Interview mit Moderatorin Marlene Lufen über sexuelle Gewalt

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Vermutlich kennt ihr sie aus dem Fernsehen, Marlene Lufen. Die TV-Moderatorin hat nun ein Buch geschrieben, das kaum aktueller sein könnte. Wir haben mit ihr über #metoo, die Weinstein-Affäre und sexuelle Gewalt gesprochen.

Frau Lufen, Sie haben ein Buch zur #Metoo-Debatte geschrieben. Waren Sie so schnell beim Schreiben oder kam das Hashtag jetzt passend zum Erscheinen von „Die im Dunkeln sieht man nicht“ (Affiliate Link)?

Ich habe mein Buch schon ein halbes Jahr vor der Weinstein-Affäre und der #MeToo-Debatte begonnen. In 2016 hatte ich schon eine Reportage zu dem Thema gemacht und sehr viele betroffene Frauen getroffen. In meinem Buch geht es nicht um die Showbranche, hier berichten ganz „normale“ Frauen von ihren erschütternden Erlebnissen in der Kindheit, der Ehe, am Arbeitsplatz. Vergewaltigungen durch einen Fremden zum Beispiel nachts im Park kommen seltener vor, sind für uns alle aber sinnbildlich für die Gefahr sexueller Gewalt. Ich versuche den Betroffenen größtmögliche Unterstützung und Hilfsangebote zu bieten, denn das kommt leider zu kurz in unserer Gesellschaft.

Jede siebte Frau ist in ihrem Leben mindestens einmal sexueller Gewalt ausgeliefert, schreiben Sie im Buch – in der U-Bahn, auf dem Weg nach Hause oder in den eigenen vier Wänden. Was meinen Sie, warum gerade jetzt so viele Sexismus-Geschichten ans Licht kommen?

Sexismus ist die eine Debatte, dabei geht es um herabwürdigendes Verhalten und Sprüche zum Beispiel am Arbeitsplatz. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit jedoch mit sexueller Gewalt gegen Frauen, über deren Ausmaß in der Vergangenheit geschwiegen wurde. Ein Tabu, das nun endlich gebrochen werden könnte.

Veränderungen in der Gesellschaft werden meist ausgelöst durch einen spektakulären Anlass. International war das die Weinstein-Affäre, in Deutschland wurde schon der Fall Gina-Lisa ein Jahr zuvor intensiv diskutiert. Das neue gesetzliche Prinzip „Nein heißt nein“ ist letztendlich ein Ergebnis dieser Diskussion. Nun müssen wir nur noch dafür sorgen, dass mehr Betroffene Zutrauen haben, nicht in schlechtem Licht dazustehen, wenn sie sich trauen, über ihr Schicksal zu berichten und die Tat bei der Polizei anzuzeigen.

Und warum haben sich bislang so wenige getraut, ihre Stimme zu erheben – und die Missstände öffentlich zu machen?

 Frauen wussten sehr genau, warum sie schweigen. Eine Betroffene hat sich mit einer Anzeige oder dem Öffentlich-Machen ihres Schicksals meist vor allem selbst geschadet. Frauen wurden als Wichtigtuerinnen dargestellt, die einen Mann fertig machen wollen, als Lügnerinnen beschimpft. Auf diese Weise ist unglaubliches Leid über Betroffene gekommen, die ja bereits durch Vergewaltigung schwer traumatisiert waren. Das Ausmaß der Problematik wurde medial über Jahrzehnte völlig falsch dargestellt. Heute wissen wir, und die Zahlen ähneln sich in allen europäischen Ländern, dass jede siebte Frau in ihrem Leben sexueller Gewalt ausgesetzt ist. In jedem Klassenraum in Deutschland sitzt im Durchschnitt ein Kind, das schon missbraucht oder sexuell belästigt wurde. Die Vorstellung ist unglaublich, aber die Tatsache leider wahr. Umso beschämender für uns Erwachsene ist es, dass ein betroffenes Kind im Schnitt acht Erwachsene ansprechen muss, bevor ihm Hilfe zuteilwird, d.h. sieben Erwachsene zuvor haben entschieden, „sich nicht einmischen zu wollen“. Wollen wir, dass das so bleibt?

Von den sehr wenigen Fällen sexueller Gewalt, die vor Gericht landen, enden übrigens nur ein Bruchteil von 7-8 % mit einer Verurteilung. Auch in der Justiz muss sich noch sehr viel tun, was das Verfahren und die Unterstützung Betroffener angeht, wenn wir mehr Gerechtigkeit erreichen wollen.

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In Ihrem Buch geht es um missbrauchte Frauen. Sie haben mit ihnen  gesprochen, sind in ihre Geschichten eingetaucht. Hat Sie diese Arbeit in irgendeiner Weise verändert?

Es gab eine kurze Phase, die mich so mitgenommen hat, dass ich drei Nächte nacheinander nicht schlafen konnte. Keine einzige Stunde. Ich hatte mich mit Frauen einer Selbsthilfegruppe getroffen, die als Kinder Unbeschreibliches in der eigenen Familie erleben mussten. Es hat mir das Herz gebrochen, dass niemand, auch ich nicht, eingreifen konnte. Am Ende war das sogar der Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Betroffene erhalten so wenig Solidarität oder zumindest Mitgefühl, denn mit dem Thema „sexuelle Gewalt“ will keiner so recht in Verbindung gebracht werden. Ich habe entschieden, die Stimme zu erheben für die Frauen, die viel zu schwach sind, um selbst zu kämpfen. Insofern ja, mich hat die Arbeit verändert.

Welche Geschichte hat sie am meisten berührt?

Eine junge Frau hat mir den Brief zugeschickt, den sie an ihre Mutter geschrieben hat, ohne ihn je abzuschicken. Darin beschreibt sie das Martyrium, das der Stiefvater ihr nachts angetan hat. Offenbar hat die Mutter entschieden, lieber wegzuschauen als sich vor das Kind zu stellen. Das ist leider eine Reaktion, die sehr häufig vorkommt bei Müttern. Der Wunsch, die Partnerschaft zu erhalten ist größer als die Fürsorge um das eigene Kind. Auch das ist sehr erschütternd.

Auch Sie selbst haben Erfahrungen gemacht, die Sie lieber nicht gemacht hätten. War das Schreiben des Buches auch eine Art Selbsttherapie für Sie?

Mein Erlebnis als junge Frau hat damals kein Trauma bei mir ausgelöst, denn ich konnte mich aus der Situation befreien. Es hatte allein zur Auswirkung, dass ich mich der Problematik später als Journalistin verbunden gefühlt habe und sehr wachsam war, wenn andere ihr Schicksal andeuteten.

Wir sind ein Familienblog, die meisten unserer Leserinnen haben Kinder. Was meinen Sie, wie wir unsere Mädchen und Jungen so groß werden lassen können, dass sich wirklich etwas ändert im Umgang miteinander?

Wir müssen unsere Kinder lieben und zu starken, selbstbewussten Menschen erziehen. Das ist das Wichtigste. Kinder haben eine Würde, die wir als Eltern respektieren müssen. Manche Betroffene haben mir erzählt, dass bei ihnen zu Hause galt, „wenn ein Erwachsener etwas sagt, dann wird das gemacht.“ Das hatte leider sehr schlimme Auswirkungen später im Umgang zum Beispiel mit Vorgesetzten in der Ausbildung.

Also nein, Kinder müssen nicht alles tun, was andere ihnen sagen. Sie müssen lernen respektvoll mit anderen umzugehen, aber auch nein sagen zu können, wenn sie etwas nicht wollen. Ich versuche meinen Kindern zu vermitteln, dass sie auf ihr Bauchgefühl achten sollen. Wenn sich etwas falsch anfühlt, schon im Vorfeld, dann liegt man meist richtig mit der Wahrnehmung. „Hört auf Euren Bauch und haut so schnell es geht aus der bedrohlichen Situation ab!“  Diesen Rat gebe ich zum Beispiel gerade meiner 13jährigen Tochter.

Wir versuchen Zuhause eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder alles erzählen können, was sie beunruhigt. Pubertierende Teenager wollen das nicht unbedingt immer, das ist auch ok. 🙂 Aber wenn sie das Gespür haben, dass sie das immer könnten, dann stärkt es Kinder, da bin ich sicher.

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