Inklusiver Schulstart: Wir drücken Mia die Daumen

Inklusiver Schulstart

Ihr Lieben, wie klappt ein inklusiver Schulstart – das fragen sich gerade Mias Eltern, sie sind aber auch voller Vorfreude. Die sechsjährige Mia hat eine Zerebralparese, bei ihr sind alle vier Gliedmaßen davon betroffen, sowie Teile ihres Rumpfes und ihres Kopfes. Mias ganze Geschichte haben wir schon mal HIER in einem Beitrag erzählt und auch in unserem Kinderbuch „Wir alle sind Familie“ kommen Mia, ihr Bruder Noah und die Eltern Jasmin und Marcel vor.

Nun kommt Mia also bald in die Schule. Für alle Kinder ist das eine aufregende Veränderung, für die Eltern von Kindern mit körperlichen Behinderungen ist die Auswahl der richtigen Schule eine besondere Herausforderung. Wir haben mit Jasmin über die spannenden nächsten Wochen gesprochen.

Liebe Jasmin, nur noch ein paar Wochen, dann kommt Mia in die Schule. Wie groß ist ihre Aufregung? 

Mia ist super aufgeregt und kann es kaum erwarten. Vor kurzem hat sie die Einladungskarten für ihren großen Tag versendet und springt jedes Mal in die Luft, wenn sie eine Zusage erhält. Der Schulranzen samt Inhalt steht auch seit zwei Wochen bereit. Sie fragt auch immer wieder nach, ob sie auch wirklich alles hat, was sie braucht. Und jeden zweiten Tag fällt der Satz: „Ich bin jetzt ein Schulkind.“ 

Und wie gehst euch Eltern? Was sind eure Sorgen und Wünsche für die Schulzeit?

Wir freuen uns auch sehr mit ihr mit. Wir merken, wie sehr sie als Persönlichkeit im letzten 3/4 Jahr gewachsen ist und wie bereit sie jetzt für die Schule ist. Sie ist wirklich aus dem Kindergarten „rausgewachsen“. Wir haben eine Schule für Mia gefunden, bei der wir wirklich ein sehr, sehr gutes Gefühl haben und das macht es uns definitiv leichter. Natürlich habe ich Respekt davor, dass sie jetzt nicht mehr in der „behüteten“ Kita ist und das Gefühl, ich könne sie in der Schule nicht so sehr beschützen oder ihr zur Seite stehen, wie ich es gerne würde, aber das gehört für sie – als auch für uns – sicherlich zum Großwerden dazu. 

Was war euch bei der Auswahl der Schule wichtig, damit ein inklusiver Schulstart gelingt?

Wir haben uns zwei Schulmodelle angeschaut. Eine Förderschule für Kinder mit körper-motorischen Einschränkungen und eine Montessori-Grundschule. Uns war es wichtig, dass Mia (wenn möglich) von vornherein ein „Teil der Gesellschaft“ ist und bleibt, dass sie durch geschultes Personal die Unterstützung im Schulalltag erfährt, die sie benötigt und mit all ihren Stärken (und nicht eben nur den Dingen, die sie nicht kann) gesehen wird.

Auf beiden Schulen hätte sich Mia sicherlich gut einleben können. Wir haben uns für die Montessori-Grundschule entschieden, in der in jeder Klasse zwischen 1-3 Kindern einen sogenannten Integrationsstatus haben, sprich eine Behinderung (ob sichtbar oder unsichtbar). Großer Pluspunkt war außerdem, dass Mia dort bereits einige ehemalige Kita-Kinder kennt und die Schule in puncto Arbeitsmaterialien, Räumlichkeiten, Barrierefreiheit, Personal und Schulhelfer wirklich gut aufgestellt ist.

Bevor die Schule uns einen Platz zugesagt hat, sind einige Lehrerinnen in Mias Kita gekommen, um sie kennenzulernen und sich mit den Erzieherinnen auszutauschen. Generell war die allererste Überlegung jedoch tatsächlich: Welche Schule ist in unserem Bezirk überhaupt barrierefrei? Spoiler: sehr, sehr, sehr wenige! 

Erzähl doch mal, wie es Mia aktuell geht. Wo macht sie gerade große Fortschritte?

Mia entwickelt sich auf sozial-emotionaler Ebene gerade sehr. Wir sagen im Alltag immer wieder: „Du bist nicht mehr unsere kleine Mia, du wirst jetzt richtig groß.“ Sie hinterfragt sehr viel. Sie testet sehr stark ihre (als auch unsere) Grenzen. Sie hat ein Selbstbewusstsein entwickelt, vor dem ich als Erwachsene wirklich Respekt habe. Sie traut sich mit ihren 6 Jahren z.B. an Geburtstagen der Großeltern eine spontane Rede von 3-4 Minuten zu halten, indem sie sich für die Einladung bedankt, etwas Liebes über die Person sagt, was sie ihr wünscht usw… Sie liebt es im Mittelpunkt zu stehen und Liebe zu versenden. 

Auf motorischer Ebene ist es in der aktuellen Phase schon ein richtiger Gewinn, wenn sich ihr Status nicht verschlechtert. Kinder in Wachstumsschüben haben oft damit zu kämpfen, dass bereits erlernte Muster (wie z.B. Sitzen mit Abstützen, Füße heben oder Aufstehen) plötzlich nicht mehr funktionieren, weil sich das Körpergefühl (vor allem in Hinblick auf Gleichgewicht) verändert hat. Das kann für das Kind, die Eltern und auch Therapeuten*innen frustrierend sein.  

Und wo braucht sie noch Hilfe?

In allen alltäglichen Situationen. Vom Anziehen, übers Essen bis zum Toilettengang. Sie kann sich mit dem Rollstuhl selbstständig für kurze und ebene Distanzen fortbewegen, das hilft ihr in ihrer Selbstbestimmung sehr. Sie kann uns auch alle Wünsche verbal äußern, sodass wir ihre auszuführende Kraft sind oder mit ihr zusammen etwas ausführen. 

Welche Therapien bekommt sie momentan?

Wir drehen Mias aktuellen Therapieplan mit Blick auf die Schule komplett auf links. In den letzten Monaten hatte sie 2x pro Woche Physiotherapie, 1x pro Woche Ergotherapie, 1x pro Woche beim Lokomat-Training (das ist wie ein großer Roboter, in den Mia eingeschnallt wird und dadurch auf einem Laufband laufen kann), 1x pro Woche spielerisches Rollstuhl-Training mit einer Kindergruppe und alle zwei Wochen therapeutisches Reiten. Die Hälfte der Therapien fand morgens vor der Kita statt, die andere am Nachmittag. Zusätzlich zur Schule ist dieser Therapieplan undenkbar. 

Glücklicherweise konnten wir einen super Physiotherapeuten finden, der Mia in der Schule 3x pro Woche physiotherapeutisch begleiten wird. Reiten haben wir jetzt erstmal gestrichen. Ergotherapie & die Rolli-Kids wollen wir beibehalten und den Rest werden wir sehen. Sicherlich wird sich Mia in der Schule erstmal „eingrooven“ müssen. Wir möchten ihr mehr Ruhezeiten geben oder eben auch freie Nachmittage um Freundinnen zu treffen, denn das ist im letzten Jahr definitiv viel zu kurz gekommen! 

Euer Sohn Noah ist jetzt fast 3 und ein richtiger Wirbelwind. Wie gehen die Geschwister miteinander um? 

Es wird definitiv nicht langweilig bei uns zuhause. Von „sich gegenseitig abknutschen und Liebesbekundungen“ hinzu „kratzen und rumschreien“ (…wenn Noah etwas Gebautes von Mia kaputt macht) – ist alles dabei. Für beide ist es eine wertvolle Zeit. Mit kinetischem Sand oder Magneten zu spielen, ist gerade ganz angesagt bei uns und lässt die Kids für 10-15 Minuten halbwegs harmonisch zusammen am Tisch sitzen. 

Ohne dass wir es einfordern oder Noah dazu animieren, hilft er Mia im Alltag. Sei es, die Schnallen am Rollstuhl zu halten, wenn wir sie hineinsetzen möchten oder dass er ihre Schuhe bringt und ihr beim Zumachen der Klettverschlüsse hilft. Dennoch bekommt sie durch ihn auch den ungefilterten „Bruder-Beef“, da er sie bloß aufgrund ihres Zustandes nicht mit Samthandschuhen anfasst. Sie ist seine Schwester, was sie kann oder nicht, ist ihm dabei ziemlich egal. Das ist natürlich herausfordernd, aber auch eine wichtige Schippe Normalität.

Was lernt Noah von Mia und umgekehrt? 

In erster Linie ist unsere große Hoffnung, dass die wichtigste Botschaft für beide sein wird, dass Liebe und Zugehörigkeit nicht von Fähigkeiten und Leistung abhängig ist. Noah lernt aktuell gerade eher von unserem Umgang mit Mia. Dass es Menschen gibt, die nicht alles eigenständig für sich erledigen können, ist für Noah von Anbeginn an die Normalität, was bestimmt einen wichtigen Teil seiner sozialen Werte formt.

Mia lernt durch Noah einige Dinge über Ihre spezielle Situation, da sie eben sieht, dass jemand der jünger als sie ist und mit ihr heranwächst, motorisch wesentlich mehr Möglichkeiten hat. Sie schmollt deshalb aber nicht, sondern erfreut sich eher daran und lebt es förmlich mit. Zwischen ihnen gibt es praktisch von beiden Seiten kein Gefühl von „anders sein“, was wir sehr schön finden.

Ganz „nebenbei“ baut ihr gerade auch noch ein Haus. Was war euch hier in Bezug auf Mia wichtig?

Wir haben lange Zeit nach einer barrierefreien Wohnung in Berlin gesucht, was sich schwieriger gestaltete, als wir dachten. Selbst eine Wohnung, die nur an Menschen mit Pflegegrad vermietet werden durfte, war voller Schwellen, einem schlauchförmigen Badezimmer oder einem Fahrstuhl, der eine halbe Etage unter bzw. über der Wohnungseinganstür hielt. Ganz abgesehen von den Mieten, die für Neubauwohnungen abgerufen wurden. 

Kurz gesagt: glücklicherweise ist ein Grundstück im Süden Berlins durch meinen verstorbenen Opa im Familienbesitz, sodass wir hier mit der Unterstützung meines Vaters bauen konnten. Hierbei war uns wichtig, dass wir so viele Optionen wie möglich für die Zukunft bedenken und abdecken, auch wenn Mias Entwicklung nicht wirklich vorhersehbar ist. 

Wir haben unser Haus selbst gezeichnet und dann von einem Architekten auf Plausibilität prüfen lassen, denn auch hier: es gibt wenige Architekten*innen, die im barrierefreien (oder barrierearmen) Bauen geübt sind, geschweige denn unsere Bedürfnisse einschätzen können. Denn barrierefreies Bauen wird vor allem mit alten Menschen in Verbindung gebracht und nicht mit Kindern, die noch heranwachsen. 

Es reicht hier eben nicht, allein die technischen Richtlinien für barrierefreies Bauen zu kennen und zu berücksichtigen, sondern es bedarf eben auch auf die Diagnose spezifische und praktische Erfahrungen.

Ich habe angefangen, Bekannten aus meinem näheren Umfeld, die im Rollstuhl sitzen oder eine ähnliche Diagnose wie Mia haben, nach Fotos oder Beschreibungen der Wohnsituation, zu fragen. Das startet bei dem kreisförmigen Drehradius für den Rollstuhl von 1-1,5m in jedem Zimmer und kann bei einem höhenverstellbarem und unterfahrbarem Waschbecken enden. 

Wir haben für Mia im Erdgeschoss eine separate 1,5 Zimmer-Wohnung eingeplant, sodass sie als auch wir, wenn sie 18 Jahre alt ist, entscheiden können, ob oder wie viel sie weiterhin von uns als Eltern gepflegt wird oder auch von einem Pflegedienst. Auch ein Platz im betreuten Wohnen ist in Berlin alles andere als gesichert.

Wir wollten für Mia einen Ort schaffen, auf den sie immer zurückgreifen kann. Außerdem gibt es einen Plattformlift im Haus, mit dem Mia vom Keller bis zum Obergeschoss fahren kann, als auch vor der Hauseingangstür einen Hublift (statt einer 10m langen Rampe, die wir hätten bauen müssen, um eine Steigung von 6% nicht zu überschreiten), sodass Mia die Höhendifferenz selbstständig überwinden kann. Als finanzielle Unterstützung erhalten wir hierfür von der Krankenkasse (es nennt sich „Wohnumfeldverbesserung“) einmalige 4.000 Euro. Ein Tropfen auf den heißen Stein. 

Zwei Kinder, zwei Jobs, eine Baustelle – wenn ihr einen Zauberstab hättet, welche drei Sachen würdet ihr euch jetzt wünschen, um das Leben etwas weniger stressig zu machen?

  1. schnelle Fertigstellung des Hauses & einen reibungslosen Umzug 
  2. einen in der Kita eingewöhnten und glücklichen Noah 
  3. eine feste Kindersitterin und/oder auch eine*n geeignete*n Einzelfallhelfer*in
Inklusiver Schulstart

Wer noch mehr über Mias Familie erfahren will: Sie ist eine von 10 echten Familien in unserem Kinderbuch „Wir alle sind Familie

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