Liebe Milena, Du hast lange an einer Essstörung gelitten. Kannst Du uns mehr darüber erzählen?
Meine Essstörung entwickelte sich, was atypisch ist, erst mit Ende 20. Ich hatte einen sehr stressigen Job in einer Investmentbank, arbeitete durchschnittlich 60 Stunden die Woche, hielt dem Druck nicht mehr stand und kündigte. Danach fand ich keinen Job mehr in meiner Heimatstadt und musste von meinem Partner, meiner Familie und allen Freunden wegziehen. Ich hatte deshalb das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. ich fühlte mich ohnmächtig und ausgeliefert.
In der fremden Stadt kannte ich niemanden und stürzte mich sofort in die neue Arbeit. Das Alleinsein hielt ich gut aus. Ich hatte ein Ventil, um die Kontrolle zu behalten. Ich aß nicht mehr regelmäßig, zählte Kalorien und trieb übermßig viel Sport. Dass mein Körper immer mehr in den Hintergrund trat, dass ich zunehmend verschwand – das war mir mehr als willkommen. Ich fühlte mich ohnehin nicht wohl in meiner Haut. Irgendwann wog ich bei einer Größe von 1,74 weniger als 50 Kilo.
Weisst Du noch, als Du das erste Mal gedacht hast: Das, was ich mache, ist nicht "normal?"
Bei einer Sucht oder wie in meinem Fall mit einem Kontrollzwang verbunden, fragt man sich nicht, was „normal“ ist und was nicht. Die Kontrolle über das Essen und über den eigenen Körper erscheint (über-)lebenswichtig. Dass etwas nicht stimmt, gesteht man sich erst ein, wenn es einem schon besser geht.
Es folgten Jahre, in denen ich mit mir haderte -ich machte mal ein Schritt nach vorne, dann wieder zwei zurück. Der erste Erfolg war dann die medikamentöse Einstellung meiner Schilddrüse. Nach sechs mühsam gewonnenen Kilos und einer begleitenden psychotherapeutischen Behandlung starteten wir mit der Kinderwunschbehandlung. Als ich bereits nach einem Versuch schwanger wurde, habe ich schon des Babys wegen die Essstörung physisch überwunden.
In der ersten Schwangerschaft schaffte ich es, durch Yoga und Pilates zu einem halbwegs angenehmen Körperbewusstsein. Diesmal ist es anders, da ich bereits ein Kleinkind zuhause habe, außerdem bis zum Mutterschutz arbeitete und keinerlei Unterstützung durch familiäres Umfeld vorhanden ist. Meine Strategie ist auch diesmal, die aufsteigende Angst vor den Veränderungen in Schach zu halten. Ich konzentriere mich mehr auf meinen Sohn und gehe zum Therapeuten.
Was natürlich spannend wird, ist die Zeit nach der Schwangerschaft. Ich habe bedingt durch das Stillen meines ersten Kindes nicht abgenommen, obwohl ich stressbedingt sehr wenig gegessen habe. Ich denke, dass mein Körper aufgund der vergangenen Hungerepisoden ganz einfach meinen Stoffwechsel lahmgelegt hat, um die Ernährung des Kindes sicherzustellen. Nach dem Abstillen nahm ich wiederum innerhalb von ein paar Wochen 6 Kilo ab und näherte mich meiner alten Figur. Dann wurde ich wie aus heiteren Himmel wiederum schwanger – somit begann die gleiche Geschichte von vorne.
Alles in allem haben mich die Schwangerschaften und vorallem meine Kinder schon ziemlich weit von meinem Perfektionismus und Kontrollzwang entfernt, was mitunter ein sehr schmerzhafter und unglaublich mühsamer Prozess war, aber mir etztendlich hilft meine Krankheit zu überwinden.
Selbst wenn ich könnte, würde ich an dieser Stelle keine Ratschläge erteilen, weil die Auslöser für eine Sucht bei allen Betroffenen verschieden sind. Eine Behandlung durch den richtigen Therapeuten kann sehr hilfreich sein, genauso wie Körperarbeit oder ein liebevolles Familien- bzw. Freundesnetz. Letztendlich liegt es aber an jedem selbst eine Änderung herbeizuführen.
Für mich ist der Trigger, der die Angst und somit die Esstörung auslöst mein Perfektionismus und dass ich versuche, jede Situation zu kontrollieren. Wenn man jedoch Mutter ist, führt dies schnell zu einer Abwärtsspirale. Gerade am Anfang scheiterte ich immer an meinen Erwartungen, für den Kleinen die perfekte Mama zu sein. Je mehr ich mich anstrengte, desto weniger hatte ich das Gefühl meinen Ansprüchen zu genügen. Seit einiger Zeit versuche ich mich aber so anzunehmen wie ich bin, mit allen Fehlern – seitdem habe ich schon etwas mehr Lockerheit in mein Leben gebracht.
Foto: Pixabay
1 comment
Ich finde den Beitrag super
Ich finde den Beitrag super geschrieben! Respekt für die Offenheit bei diesem schwierigen Thema. Alles Gutefür euch, Milena!