Inside Notaufnahme: Irina erzählt von ihrem harten Alltag als Krankenschwester

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Liebe Irina, Du bist Krankenschwester in einer Notaufnahme in einem Krankenhaus. Schätz mal ab, wie viele Patienten Du in einer Schicht so betreust.

Genau, ich arbeite in einem Krankenhaus in einer Kleinstadt. Wir sind das einzige Krankenhaus im Umkreis von etwa 60 Kilometern. Wir betreuen im Jahr ca. 35000 Patienten im Durchschnitt, also ca. 100 Patienten pro Tag – verteilt auf drei Schichten. Ich arbeite meist im Spätdienst und an Wochenenden, dann ist am meisten los. Ich habe im Schnitt etwa 50 Patienten. 

Und wie viele davon sind echte Notfälle? Und ab wann gilt man eigentlich als Notfall?

Tja, die Definition "Notfall" ist schwierig. Klar ist, dass die allerwenigsten Patienten in lebensbedrohlichen Zuständen sind, wenn sie kommen. Aber: Wenn ich abends oder am Wochenende mit dem Fuß umknicke und nicht mehr laufen kann, bin ich ja auch irgendwie ein Notfall, weil ich ja zu dieser Tageszeit nirgends sonst hin kann…

Wir arbeiten mit dem Manchester Triage System. Das ist ein System, das uns hilft die Patienten richtig einzuschätzen, d.h. wann sie spätestens ein Arzt sehen muss. Alle Patienten werden von der Triageschwester angesehen und befragt und die Vitalzeichen ermitteln. Dann wird der Patient in die Gruppen eingeteilt:

Rot Sofort, Orange 10 Min, Gelb 30 Min, Grün 1 1/2 Stunden, Blau 2 Stunden.

Bei dem Beispiel mit dem verletzten Knöchel würde ich sagen Kategorie Gelb oder Grün, je nachdem wie die Schmerzen sind. Wenn der Knöchel schon am Vortag verstaucht wurde, eher Blau, weil die Schmerzen ja dann scheinbar auszuhalten sind. 

Ich muss dazu natürlich auch sagen: Auch das beste System kann nicht jeden Menschen perfekt erfassen, deshalb machen wir auch mal Fehler.

Hast Du also auch den Eindruck, dass viele Menschen in die Notaufnahme kommen, obwohl es eigentlich nicht dringend ist? Warum glaubst Du, ist das so?

Ja, ich habe oft den Eindruck, dass viele zu uns kommen, obwohl sie kein Notfall sind. Aber mal ehrlich: Wenn ich beim Hausarzt anrufe und keinen Termin bekomme, dann kann ich das schon verstehen. Noch schlimmer ist es mit Fachärzten, da wartet man ja oft drei Monate auf einen Termin. Also fährt man in die Klinik, da wird man auf jeden Fall vom Arzt angesehen, vielleicht wird man sogar stationär aufgenommen und es werden dann alle Untersuchungen gemacht. 

Manchmal wundere ich mich aber auch, wie hilflos viele junge Erwachsene sind. Sie sind es gewohnt, immer alles sofort zu bekommen. Klappt ja bei Amazon und Co auch – ich will etwas, google es, bestelle es und dann ist es ganz schnell bei mir. 

Und natürlich sind auch viele ältere Menschen bei uns, deren Kinder weit weg leben und sich deshalb nicht kümmern können. Wenn sie stürzen, ist dann eben keiner da, der sie umsorgt. Also kommen sie ins Krankenhaus. 

Oft müssen die Menschen in der Notaufnahme stundenlang warten und werden ungeduldig. Bist Du schon mal beschimpft worden und was musst Du Dir so anhören?

Einmal? Es gab Zeiten, da bin ich in jeder Schicht beschimpft worden.  "Sie sind zu nichts fähig" oder "Sie Arschloch" und "Das ist ein Saftladen, bewegen Sie Ihren Arsch", das sind dann fast noch die netteren Kommentare. Mittlerweile wurde aber so viel über den Zustand in den Notaufnahmen berichtet, dass fast alle Verständnis haben. 

Ich kann auch verstehen, dass man nach stundenlangem Warten ärgerlich wird – aber ich kann es nicht ändern. Wir haben nur eine gewisse Anzahl an Räumen, Personal und Ärzten –  irgendwann kommt alles an seine Grenzen. Ich mache mir immer klar, dass ich nur der Prellbock bin. Wir werden aber mittlerweile auf Deeskalations-Fortbildungen geschickt, damit wir lernen, wie wir uns richtig in solchen Situationen verhalten…

Dieser Stress macht Euch aber sicher auch zu schaffen.

Ja, absolut. Dieser Stress macht krank – viele Kollegen fallen deshalb aus. Die letzte vollbesetzte Schicht hatten wir vor einem dreivierten Jahr. Früher waren wir so gut besetzt, dass es nicht aufgefallen ist, wenn mal jemand krank ist. Dann hat man das, was man an dem Tag nicht geschafft hat, einfach am nächsten Tag nachgeholt. Heute sind wir aber statt vier Kollegen nur noch zwei – und wenn der andere krank ist, dann ist nur noch Chaos. Dann arbeite ich 8 Stunden im Dauermodus und hoffe einfach, dass ich nichts übersehe. Das Telefon klingelt ständig, ich muss ständig in Schichten einspringen, weil alle krank sind. 

Ich sehe, dass viele Kollegen einfach kündigen und sich im Supermarkt an die Kasse setzen. Da ist es wenigstens ruhiger. 

Ich war ja gerade mit meiner kleinen Tochter im Krankenhaus. Von Betreten des Krankenhauses bis Ankunft im Zimmer vergingen mehr als 5 Stunden. Drei Ärzte haben sie – trotz eindeutiger Diagnose Gehirnerschütterung – untersucht, wofür wir jedes Mal lange warten mussten. Diese Ärzte müssen ja auch immer einen eigenen Bericht schreiben, das ist doch eine ungeheure Bürokratie, oder?

Ja, aber so ist Deutschland! Wir schreiben uns zu Tode. Tatsächlich nimmt die ganze Dokumentation viel mehr Zeit in Anspruch als die Arbeit am Menschen. Denn die Angst, man könnte verklagt werden, weil man etwas übersehen hat, ist groß. Kommt also ein Kind mit Gehirnerschüttertung zu uns, schaut der Unfallchirurg, der Neurologe und der Kinderarzt drauf. Kommt eine Dame mit Bauchschmerzen, wird der Internist, der Allgemeinchirurg, der Gynäkologe und vielleicht sogar noch der Urologe hinzugezogen. Und das alles muss dokumentiert werden. 

Gibt es einen Fall, der Dich sehr berührt hat?

Puh, das ist eine schwere Frage. Man sieht in der Notaufnahme das ganze Spektrum der Menschheit. Von der feinen Dame bis zum Obdachlosen ist alles dabei: Der bärenstarke Rocker, dem man nachts nicht alleine begegnen will, der aber vor der Spritze Angst hat. Der 5-jährige Junge, der vom Auto erfasst wurde und uns unter den Händen wegstirbt. Der Mann, der sich zur Befriedigung ein Glas in den After eingeführt hat oder einen Tannenzweig in den Penis steckt. Kinder, die misshandelt wurden. Alkoholiker, die die ganze Notaufnahme mit Gesang unterhalten. Obdachlose, die total verwahrlost sind. Frauen, die Angst haben, ihre Frisur könnte vom Arzt berührt werden. 

Es gibt immer Geschichten, die einen freuen, die einen zum Lachen bringen, berühren, aber auch anekeln. Es ist manchmal so, dass man ein Kind reanimiert, dann verlässt man den Raum und wird von jemand angebrüllt, weil er so lange warten muss. Ich versuche, das alles nicht so nah an mich ranzulassen – aber das klappt nicht immer. 

Was müsste sich Deiner Meinung nach sofort ändern, um die Situation in der Notaufnahme zu verbessern?

Wir brauchen mehr Personal, das besser bezahlt wird. Außerdem mehr Räume und bessere Arbeitszeiten. Außerdem glaube ich, dass ein Krankenhaus kein Wirtschaftsunternehmen sein dürfe, denn dann wird immer gespart – und das am falschen Ende – nämlich am Personal. Um der Personaluntergrenze zu entkommen werden bei uns jetzt Zentren gebildet, d.h. aus rein internistischen und chirurgischen Stationen werden gemischte Stationen gemacht. Das macht alles noch schlimmer. 

Foto: Pixabay

 

 

 

 

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