Ihr Lieben, sobald die Kinder auf die weiterführende Schule kommen, sind sie täglich mit Hunderten von anderen Kindern und Jugendlichen im Kontakt. Als neulich eine Jugendliche mit Ritzungen am Arm im Bus unserer Kinder saß, hatten sie viele Fragen. Jugendliche Selbstverletzungen? Was hat es damit auf sich? Das haben wir Nadège Tebiro, Dipl. psychlogische Beraterin und Dipl. Stressmanagement Trainerin gefragt.
Liebe Frau Tebiro, neulich kamen meine Kinder nach Hause und erzählten, dass sie am Arm einer Schülerin an ihrer Schule Ritzungen gesehen haben. Wie kann ich da als Mutter drauf reagieren, wie erkläre ich ihnen, was da los ist?
Als Mutter sollten sie ruhig reagieren, keine geschockten Äußerungen von sich geben und Interesse für die Beobachtungen signalisieren. Sorgen Sie für eine angenehme sowie störungsfreie Atmosphäre und geben Ihrem Kind folgende Informationen mit:
– Kinder, die sich selbst verletzen, haben seelischen Kummer und nicht gelernt, damit umzugehen.
– Sie spüren starken Stress wie innere Anspannung, unangenehme Gefühle oder eine innere Leere, die sehr groß und nicht aushaltbar sind.
– Das Verletzen der Haut wirkt wie ein Ventil, weil der innere Schmerz auf den Körper übertragen wird und das Kind dann ablenkt.
– Das Kind kann den seelischen Schmerz nicht kontrollieren, aber die Art und Weise, wie es sich verletzt. Deshalb denken diese Kinder, dass das Verletzen der Haut eine Lösung sei.
Jugendliche Selbstverletzungen: Was, wenn Eltern die bei ihren eigenen Kindern feststellen oder Lehrkräfte bei ihren SchülerInnen, wie sollten sie reagieren?
An Eltern und Lehrkräfte: Informieren Sie sich vor dem Gespräch über das Symptom selbstverletzendes Verhalten. Für Bezugspersonen gilt: kein geschocktes Verhalten an den Tag legen und nicht mit Vorwürfen, Wertungen oder Ratschlägen ankommen. Betroffene haben meistens ein Vertrauensproblem. Aus Misstrauen sprechen sie meist nur mit Gleichaltrigen und haben Schwierigkeiten, sich zu öffnen. Wenn Bezugspersonen negativ reagieren, bestärken sie das Kind in dem Glauben: „Ach, hätte ich doch bloß nichts gesagt.“
Bleiben Sie ruhig, zeigen Sie Verständnis für den Hilferuf und Interesse für das eigentliche Problem. Meistens öffnen sich Kinder lieber gegenüber einer Fachperson als im näheren Umfeld. Hilfreiche Sätze können sein:
a) „Ich möchte dir helfen und dich verstehen.“
b) Reagiert ihr Kind zögerlich, schreiben Sie ihr/ihm einen ganz persönlichen Brief.
c) Wenn das Kind dicht macht: „Ich kann dir helfen, die richtige Person zu finden, die dich unterstützen kann.“
Zusätzlich sollte übertriebene Aufmerksamkeit unbedingt vermieden werden, da das Kind sonst zur falschen Annahme kommt, dass selbstverletzende Handlungen durch erhöhte Aufmerksamkeit „belohnt“ werden. Die Hautstellen sollten auch nicht durch auffällige Wickel oder Pflaster zur Schau gestellt werden.
In der Schule könnten Lehrer beispielsweise Betroffenen eine Notfallkarte geben, die vorgezeigt wird, um bei erhöhtem Drang den Schulraum verlassen zu können und Bewältigungsmaßnahmen anzuwenden. Natürlich geht dies nur bei Schülern, die kompetent sind und das nicht sinnlos ausnutzen würden.
Laut Studien gibt jede/r dritte Jugendliche an, sich schon mal bewusst selbst verletzt zu haben. Woher kommt dieser Drang, was löst der Schmerz in den Kindern aus?
Der Selbstverletzungsdrang ist ein stummer Hilferuf durch eine unerträgliche seelische Belastung, wo Kinder ein Ventil suchen, um den seelischen Schmerz zu bewältigen. Oft (aber nicht immer) liegt ein traumatisches Erlebnis wie körperliche Gewalttaten, sexueller Missbrauch, innere Leere, Mangel an Zuwendung oder frühkindliche Vernachlässigung zugrunde.
Dabei will das Kind sich entweder selbst bestrafen, Anspannungen rauslassen oder sich spüren, indem es den seelischen Schmerz nach außen auf den Körper kehrt. Bei einigen Kindern kann ein regelrechtes Suchtpotenzial entstehen, weil Endorphine freigesetzt werden.
Diese sogenannten Glückshormone senken das Schmerzempfinden und lösen ein Glücksgefühl aus. Das Kind fühlt sich positiver und macht die Erfahrung, dass die Selbstverletzung „geholfen“ habe. Schon beginnt der Teufelskreis, da es sich bei der nächsten Anspannung wieder verletzt und es so zur Sucht wird.
Haben Sie das Gefühl, dass die Zahl der Selbstverletzungen nach der Pandemie-Erfahrung nun nochmal ansteigt im Jugendbereich?
In den Kinder– und Jugendpsychiatrien nahm das selbstverletzende Verhalten während der Pandemie extrem zu! Wir standen plötzlich vor der großen Herausforderung, die Hygiene- und Abstandsregelungen im stationären Bereich bei Kindern umzusetzen, die unter Angststörungen, Panikattacken oder Zwangshandlungen litten.
Die Mund- und Nasenmasken, die als Schutz dienen sollten, wurden für uns als Personal zum Dilemma: Einige Kinder entdeckten den innen liegenden dünnen Draht über dem Nasenbereich und friemelten diesen als Werkzeug für Selbstverletzungen heraus. Es gab einen hohen Nachahmeffekt unter den Jugendlichen. Wir waren gezwungen, den Draht herauszunehmen und die Masken abends einzusammeln.
Nach der Pandemie sank der Nachahmeffekt. Kinder, die das selbstverletzende Verhalten als Bewältigungsmuster durchführen, gibt es aber nach wie vor in den stationären Kliniken.
Welche Wege können wir den betroffenen Kindern aufzeigen, um anders aus ihrem inneren Schmerz rauszukommen, wenn sie merken, dass sie wieder den Drang spüren, sich verletzen zu wollen?
Ich würde immer dazu raten, den Weg mit einer Fachpersonen zu gehen. In den Gesprächen lernen Kinder, ihre Gefühle zu kontrollieren, sich selbst zu reflektieren und sich bewusst zu werden, dass sie eine Wahl haben: Die Selbstverletzung durchzuführen oder über ihre Gefühle zu sprechen und sich mit unterstützenden Maßnahmen gegen den Drang zu entscheiden.
Zusätzlich wird ein Notfallplan erstellt. Dieser gibt Sicherheit. Er enthält folgende Informationen:
– Was kann das Kind konkret tun, wenn der Drang und die Gedanken zunehmen?
– Wen könnte das Kind ansprechen?
Kinder lernen so, dass negative Gefühle zum Leben gehören und dass es Lösungen für den Umgang mit Emotionen gibt!
Gibt es auch Möglichkeiten der Prävention, damit es erst gar nicht zu Selbstverletzungen kommt?
Kinder sollten frühzeitig beim Heranwachsen folgendes lernen:
a) mit verwirrenden Gefühlen umzugehen
b) Beziehungen zu regulieren
c) Frustrationen und Enttäuschungen auszusprechen
d) offen über Gefühle zu reden
Das kann ein Kind psychisch stark machen und das Risiko für Selbstverletzungen minimieren. Eltern könnten mit gutem Beispiel vorangehen und dies den Kindern zuhause vorleben. Sprechen Sie offen über ihre Emotionen, sagen Sie, was Ihnen jetzt helfen würde und lassen Sie ihr Kind daran teilhaben.
In meiner Arbeit als Dipl. Psychologische Beraterin habe ich immer wieder mit erwachsenen Frauen zu tun, die Probleme haben ihre Emotionen zu bewältigen und mir oft als Grund angeben: „Ich habe das nie gelernt.“ Zuhause wurde nicht über Probleme gesprochen. „Meine Eltern haben immer geschwiegen.“
Sie sprechen von einem „Notfallkoffer“, den jeder Mensch braucht. Worum handelt es sich dabei?
Der sogenannte Notfall- oder Skillskoffer wird in psychiatrischen Kliniken angewendet. Dabei handelt es sich um eine Sammlung an Skills, die eine bewusste Ablenkung z.B. durch Reize erzielen sollen, wenn die Anspannung und der Verletzungs-Drang zunehmen. Der Reiz kann etwas Scharfes, Spitzes, extrem Saures oder Kaltes sein – Hauptsache es ist körperlich spürbar. Betroffene lernen, sich selbst einzuschätzen und die individuelle Maßnahme rechtzeitig einzusetzen. Beispiele: Eiswürfel; auf einem spitzen Stein im Schuh laufen; scharfe Chilibonbons: saure Drops; sich auf eine Akupressur-Matte legen.
Dabei kann das Kind die Sammlung des Notfallkoffers nach Anspannungsgrad bestücken:
0-30% Anspannungs- Drang: Erfrischungstuch, Buch lesen, Gesicht kalt nass machen
30 – 70%: Akupressur-Rring, Eiswürfel im Mund zergehen lassen, im Wald schreien, Treppenhaus hoch- und runterlaufen, frischen Ingwer kauen
70 – 100%: Boxsack, Ammoniak riechen, intensives Seilspringen, Eisbeutel in einem Tuch auf den Nacken drücken
Stellen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind einen individuellen Notfallkoffer zusammen, der überall hin mitgenommen werden kann.
Sie haben selbst mit 22 Jahren ihre Mutter verloren, was hat ihnen selbst in der Zeit danach geholfen?
Jahrelang habe ich den Tod meiner Mutter verdrängt, bis ich nur noch ein psychisches Wrack war und den ganzen Tag weinte. Ich holte mir professionelle Hilfe. Anfangs waren die Gespräche hilfreich, doch schnell merkte ich, dass ich praktische Tipps benötigte, wie ich im Alltag mit den Emotionen klarkommen soll.
Ich flog nach Afrika, um meine Mutter am Grab zu besuchen. Irgendwas löste die Afrikareise in mir aus, denn ich kam in die Handlung und fing an, mich selbst zu reflektieren, genauer wahrzunehmen und Selbstvertrauen aufzubauen. Das führte dazu, dass ich endlich anfing meine Emotionen nicht mehr herunterzuschlucken und das Wichtigste: mich nicht mehr für meine psychische Verfassung zu schämen!
Heute weiß ich, dass genau diese Erfahrung mich in meiner Arbeitsweise mit meinen psychisch erkrankten Klientinnen geprägt hat. Ich gehe aktiv gegen die Stigmatisierung von psychisch Erkrankten vor und hole die Betroffenen bewusst nach draußen, da viele sich sozial isolieren und schämen.
Meine psychologischen Beratungen finden bewusst in Cafés oder auf einem Spaziergang statt. So setze ich ein Signal, dass psychische Probleme in die Gesellschaft gehören und jeden treffen können. Die Klientinnen freuen sich, endlich wieder rauszukommen und in einer unkonventionellen Atmosphäre über ihre Probleme sprechen zu können.
Was möchten Sie Eltern, Lehrkräften und betroffenen Jugendlichen zu guter Letzt noch mit auf den Weg geben?
An Bezugspersonen:
Es gibt Auswege und viele Anlaufstellen. Eine Therapie ist häufig erfolgreich, wenn das Kind mitmacht und die Übungen trainiert. Ansprechen und den stummen Hilferuf nicht ignorieren ist bereits der erste Schritt in die richtige Richtung.
An Betroffene:
Klingt zwar banal, aber Reden kann sich bereits so erleichternd anfühlen. Schämt euch nicht für das selbstverletzende Verhalten und sprecht offen über eure Probleme: Mit Eltern, euren Freunden und eurem Arzt. Dieser kann euch an eine Fachperson verweisen.
1 comment
Ich finde das Thema hier sehr weichgespült aus der Sicht der heilen Familie beleuchtet.
Diese große Not kommt ja nicht im luftleeren Raum vom Himmel gefallen, sondern ist ein Symptom eines für das Kind sehr belastenden Systems ist System-Teils.
Der Hinweis auf Professionelle Hilfe ist gut und richtig. Aber schwer, weil oft die Eltern und ihr Verhalten zumindest (mit) ein Faktor sind.
Was ich damit sagen will:
Wenn die Eltern (unbewusst) ein Umfeld schaffen, in dem das Kind derart in Not geraten kann, dann ist es schwierig zu erwarten, dass die Eltern dann auch Hilfe bieten.
Ich hoffe einfach, dass heute in Zeiten des Internets mehr Kinder Wege finden, sich unabhängig von den Eltern Hilfe zu holen oder sie sogar von anderen (Bezugs-) Personen angeboten bekommen.
Für mich war es damals eine Hölle aus der ich keinen Ausweg fand und viele Jahre furchtbar gelitten habe. Und von außen sah es aus wie die perfekte Familie und meine Eltern würden noch heute sagen, sie hätten ich bemüht und alles richtig gemacht.
Lasst die Kinder nicht mehr alleine völlig durchs System fallen. Es ist nicht getan mit „hat halt ein paar Pubertätsprobleme, nicht mein Ding“.