Interview mit einer Sportwissenschaftlerin: Wieviel sollte mein Kind sich bewegen?

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Ihr Lieben, bewegen sich eure Kids ausreichend? Und was heißt eigentlich ausreichend? Sollte größere Kinder mehr Sport machen als jüngere? Klar ist: Studien zeigen, dass es einen großen Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen gibt.“ Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen dringenden Handlungsbedarf, um Kinder und Jugendliche wieder zu mehr körperlicher Aktivität zu motivieren. Es müsse verhindert werden, dass aufgrund von Bewegungsmangel eine Generation heranwächst, die mit gesundheitlichen Folgeschäden zu kämpfen hat“, heißt es in der Erklärung zur Studie.

Wir wollten das genauer wissen und haben daher mit Katrin Adler, Sportwissenschaftlerin und Mama von zwei Mädchen, gefragt: Warum machen immer weniger Kinder Sport? Und warum profitieren Kinder eigentlich so sehr von körperlicher Aktivität?

Liebe Frau Adler, es gibt Studien, dass immer weniger Kinder regelmäßig Sport machen würden.

Wenn wir auf das „regelmäßige Sport machen“ von Kindern aus der Perspektive eines gesunden Aufwachsens schauen, macht es Sinn sich zunächst die Besonderheiten des Bewegens und Sporttreibens von Kindern anzuschauen. 

Ganz typisch ist, dass vor allem junge Kinder sich im Alltag und ebenso bei Kindersportangeboten eher in kurzzeitigen, sich immer wieder abwechselnden Phasen hoher, niedriger oder mittlerer Intensität bewegen. Selbst im Grundschulalter bewegen sich Kinder bei Spiel und Sport kaum 10 Minuten am Stück so intensiv, dass sie dabei ins Schwitzen und Schnaufen kommen. Diese mittlere bis höhere Bewegungsintensität wird vor allem für die Herzkreislaufgesundheit von Kindern und die Prävention von Übergewicht als wichtig eingeschätzt.

Kinder sammeln über den ganzen Tag hinweg viele Momente dieser gesundheitswirksamen „Bewegungszeit“: Sie laufen z. B. morgens zur Kita oder Schule, haben dort einen bewegungsaktiven Morgenkreis oder Unterrichtsbeginn, klettern oder spielen mit Bällen im Außengelände der Kita oder in der Pause auf dem Schulhof, haben Bewegungs- oder Sportstunden, fahren am Nachmittag mit dem Rad zu Freunden oder per Laufrad zum Kindersport.

Gehen zu Fuß mit den Eltern einkaufen, toben auf Spielplätzen, skaten auf Plätzen, erkunden Natur oder naturnahe Räume, springen vor dem Einschlafen noch wild auf dem Bett herum. Dabei bewegen sie sich in unterschiedlichsten Formen: laufend, springend, rollend, sich drehend, kletternd, balancierend, schaukelnd, schwingend, stützend, tanzend, werfend, fangend, sich raufend, kämpfend, rutschend, gleitend und entwickeln täglich ihre motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter.

Das hört sich doch ziemlich gut an….

Ja, Statistiken zum Kindersport im Verein oder bei anderen Anbietern zeigen seit einigen Jahren einen stetigen Zuwachs an regelmäßig sporttreibenden Kindern in Deutschland. Die Zahl der Kinder in Sportvereinen und deren sportliche Aktivitätszeit hat nach den Corona-Jahren längst das Niveau von 2020 wieder erreicht. Überdies lässt sich seit Jahren ein zunehmend früherer Einstieg von Kindern in Sportvereine, bereits im Alter von 0-2 Jahren, verzeichnen. So sind aktuell circa 25% der 1-6-jährigen Mädchen und Jungen in Sportvereinen aktiv. Bei den 7-14-Jährigen treiben rund 57% der Mädchen und 78% der Jungen Sport im Verein. 

Warum heißt es dann, dass Kinder weniger Sport machen würden als früher?

Weil Kinderbewegungs-Studien seit Jahren von einer deutlichen Abnahme der körperlich-sportlichen Aktivität draußen im Freien und bei der Wegbewältigung berichten. Und dieser Rückgang scheint durch das vermehrte sowie frühere Bewegen und Sporttreiben im Verein oder bei anderen Kindersportanbietern nicht kompensiert zu werden! So erreicht nur circa ein Drittel der Kinder die Empfehlung für eine gesundheitswirksame Bewegungszeit im Umfang von durchschnittlich 60 Minuten mittlerer bis anstrengender körperlicher Aktivität am Tag.

Dabei bewegen sich Mädchen und Jungen im Kindergartenalter mehr als im Grundschulalter. Wichtig ist hier zu sagen, dass die Teilnahme an organisierten Kindersportangeboten die gesundheitswirksame Bewegungszeit erhöht. Von angeleiteten Bewegungsstunden profitieren vor allem Kinder, die beim freien Spielen und Sporttreiben nur moderat bis wenig bewegungsaktiv sind.

Woran liegt es, dass Kinder sich allgemein zu wenig bewegen?

Viele Ursachen für diese Veränderungen werden schon sehr lange diskutiert: Zum einen die Verbauung von Spiel- und Bewegungsräumen im wohnnahen Umfeld, zum weiteren die verminderte Sicherheit der Kinder durch (viel) befahrene Straßen, aufgrund derer Kinder typische Spiel-, Sport- und Bewegungsorte oft nicht mehr allein erreichen können. Das Straßenspiel ist seltener geworden. Es hat sich vermehrt in den „sicheren“ Garten hinterm Haus, auf Spielplätze, naturnahe Orte oder nach drinnen verlagert. Nach drinnen zu eher sitzendem Spielen und medial bestimmten Aktivitäten.

Hinzu kommen viele Termine die Kinder nachmittags wahrnehmen: Z.B. Musikschule, Spielangebote, Ergotherapie, Forscher-Kurse und Kindergeburtstagsfeiern. Längst sind Eltern zu „Türöffnern“ für Orte der Bewegung und des Sporttreibens geworden. Sie sind „Ermöglicher“ von Teilhabe an informeller und formeller körperlich-sportlicher Aktivität. Und sie sind „Vorbilder und Vermittler“ vielzähliger Draußen-Spiele, vor allem dort, wo es keine altersheterogenen Spielgruppen mehr vor der Haustür gibt. 

Warum ist Sport für Kinder eigentlich so wichtig? Wie profitieren sie körperlich davon?

Kinder, die viel körperlich-sportliche Aktivitätszeit im Tagesverlauf sammeln, sind im Durchschnitt motorisch fitter: Sie ermüden z.B. nicht so schnell bei körperlich anstrengenden Waldtagen des Kindergartens, haben mehr Kraft ihren Vesper-Rucksack und einen dicken Ast aus dem Wald zurück zu tragen, sind schneller bei Fangespielen, Balancieren sicherer über Baumstämme und landen sicherer beim Absprung, sie orientieren sich besser und reagieren schneller wenn beim Toben im Wald Baumstümpfe im Weg stehen, springen gezielter mit Anlauf über einen Bach.

Viele und v.a. vielfältige Bewegungserfahrungen fördern motorische Kompetenzen, die nicht nur an Kindergarten-Waldtagen von Vorteil sind, sondern auch im Alltag von Schulkindern. Körperlich-sportlich aktive Kinder sind seltener übergewichtig, verfügen über eine bessere Herzkreislaufgesundheit und eine größere Knochendichte, die vor Brüchen schützt. Kinder, die sich viel draußen im Freien bewegen haben überdies ein geringeres Risiko für Kurzsichtigkeit, v.a. nach dem Einstieg in die Schule. 

Stärkt Sport auch die kindliche Psyche?

Kinder, die sich bei Bewegung, Spiel und Sport regelmäßig verschiedensten Bewegungsaufgaben stellen, die mal allein und mal in der Gruppe zu bewältigen sind, entwickeln dabei eine gute Selbstregulationsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. Häufig bedarf es beim bewegungsaktiven Spielen und Sporttreiben eines Übens, Wiederholens und erneuten Ausprobierens, bis eine Bewegungsaufgabe, Spieltaktik o.ä. gelingt.

So eröffnet sich Kindern über vielfältige körperlich-sportliche Aktivitäten eine Erfahrungswelt die regelmäßig Selbstwirksamkeitserleben ermöglicht und zugleich die intrinsische Motivation zum Ausprobieren und Dranbleiben stärken kann.

Über Erfahrungen des Gelingens oder Nichtgelingens, des Gewinnens und Verlierens im Kontext von Bewegung und Sport auf alters- und kindgerechte Art bieten sich zahlreiche Momente zur Entwicklung der Selbstregulationsfähigkeit. Beachtenswert ist, dass ein Mehr an gesundheitswirksamer Aktivität im frühen Kindesalter mit einer höheren motorischen Kompetenzerwartung im Schuleintrittsalter einherzugehen scheint.

Vor allem die verstärkte Durchblutung des Gehirns bei körperlich-sportlicher Aktivität mit höherer Intensität bewirkt eine höhere Konzentrations- und Merkfähigkeit bei Kindern. Diese Befunde befürworten, nein empfehlen mit Nachdruck die Chancen eines bewegten Lernens zu nutzen, im Kindergarten, in der Schule und Zuhause bei den Hausaufgaben. Das Bewegen draußen in Naturräumen wirkt bereits bei Kindern stressreduzierend, fördert die kognitive Erholung und ein höheres Wohlbefinden.

Gibt es eine Empfehlung, wie viel Kinder sich pro Tag/pro Woche bewegen sollten?

Ja, diese gibt es. Den nationalen Empfehlungen (Rütten & Pfeifer, 2016) zufolge sollen sich 0-bis 3-jährige Kinder so viel wie möglich in sicherer Umgebung bewegen und möglichst wenig in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt werden. 

Für 4- bis 6-jährige Kinder werden täglich mindestens 180 Minuten angeleitete und nicht angeleitete Bewegungszeit empfohlen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2019) fügt hinzu, dass sich Kindergartenkinder 60 dieser 180 Minuten in einer mittleren bis hohen Intensität bewegen sollen. Sitzende Tätigkeiten sollen auf ein Minimum reduziert werden. Für Bildschirmzeiten liegen die Empfehlungen bei so wenig wie möglich, maximal 30 Minuten/Tag. 

Grundschulkindern (6-10-Jährige) wird eine tägliche Bewegungszeit von 90 Minuten und mehr in mittlerer bis hoher Intensität empfohlen. 60 Minuten davon können durch Alltagsaktivitäten, wie z. B. mindestens 12.000 Schritte/Tag, gesammelt werden. An zwei bis drei Tagen pro Woche wird zur Verbesserung von Kraft und Ausdauer eine höher intensive Beanspruchung angeraten. Sitzende Tätigkeiten sollen auch in dieser Altersgruppe soweit wie möglich minimiert, Bildschirmmedien so selten wie möglich, maximal 60 Minuten/Tag genutzt werden.

Diese Empfehlungen basieren vor allem auf Übersichtsarbeiten, die sehr viele neuere Studien zu Bewegung und ihren Gesundheitseffekten zusammengefasst analysiert haben.

Es heißt, Mädchen würden weniger Sport machen als Jungs. Warum ist das so?

Tatsächlich nehmen Mädchen, vor allem ab dem Grundschulalter seltener an organisierten Sportangeboten teil als Jungen. Auch erreichen deutlich weniger Mädchen als Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter die körperlich-sportlichen Bewegungsempfehlungen. Und das zeigt sich ebenso bei Jugendlichen und Erwachsenen. Dieses Phänomen ist in vielen Ländern um uns herum zu beobachten. Diese Geschlechterdifferenzen lassen sich bereits bei Dreijährigen feststellen.

Diese Unterschiede werden vor allem unserem bewegungssozialisierenden Verhalten zugeschrieben. Wir unterstützen Jungen stärker ihren Bewegungsdrang über weitläufige und tobende Spiele auszuleben, Mädchen eher über koordinativ fördernde sowie weniger riskante Spiele im nahen Umfeld. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten wider. Erwartungshaltungen, Kompetenzzuschreibungen und Identitätsangebote werden sehr früh schon über geschlechterspezifisch bereitgestellte Bewegungsgelegenheiten – weitestgehend unbewusst – an Jungen und Mädchen weitergegeben und von diesen eingeübt.

Wenn mein Kind so gar keine Lust auf Sport hat – wie kann ich es motivieren?

Verbringen Sie mit Ihrem Kind so viel Freizeit wie möglich draußen im Freien, denn Draußen finden sich in der Regel mehr Bewegungsanreize als in Innenräumen. Versuchen Sie viele Wege zu Fuß oder mit Roller, Laufrad oder Fahrrad zu bewältigen. Es geht gar nicht unbedingt um sportliches Aktivsein, sondern um das Sammeln vieler Bewegungsmomente im Tagesverlauf. Suchen Sie wenn möglich naturnahe oder Naturräume auf, denn dort findet ihr Kind viele anregende Dinge, die es zu erkunden gibt.

Überlegen Sie sich ein bewegtes Familien-Ritual, das Sie täglich umsetzen, z.B. eine Hampelmann-Challenge abends vor dem Zähneputzen. Bewegen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind, werden Sie z.B. auf Spielplätzen zum bewegungsaktivsten Eltern-Kind-Paar.

Stellen Sie sich gemeinsame Bewegungsaufgaben und zeigen Sie, wie viel Spaß Sie selbst am Ausprobieren haben: Wie viele Treppenstufen finden wir in unserem Wohnumfeld. Spielen Sie mit Ihrem Kind die Draußenspiele Ihrer Kindheit. Verstecken Sie einen Schatz und suchen Sie ihn gemeinsam abends mit der Taschenlampe. Stellen Sie mit Ihrem Kind einen Pool an Bewegungsaktivitäten für gutes und schlechtes Wetter zusammen, dann haben Sie schnell und spontan Ideen zur Verfügung.

Schließen Sie sich den Aktivitäten anderer Familien an und probieren Sie aus, was Sie mit Ihrem Kind noch nicht gemacht haben: einen Sonnenaufgang auf einem Berg erleben, ein Picknick mitten im Wald, von irgendwo aus nach Hause laufen. Gemeinsam mit anderen Kindern lässt es sich leichter unterwegs und bewegungsaktiv sein. Suchen Sie Geheimwege oder Kraxelpfade aus, die Sie mit Ihrem Kind begehen. Ich empfehle Ihnen das Internet nach kleinen „Mikroabenteuern für Kinder“ zu durchsuchen und wünsche viel Spaß beim Ausprobieren!

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