Nett sein: Über ein Experiment zum Jahresanfang

Jahresanfang

Foto: Juliane Dunkel

Ihr Lieben, wie jedes Mal zum Jahresanfang war meine Instagram-Timeline und das Internet generell voll von Neujahrsvorsätzen. Kein Alkohol, weniger Zucker, keine Kohlehydrate oder nur Gemüse-Saft, mehr Sport, früher schlafen, weniger Medienzeit, früher aufstehen und meditieren, 10.000 Schritte oder jeden Tag 30 Minuten Pilates – die meisten Vorsätze, so finde ich, dienen im Endeffekt der Selbstoptimierung und sind vor allem auf sich selbst gerichtet.

Ich ganz persönlich habe dafür wenig übrig. Zum einen, weil ich keine Lust habe, mit mir selbst streng zu sein und auf Dinge zu verzichten, die ich eigentlich mag. Zum anderen, weil ich im Alltag eh relativ gesund lebe. Ich bewege mich viel, trinke wenig Alkohol, ernähre mich überwiegend gesund. Wenn ich dann mal eine Phase mit etwas mehr Schokolade habe, ist das halt so. Ich habe mir für mich selbst vorgenommen, weicher zu mir zu sein und friedlich mit mir, da passt gerade der Selbst-Optimierungsgedanke einfach nicht dazu.

Als ich darüber mit Lisa sprach und sagte, dass ja wirklich wieder ganz Instagram Saftfasten macht und dass das gar nichts für mich sei, sagte sie den herrlichen Satz: „Für mich auch nicht. Stell dir vor, du wirst morgen vom Bus überrollt und das Einzige, was du im Bauch hast, ist kalter Gemüsesaft.“ Wir mussten so darüber lachen und sagten, dass wir doch gerade jetzt in der kalten Jahreszeit wärmende Nahrung brauchen.

Der zweite Punkt, warum ich mit den oben genannten Vorsätzen wenig anfangen kann, ist, dass sie sich eben nur mit sich selbst beschäftigen, unsere Mitmenschen aber nichts davon haben. Deshalb habe ich mir vorgenommen, erstmal eine Woche lang täglich einem möglichst fremden Menschen etwas Nettes zu sagen. Weil mir auch aufgefallen ist, dass ich, wenn ich von Fremden angesprochen werde, eigentlich immer nur Negatives höre. Dass mein Rad im Weg steht, dass mein Kind zu laut ist, dass ich mit dem Kinderwagen etwas blockiere. Dass ein Fremder mir einfach so etwas Nettes gesagt hat – daran kann ich mich nicht erinnern. Also mache ich den Anfang. Ich starte am 1. Januar.

Zum Jahresanfang: Jeden Tag etwas Nettes sagen

MITTWOCH, 1. Januar

Mein Jüngster liebt gerade U-Bahn-fahren. Und weil ich trotz Silvester-Kater mit ihm an die frische Luft muss, entscheide ich mich für einen Spaziergang zur U-Bahn-Station und ein paar Fahrten mit der Bahn. So ist er happy und ich kann im Warmen sitzen. Als die U-Bahn einfährt, erinnere ich mich an meinen Vorsatz und laufe zum Fahrerhäuschen, klopfe an die Scheibe. Die U-Bahn-Fahrerin öffnet mit skeptischem Blick die Tür. Ich sage: „Ich wollte Ihnen nur ein frohes neues Jahr wünschen und Ihnen Danke sagen, dass Sie diesen Dienst am 1.1. übernehmen. Das war sicher nicht leicht, heute morgen aufzustehen.“ Die Frau schaut mich an, lächelt dann und sagt: „Ihnen auch alles Gute für 2025!“

DONNERSTAG, 2. Januar

Ich stehe an der Supermarkt-Kasse und habe echt viel im Wagen. Hinter mir ein junger Mann, der nur ein paar Brötchen und eine Cola-Dose kaufen will. Als er in meinen Wagen schaut, kann er sich nur schwer ein Stöhnen verkneifen. „Wollen Sie vor?“, frage ich? „Echt jetzt?“, sagt er. Ich: „Na klar, wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann, können Sie gerne vor.“ Der Mann freut sich richtig, bedankt sich und verschwindet.

FREITAG, 3. Januar

Vor mir auf der Rolltreppe fährt eine Frau um die 60. Als wir oben angekommen sind, tippe ich ihr auf die Schulter und sage: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihnen der bunte Schal super gut steht!“ Sie schaut mich verblüfft an und sagt: „Ohhhhh, you made my day!“

SAMSTAG, 4. Januar

Ich gehe früh morgens joggen. Auf meiner Runde sehe ich seit ungefähr einem halben Jahr öfter zwei Männer, die deutlich übergewichtig sind, aber jetzt zusammen walken gehen und immer wieder anhalten, um an einer Bank Kraftübungen zu machen. Diesmal winke ich ihnen zu und rufe: „Ich finde euch so super, wie toll ihr das zusammen macht!“ Beide strahlen übers ganze Gesicht und rufen: „Wie lieb, danke!“

SONNTAG, 5. Januar

Erst abends fällt mir mein Vorsatz wieder ein, kein Fremder mehr in der Nähe. Also schreibe ich einer Freundin: „Ich wollte dir einfach mal wieder sagen, wie sehr ich dich schätze und wie gern ich dich habe. Ich bin so froh, dass wir Freunde sind!“ Zurück kommt ein Schwall Herz-Emoijs.

MONTAG, 6. Januar

Ich hole mir beim Bäcker einen Kaffee. Als die Verkäuferin ihn mir gibt, sage ich zu ihr: „Ich finde übrigens, dass der Kaffee hier ganz besonders lecker ist. Danke dafür.“ Sie guckt mich verdutzt an und sagt dann: „Das ist aber nett, dass sie das sagen. Sonst beschweren sich immer alle, dass irgendwas nicht stimmt oder dass alles immer teurer wird.“

DIENSTAG, 7. Januar

Heute ergibt sich nicht so richtig was, aber etwas Nettes will ich noch sagen. Als ich mit dem Jüngsten spazieren bin, kommt mir eine ältere Frau mit Hund entgegen. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück und ich frage, ob ich den Hund mal streicheln darf. Ich darf und die Frau und ich reden ein bisschen über Hunde und kleine Kinder und wie gut es tut, dass man durch Hunde und kleine Kinder so viel draußen ist. Es sind nur ein paar Minuten, aber es ist ein nettes Gespräch und als wir uns verabschieden, habe ich das Gefühl, dass die Frau sich über unsere Begegnung gefreut hat.


Das mag sich jetzt vielleicht für einige von euch kitschig anhören und vielleicht kommt auch der Vorwurf: „Ja, das ist ja irgendwie krampfhaft nett und dann ist es auch nicht ehrlich.“ Lustigerweise hatte ich diese Gedanken auch, aber es ist überhaupt nicht so. Es ist gar nicht kitischig, sondern es tut einfach total gut, einem Fremden einen schönen Moment zu schenken.

Und wenn man ein bisschen aufmerksam ist und es zulässt, gibt es wirklich jeden Tag eine Möglichkeit, jemandem einen netten Satz oder ein Lächeln zu geben. Natürlich verändert das nicht unsere Welt komplett, aber unserem Alltag, finde ich, tut mehr Wärme und Weichheit so gut. Versucht es doch selbst mal aus, am Anfang fühlt es sich irgendwie „cringe“ an, aber es wird von Tag zu Tag leichter!

Und ich nutze den Platz hier gleich, um auch euch mal was Nettes zu sagen: Danke, dass ihr hier bei uns mitlest, ihr seid so eine coole Community und Lisa und ich haben jeden Tag so viel Spaß am Austausch mit euch! Toll, dass es euch gibt und HAPPY 2025!

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14 comments

  1. Ein sehr schönes Vorhaben. Ich mache das auch seit Jahren bewusst, weil ich finde, das überall schnell gemeckert wird und ein defizitorientierter Blick vorherrscht. Dabei entstehen wirklich tolle Momente, die allen gut tun.
    Letzten Sommer habe wir einen Tag am Nordseestrand verbracht, in Sicht- und Hörweite eine Famlie mit zwei Jungs im Grundschulalter. Den ganzen Tag herrschte nebenan gute Laune, es wurde in wechselnden Konstellationen miteinander gespielt, aber jeder hat auch mal was für sich gemacht. Als wir zufällig gleichzeitig aufgebrochen sind, bin ich hin und habe gefragt, ob ich ihnen ein ungefragtes Feedback geben darf (erster verwunderter Blick). Habe ihnen gesagt, dass sie als Familie einen so harmonischen und sympathischen Eindruck machen, sie so nett miteinander umgehen und es eine Freude war, das aus der Distanz zu sehen. Sie haben sich riesig gefreut,die Mutter war richtig gerührt und dann haben wir noch zusammen die Strandfunde der Jungs angeschaut. Total schön.
    Solche Situationen erlebe ich häufiger.
    Aber es stimmt, viele Menschen gehen direkt in Habachtstellung, wenn man sie anspricht und erwarten erstmal nichts Gutes. Schade eigentlich.

  2. Das ist wunderschön zu lesen, bitte berichtet doch weiter, was es für Erlebnisse mit den Komplimenten gibt! Ich habe es mir schon lange zum Motto gemacht, auch nette Dinge zu fremden Menschen zu sagen, wenn ich es ehrlich so empfinde. Letztens saß ich beim Arzt im Wartezimmer und mir gegenüber saß ein älteres Paar. Die Frau hatte ein total schickes Strickkleid an, was ihr auch sehr gut stand. Ich habe sie so betrachtet und ich bemerkte, dass sie es bemerkte, da habe ich ihr gesagt, dass mir ihr Kleid total gut gefällt und es ihr auch sehr gut steht. Sie hat sich so gefreut! Und der Mann hat sich gefreut, weil er sie zum Kauf ermutigt hatte! Das war dann eine so schöne Atmosphäre! Und mit dem an der Kasse vor lassen, das mache ich tatsächlich immer mal, denn ob es Karma oder Schicksal ist, ich werde, wenn ich eilig mit nur einer Sache anstehe, auch öfter mal vor gelassen… Und letztens auf einer Zugfahrt hat der Mann hinter mir mit mir seinen Kaffee geteilt, da er mitbekam, dass ich der Zugbegleiterin sagte, dass ich auch gerne einen nehmen würde, sie aber meinte bis zur nächsten Station (an der ich aussteigen wollte) kommt sie nicht nochmal. Der Mann wollte nicht mal mehr die Hälfte von Geld, also versprach ich ihm, dass ich das gleiche auch mal mache, wenn ich in so eine Situation komme! Das Leben ist so viel schöner, wenn man untereinander so nett miteinander umgeht!

  3. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, nett zu anderen zu sein. Ist es aber leider nicht mehr… Ich selbst habe den Grundsatz (und das habe ich auch meiner Tochter schon von Anfang an vermittelt), dass man jeden Menschen und alle anderen Lebewesen so behandeln sollte, wie man auch selbst behandelt werden möchte – freundlich und mit Respekt. Und über ein nettes Wort oder ein Lächeln freut sich doch jeder 😊.

  4. Guten Morgen,
    Vielen Dank für diesen schönen Text ! Ich lebe schon lange mit diesem Vorsatz und kann bestätigen, dass mir das Leben dadurch einiges liebevoller und auch bunter vorkommt. Viele Menschen freuen sich über ein nettes Wort und blühen sichtig auf. So ergaben sich schon viele bereichernde Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Orten. Einige sind aber auch verdutzt, können es nicht einordnen und scheinen sich zu fragen was für eine Absicht dahinter steckt.Das, wiederum finde ich etwas traurig, weil es zeigt, wie negativ belastet einige Menschen sind.
    Die übertriebene Selbstoptimierung bezogen auf den Körper hat auch etwas gefähliches, wie ich finde.Die Selbstfürsorge erachte ich hingegen als sehr wichtig, denn wenn man selber zufrieden ist, dann kann man Anderen auch besser eine Freude machen….
    liebe Grüsse aus der Schweiz

  5. Wow, ich finde deinen Vorsatz richtig toll! Werde ich mir auch zu Herzen nehmen. Dass die meisten Vorsätze eigentlich nur der Selbstoptimierung dienen, ist mir bisher gar nicht aufgefallen. Aber du hast recht. Alles Liebe für 2025 🙂

    1. Das macht schon beim Lesen gute LAUNE! Nettigkeiten und Komplimente zu geben ist wunderbar, man erntet ja auch immer eine freundliche Reaktion. Und so bringen sich beide Seiten etwas Gutes.
      Toller Vorsatz und danke für die schönen Szenen deiner Umsetzung. Es gibt immer einen Grund, nett zu sein 🙂

  6. Das finde ich superschön! Mir hat mal (vor Jahren!) eine fremde ältere Dame im Bus gesagt, dass sie meine Jacke total schön findet und dass sie toll zu meiner Haarfarbe passt. Daran erinnere ich mich heute noch!
    Ich mach mit bei deinem Vorsatz!
    Liebe Grüße

  7. Danke für diesen schönen Beitrag. Ein bisschen hat er mich auch zu Tränen gerührt…Auch ich versuche (gerade auf Arbeit wo es nicht immer so easy ist – Gesundheitswesen) – jeden Tag etwas Nettes zu sagen oder einfach so eine Entgegenkommen/ Gefallen zu tun. Auch meinen Kindern bringe ich bei freundlich zu sein im Umgang. Gerade wenn es keiner erwartet (wie die Bäckerfrau) macht es das Leben doch leichter.

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