erst zwei Jahre alt. Hast du noch Erinnerungen an sie?
Leider nicht. Ich habe ein paar wenige Fotos von ihr, so dass ich eine Ahnung davon habe, wie sie aussah. Meine früheste Erinnerung setzt ein, als ich von ihrem Tod erfahre. Ich weiß nicht genau wann das genau war.
Ich erinnere mich, dass ich immer gefragt habe, wann meine Mama wieder nach Hause kommt. Normalerweise beantwortete meine Oma diese Frage mit „Bald, Du weißt doch die Mama ist in der Schule“ – an diesem Tag war alles anders. An diesem Tag erzählte sie mir die Wahrheit, dass meine Mutter nie mehr heim kommen würde, dass sie tot sei. Ich sehe heute noch unser Wohnzimmer vor mir, den Sessel in dem sie saß, als sie es mir sagte, die Gardinen am Fenster… und ich weiß was ich darauf erwiderte.. ganz kindlich unbedarft: „Ich will mal nie tot gehen“.
Du bist dann bei deinen Großeltern aufgewachsen, was waren das für Menschen? Hattest du noch Geschwister?
Meine Großmutter war eine bildhübsche Frau, die sich ihrer Wirkung durchaus bewusst war. Sie stand gern im Mittelpunkt und konnte auch schon mal ungemütlich werden, wenn es nicht um sie ging. Leider litt sie an manischen Depressionen. Sie war kein einfacher Mensch, aber sie war von Herzen gut. Für Ihre Kinder (und Enkel) hätte sie ihr letztes Hemd gegeben, gekämpft wie eine Löwin.
Mein Großvater war zu gut für diese Welt. Er war ein unglaublich intelligenter Mensch und sehr lieb. Er war für seine Generation – er ist 1940 geboren – sehr fortschrittlich, insbesondere was die Gleichberechtigung der Geschlechter betrifft. Ein Mädchen stand bei ihm einem Jungen in nichts nach und so brachte er seinen Mädels auch das Heimwerken bei. Dafür bin ich ihm sehr dankbar… noch heute denke ich bei jeder Wand, die ich streiche, bei jedem Laminat, das ich verlege, an ihn.
Geschwister hatte ich zunächst keine. Später dann einen Halbbruder, den mein Vater mit seiner Frau bekam. Aber leider hat sich da nie so ein richtiges Geschwisterverhältnis eingestellt.
Meine Mutter war 15 ½ als ich geboren wurde – noch keine 18 als sie starb, meine Eltern waren nie wirklich ein Paar. Ich war sozusagen ein Unfall, das Ergebnis eines heißen Sommers.
Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, ist für mich heute wie eine große Schwerster, mit ihrem Sohn, der nur 5 Monate jünger ist als ich, bin ich aufgewachsen. Er ist für mich wie ein Bruder.
Mit 7 Jahren erreichte dich dann der nächste Schlag, deine Oma erkrankte an Leukämie, es folgten Therapien und etliche Krankenhausaufenthalte..
Ja, ich hatte solche Angst um meine Oma. Wobei ich ja gar nicht wusste, was das bedeutet – „lymphatische Leukämie“. Es war 1991, man sagte meiner Oma, dass es eine klinische Studie für ein neues Mittel aus den USA gäbe, das aber in Deutschland noch nicht zugelassen sei. Da ihre Aussichten schlecht standen, entschied sie sich für diese Therapie. Sie sagte immer, sie habe meiner Mutter am Grab geschworen, sich um mich zu kümmern, also müsse sie überleben.
Richtig Angst machten die Komplikationen, die Begleiterkrankungen. Die Haare fielen aus, ihr Immunsystem war so schwach, dass eine Ohrentzündung sie fast ihr Leben gekostet hätte, danach war sie auf einen Ohr taub. Sie bekam eine tuberkolose Hirnhautentzündung, die war so schlimm, dass sie Wochen auf der Intensivstation lag. Als ich endlich wieder zu ihr durfte, erkannte sie mich nicht.
Es folgten Schlaganfälle, Herzinfarkte, aber all das hat sie nicht klein bekommen. Sie überlebte! 3 Ausbrüche der Krankheit hat sie gemeistert, 24 Jahre lebte sie noch nach der Erstdiagnose – der 4 Ausbruch wurde nicht mehr behandelt.
Wer hat sich in dieser Zeit um dich gekümmert?
Wenn meine Oma im Krankenhaus war, kümmerte sich hauptsächlich mein Opa um mich, unterstützt von meiner Tante. Mein Opa hatte nur einen „Aushilfsjob“ Er trug morgens die Tageszeitung aus. Wenn er arbeiten ging, schlief ich noch. Wenn er mit seinen Touren fertig war, weckte er mich, machte meine Pausenrote, brachte mich zur Schule. Dann legte er sich noch mal hin, damit er fit war, wenn ich mittags aus der Schule kam. Oft sind wir dann zu meiner Oma ins Krankenhaus gefahren, mit dem Zug oder dem Fahrrad – ein Auto hatten wir nicht.
Deine Tante und dein Onkel, also die Geschwister deiner verstorbenen Mutter, fanden dann mit dem Übergang zur weiterführenden Schule, dass es besser für dich wäre, aufs Internat zu gehen. Wie hast du das damals aufgenommen? Konntest du dir das vorstellen?
Eigentlich habe ich mich darauf gefreut, meine Tante und mein Onkel wussten schon, wie sie es mir „schmackhaft“ machen. Ich hatte keine Vorstellung, wie es sein würde die Woche über nicht zu Hause zu sein. Aber ich hinterfragte es auch nicht, ich war ja gerade erst 10 Jahre alt.
Ich weiß, dass meine Tante und mein Onkel die besten Absichten hatten und ich bin ihnen heute dankbar dafür.
Wie waren die ersten Wochen dort mit so vielen Gleichaltrigen?
Die ersten Wochen waren aufregend, auch ein bisschen beängstigend. Plötzlich ist man da allein, mit vielen Fremden. Man kennt die anderen Kinder nicht, die Erzieher nicht, die Lehrer nicht. Das Schulhaus war gefühlt riesig und ich verlief mich auch anfangs immer mal.
Ich fühlte mich sehr freundlich aufgenommen, der damalige Leiter des Internats war ein sehr charismatischer, unglaublich liebevoller Mensch, er hatte etwas Großväterliches. Die Erzieherin war eine kleine, rundliche Frau, sie wirkte auf den ersten Blick streng, war aber sehr freundlich, ich mochte sie sehr.
Ich kam in ein Zimmer mit zwei weiteren Mädels in meinem Alter. Ein Mädchen kam aus dem gleichen Ort wie ich, ich kannte sie aber bis dahin noch nicht. Die andere kam aus einer Familie mit asiatischen Wurzeln. Ihre Eltern hatten ein chinesisches Restaurant, ihre Mutterbrachte uns ab und zu etwas Leckeres zu Essen mit. Das war toll.
Wir alle drei gingen in verschiedene Klassen, verbrachten aber die Nachmittage hautsächlich gemeinsam. Es fühlte sich ein bisschen an wie „Klassenfahrt“.
Welche Rolle spielen deine eigene Mama und deine Oma noch in deiner Erinnerung?
Spätestens, wenn sich der Geburtstag oder der Todestag meiner Mutter nähern, denke ich viel an sie – gerade weil ich jetzt selbst Mutter bin. Es sind immer noch so viele Fragen. Die Umstände ihres Todes sind – zumindest für mich – noch immer unklar und ich habe niemanden, den ich fragen kann. Die, die damals dabei waren, haben nie gesprochen.
Für mich bleibt der Tod meiner Mama ein Unfall, aber es gibt auch Menschen, die meinen, es wäre Suizid gewesen. Ich will das aber nicht glauben, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass man sein kleines Mädchen zurück lässt. Außerdem hatte mein Mutter große Pläne, sie war wieder verliebt. Wollte, wenn sie 18 wird, mit mir bei ihren Eltern ausziehen, heiraten…
Ich erinnere mich nicht an meine Mama – aber ich trage sie in meinem Herzen und meine Tochter trägt ihren Namen.
Ich habe meine Oma noch viele Jahre begleitet, Jahre in denen die Erkrankung gnadenlos zuschlug, die Demenz sie einnahm und von ihr nichts mehr übrig blieb. Es waren anstrengende Jahre, die mich und meine Familie viel Kraft kosteten.
Nachdem mein Großvater nach recht kurzer schwerer Krankheit verstarb, war sie allein und das konnte sie nicht ertragen. Es war für uns alle schwer, ihr gerecht zu werden. Das letzte halbe Jahr war sie im Pflegeheim. 14 Tage nach der Geburt meines zweiten Kindes starb sie. Ich habe lange gebraucht, um diese letzte Zeit zu verarbeiten – mich nicht nur an die demente, garstige, kranke Frau zu erinnern, sondern an die Kämpferin, die nicht aufgegeben hat, um ihr Versprechen einzulösen. Ich habe aber inzwischen meinen Frieden mit ihr gemacht und vermisse, die Frau, die sie einst war.
2 comments
Leute, die ihre Eltern lange haben durften, werden die Schwierigkeiten von Menschen mit früh verstorbenen Eltern nie verstehen.
Ich habe kaum Erinnerungen an meine Mutter, aber immer sehr Mühe mit dem Verlust. Ich werde auch Leute nie verstehen, die negativ über ihre Mutter reden.
Seit gut 6 Jahren bin ich nun auch aelter, als es meine Mutter werden durfte, seither ist alles irgendwie noch schwieriger.
Jeden Abend schaue ich aus dem Fenster und wünsche ihr gute Nacht, und manchmal fehlt mir einfach die Kraft für alles.
Danke liebe Nicoletta, dass du diese deine Geschichte erzählt hast. Sie hat mich sehr berührt.
Ich wünsche dir und deiner Tochter alles Liebe.
Karen