Wie homophob ist Berlin? Ein schwuler Journalist macht den Selbsttest

Homophob

Ihr Lieben, wie homophob ist unsere Gesellschaft? Ich glaube, ich hätte vor Kurzem noch ohne groß nachzudenken gesagt, dass es heute ziemlich egal ist, ob man hetero oder queer ist. Und nun kommt das große Problem: Ich als Hetero-Frau habe nicht die leiseste Ahnung, was viele queere Menschen heute noch zu oft erleiden müssen. Denn: Ich musste nie Angst haben, angespuckt oder beleidigt zu werden, wenn ich meinen Liebsten in der Öffentlichkeit küsse. Ich wurde nie schräg angeschaut, wenn ich händchenhaltend durch die Stadt gelaufen bin.

Was queere Menschen aushalten müssen, wenn sie ihre Liebe öffentlich zeigen, hat jetzt auch der Journalist Stephan Seiler für den STERN aufgeschrieben. Ich kenne Stephan schon lange, wir haben früher mal in einer Redaktion zusammengearbeitet, später war er Chefredakteur bei DBmobil und wir hatten ihm unsere Kolumne dort zu verdanken. Darüber hinaus ist Stephan einfach ein richtig feiner Kerl und ich freue mich, dass er uns im Interview von seinem Selbsttest in Berlin erzählt hat.

Lieber Stephan, im Stern ist ein Artikel von dir, in dem du beschreibst, wie du zwei Tage händchenhaltend mit einem Freund durch Berlin läufst, um zu testen, wie gay-friendly Berlin ist. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Die LGBTIQ+-Community hat in den vergangenen Jahrzehnten wohl so viel Akzeptanz und Rechte erstritten wie kaum eine andere Minderheit in diesem Land. Als vor sechs Jahren die Ehe für alle sowie das Adoptionsrecht eingeführt wurden, dachte ich: Diese Rechte kann uns keiner mehr nehmen.

Seit ein paar Monaten bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ein Alarmzeichen war für mich die Geburtstagsfeier meines Nachbarn in Hamburg. Er lud eine kleine Runde ein. Seine fünf besten Freunde waren da – und ich. Wir saßen zu siebt am Küchentisch seiner Dachgeschosswohnung im Hamburger Schanzenviertel, tranken Wein und redeten über dies und das. Ich erinnere mich, dass ein Werber, ein Lehrer und ein Musiker unter den Gästen waren. Alles schlaue Leute, Anfang 40, aus der Mitte der Gesellschaft und so was von nicht-schwul. Irgendwann sagte der Werber, der schon den ganzen Abend den Ton angab, dass er ja nichts gegen Schwule habe und auch für die Ehe für alle gewesen sei. „Aber warum muss ich mir deren Rumgeschwule nun überall anschauen?“, fragte er und meinte, in jeder Netflix-Serie und jedem zweiten „Tatort“ seien „Die“ nun zu sehen. Das werde ihm echt zu viel.

Wie hast du darauf reagiert?

Mir schossen ein paar Fragen durch den Kopf: Wenn mutmaßlich liberal denkende Männer mitten im Hamburger Schanzenviertel so drauf sind, was denken erst Menschen im Rest der Republik über Schwule wie mich? Wenn auch in der Mitte der Gesellschaft eine schrecklich nette Homophobie vorherrscht, nimmt sie derzeit ab oder zu? Ich begann zu recherchieren und stieß zunächst auf viele widersprüchliche Umfragen. Woraufhin wir in der Redaktion des stern eine eigene Umfrage in Auftrag gaben, die zeigte, dass die Homofreundlichkeit vieler Menschen in Deutschland nur vordergründig vorhanden ist. Ein schwules Kind, eine lesbische Nachbarin oder eine trans Person als Kindergärtner oder Kindergärtnerin möchte ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft lieber doch nicht haben. Zugleich nahm ich zur Kenntnis, dass in vielen Städten der Zahl der angezeigten homo- und transfeindlichen Gewalttaten seit Jahren ansteigen. Aber was sind schon Zahlen? Ich wollte selbst spüren, wie sicher sich das Land für schwule Männer wie mich anfühlt. Also habe ich den Händchenhalt-Test unternommen.

Wie genau sah der Test aus?

Ich habe mich recht schnell dafür entschieden, den Test in der mutmaßlich queerfreundlichsten Stadt Deutschland durchzuführen, nämlich in Berlin. Wenn ich irgendwo auf der Welt andere schwule Männer traf, schwärmten sie meist von der so offen und freizügig wirkenden deutschen Hauptstadt. Auf LGBTIQ+-Websites fand ich kaum ein Städte-Ranking ohne Berlin. Wenn ich also irgendwo mit einem Mann ungestört Hand in Hand gehen kann, so meine Anfangsthese, dann ja wohl hier. Dachte ich. Alle meine schwulen Freunde aus Berlin lehnten es aber ab, mit mir den Test zu machen.

Warum?

Die meisten hatten Angst vor Übergriffen. Ein Freund, der diesen Sommer einen Job bei einer Berliner Bank anfängt, wollte auf keinen Fall, dass seine Kollegen durch den stern erfahren, dass er auf Männer steht. In der Finanzbranche sei das immer noch ein Tabu, meinte er. Ich erwiderte: „Stell dich nicht so an. Mach mit.“ Aber insgeheim ahnte ich, dass die Vorsicht berechtigt sein könnte. In den vergangenen Jahren habe auch ich in Berlin immer häufiger die Erfahrung gemacht, dass Taxifahrer in meinem Beisein über die „vielen Homos“ auf der Straße gelästert haben. Taxifahrer sind nach meinem Empfinden häufig ein guter Trendwert, um gesellschaftliche Entwicklungen grob zu erahnen.

Mit welchem Freund hast du den Test schließlich gemacht?

Simon, ein Freund von mir aus den USA, kam im Frühjahr nach Berlin. Er fand das Experiment spannend und sagte zu. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Wir waren in zehn der zwölf Berliner Bezirke meistens zu Fuß unterwegs, hielten einander fast nonstop an der Hand, von Charlottenburg bis Marzahn, von Reinickendorf bis Neukölln. Manchmal zeigten wir unsere Zuneigung auch anders. In U- und S-Bahnen legte Simon seine Hand mit den lackierten Fingernägeln auf meinen Oberschenkel. An Bushaltestellen umarmten wir einander, was praktisch war, weil wir auf diese Weise gut die Reaktionen vor und hinter uns beobachten konnten. Außerdem wurden wir die meiste Zeit von dem Fotografen Adrián Alarcón Sánchez begleitet, der ebenfalls beobachtete, wie Menschen unsere Anwesenheit goutieren oder ablehnen.

Welche Erfahrung hat dich während des Tests schockiert?

Das war zunächst die Vielzahl an ablehnenden Blicken in allen Stadtteilen. Manche schüttelten den Kopf, andere schauten angeekelt weg oder spuckten vor uns auf den Boden. Jugendliche äfften uns nach, eine Oma hielt ihre Hand schützend vor ihren Enkel, als wir vorbei liefen, als wollten wir ihn uns schnappen. Wir wurden überall, selbst im vermeintlichen Schwulenkiez Schöneberg oder in Mitte angegafft. Ich spürte Stress in mir, eine fortwährende Anspannung. Im Einkaufszentrum Eastgate verfolgte uns ein älterer Mann mit Schnauzbart. Er trug Schnauzbart und Windjacke, kreuzte immer wieder unseren Weg und starrte uns unentwegt an. Als Simon ein Eis in der Eisdiele „Promenade“ im ersten Stock bestellen wollten, stand der Typ plötzlich vor uns und drängte uns mit den Worten „Weg, weg!“ zurück. Ein Gespräch war kaum möglich. Der Mann schien kaum Deutsch zu verstehen.

Was für eine unangenehme Situation!

Als wir danach noch über die benachbarte Marzahner Promenade liefen, tauchte er abermals auf und einige andere jüngere Männer kamen dazu und gemeinsam starrten sie uns weiter an. Es mag für den ein oder anderen weinerlich klingen, aber seit dem Experiment fällt es mir schwer, in der Öffentlichkeit einen Kuss auszutauschen oder Händchen zu halten. Ich hoffe, ich kann diese kleine Paranoia bald wieder ablegen.

Und welche Erfahrung hat dir Hoffnung gegeben?

Die erlebte ich ebenfalls im Eastgate vor einem Thalia-Buchladen. Ein Mädchen mit kunterbunt gefärbten Haaren näherte sich uns. Die junge Frau sagte, sie sei 16 Jahre und wohne in einem der benachbarten Hochhäuser. Sie meinte, sie sei froh zu sehen, wie wir öffentlich unserer Liebe zeigen. Und das in Marzahn, wo selten überhaupt jemand Liebe zeigen würde, auch Heteros hielten sich dort zurück. Das Mädchen bezeichnete sich selbst auch als „queer“. Sein aufmunterndes Lächeln werde ich nicht vergessen.

Wenn Du Schulnoten vergeben müsstest: Wie schwulenfreundlich ist Berlin?

Vor dem Experiment hätte ich eine glatte Zwei gegeben, nach dem Experiment eher eine Drei bis Vier, wenn ich alle Stadtteile berücksichtige und einen Querschnitt ziehe. Immerhin haben wir keine Schläge erleben müssen, so wie viele queere Menschen, mit denen ich für die Reportage Interviews geführt habe (Die Protokolle stehen wie meine Reportage auf stern.de/queer). Berlin hat ein Problem mit Homo- und Transfeindlichkeit, was aber nicht heißt, dass die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner homo- und transphob ist. Wir haben auch viele Passanten uns anlächeln sehen. Einige strahlten derart auffällig, als wollten sie dem ganzen Kiez beweisen, wie tolerant sie sind.

Du hast auch gesagt, dieser Test hätte dir gezeigt, wie homophob du selbst gewesen seist oder bist. Wie meinst du das?  

Nach dem meinem Coming-out mit Ende Zwanzig war es einige Zeit mein Wunsch, so „normal“ und so männlich wie möglich zu wirken. Niemals hätte ich mir damals die Fingernägel lackiert. Drag-Shows schaute ich mir, wenn überhaupt, nur ironisch an. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich einmal gefragt wurde, auf was für einen Typ ich stehen würde, und antwortete: „So männlich wie möglich. Wenn ich etwas Weibliches wollte, hätte ich ja Hetero bleiben können.“ Dieser von mir dahingerotzte Spruch ist mir heute sehr unangenehm und zeugt davon, dass ich in einer Welt aufwuchs, in der Männlichkeit jeden Tag verteidigt werden soll und in der Weiblichkeit als etwas Schwächeres angesehen wird. Schwul zu sein, war ja noch gerade so okay, aber schwul wirken wollte ich nicht.

Das siehst du heute sicherlich ganz anders…

Diese internalisierte Homonegativität konnte ich zum Glück ablegen, wobei mir dabei ganz entscheidend die Gespräche mit vielen anderen Queers geholfen haben, vor allem mit trans Personen, mit Drag-Queens und schwulen Männern, die sich flamboyanter kleiden. Sie müssen in der Öffentlichkeit so viel mehr aushalten als ich. Ich wäre gerne so mutig wie sie. Liebe Homo-Hasser da draußen, mein Beispiel zeigt: Es besteht Hoffnung auf Heilung von dieser schlimmen Homophobie. Redet mit den Menschen, die ihr gerne hassen würdet. Das hilft.

Nun warst du in einer Weltstadt – was meinst du, wie wäre dein Test in einem schwäbischen oder ostdeutschen Dorf abgelaufen?

Mit Exfreunden bin ich häufiger auf dem Land Hand in Hand gelaufen und habe bis auf die üblichen Blicke keine negative Reaktionen erlebt. Ein Protagonist meiner Reportage, der gerne farbenfroh und geschminkt durch die Lande zieht, erzählte mir, dass er häufig bei seinem Freund, der im Schwarzwald lebt, zu Besuch ist. Er meinte, dort im Dorf würden die Bewohner beim ersten Mal zwar skeptisch schauen. Sobald sie aber verstanden hätten, dass die schrille Person nun häufiger zu Besuch käme, kein Einbrecher, dafür aber mit einem Dorfbewohner liiert sei, habe er dazu gehört. Seitdem fühle er sich im Schwarzwald sicherer als in Berlin. Wie es aktuell in auf dem Land beispielsweise in Sachsen oder Thüringen zugeht, kann ich nicht einschätzen. Aber ich würde das Hand-in-Hand-Experiment gerne auch dort ausprobieren.

Mal zu dir persönlich: Hast du aufgrund deiner Sexualität schon mal Ausgrenzung oder Ablehnung erfahren?

Im Freundeskreis zum Glück nur einmal, als mich nach meinem Coming-out ein russischstämmiger Freund nicht mehr treffen wollte. Ansonsten sind mir meine Freunde erhalten geblieben und ich habe seitdem viele neue wunderbare Menschen hinzugewonnen. Im Journalismus hatte ich selten Probleme. Allerdings spüre ich in vorwiegend männlichen Arbeitsumfeldern eine seltsame Zurückhaltung. Während meine Kollegen laufend nach ihren Freundinnen und Kindern gefragt werden, reden viele Heteros mit mir meist nur über Berufliches. Das kam nicht nur in einigen Redaktionen vor, sondern auch in gesellschaftlichen Parallelwelten, über die ich früher gerne berichtet habe, zum Beispiel Fußball oder Rap. Wenn ich dort erwähnte, dass ich einen Freund habe, hörte ich oft ein „ach so“, sah in ein nachdenkliches Gesicht, danach brachen die Gespräche meist ab.

Was macht das mit dir, wenn die AfD, die ja auch offen gegen  Homosexuelle hetzt, gerade so starke Umfragewerte hat?

Das erfüllt mich mit Sorge. Einfach weil es so effektiv ist, was rechtextreme Parteien, aber auch rechte YouTuber und Tiktoker, heute von sich geben. Wir queeren Menschen stehen stellvertretend für die Veränderung der Welt. Wir geben ein perfektes Feindbild für alle ab, die verunsichert und überfordert sind.

Erklär das mal genauer…

Nehmen wir nur die Regenbogenfahne. Sie stand einst für Liebe, Gleichheit und Akzeptanz anderer Lebensentwürfe. Die AfD oder rechte YouTuber und Tiktoker stilisieren sie heutzutage zu einem politischen Kampfzeichen hoch. Das ist so falsch, so dumm, aber es scheint zu verfangen. Der Werber auf dem Geburtstag meines Nachbarn reagierte zum Beispiel genervt davon, dass in der Bundesligapause auf Sky ständig die Regenbogenfahne eingeblendet wird. Er frage sich, was die Schwulenfahne mit Fußball zu tun habe und ob er damit manipuliert werden solle. So wird ein Zeichen der Liebe plötzlich als Angriff aufs eigene Leben umgedeutet, obwohl die queere Menschen den Heteros de facto nichts wegnehmen.

Wir ziehen mit unseren Kindern die nächste Generation groß – was würdest du dir wünschen, was wir ihnen in Bezug auf Homosexualität mitgeben? 

Ich glaube, heute hilft, was mir damals auch geholfen hätte: Eltern, Geschwister und Verwandte, die den Kindern klar signalisieren, dass es völlig okay ist, so wie sie sind, egal wie sie sind. Dass sie geliebt werden und immer zur Familie dazu gehören, gleich wen sie eines Tages als Partner oder Partnerin mit nachhause bringen. Es braucht auch einen Wandel in den Schulen. Dort sind viele Lehrerinnen und Lehrer immer noch nicht sensibilisiert. Homophobe Schimpfwörter wie „Schwuchtel“ werden meist genauso toleriert wie bei mir damals.

Was sollte in Schulen noch passieren?

Ich würde mir wünschen, dass in jeder Schule eine Vertrauensperson bereitsteht, an die sich queere Schülerinnen und Schüler wenden können. Außerdem wäre es meiner Meinung nach sinnvoll, dass queere Personen die Mittelstufenklassen besuchen, damit die Schülerinnen und Schüler ihnen Fragen stellen können. Damit könnte man womöglich auch jene ein Stück weit gegen Homo- und Transphobie immunisieren, deren Eltern noch nicht im Hier und Heute angekommen sind oder die nachmittags auf Tiktok oder YouTube mit queerfeindlichen Sprüchen bombardiert werden. Denn davon gibt es offensichtlich immer mehr.

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3 comments

  1. Ich finde den Artikel total interessant und finde es erschreckend wie homophob gerade in den Großstädten die Menschen immer noch sind. Ich erlebe das durch mein queeres Kind. Das in den Schulen dazu nichts passiert, wie in dem Artikel beschrieben, ist wirklich schlimm. Wenn man da nicht anfängt und für Infos und Aufklärung sorgt dann wird es auch nie weiter gehen. Danke für den Artikel!

  2. Hallo ich finde das ganze ein recht spannendes Experiment.
    Was die privaten Gespräche über die Familie angeht so sind viele glaube ich immernoch unsicher und wollen vielleicht auch nichts falsches sagen. Mit meinem Schwager z.B telefoniere ich mehr, wie mit meinem Bruder. Er ist ein toller Mensch und ich bin froh ihn in der Familie zu haben. Ich erlebe die Gesellschaft immer wider als rassistisch und Homophob alleine durch alltägliche Aussagen und kann mir vorstellen das das für Betroffene oft nicht angenehm ist. Ich würde mir wünschen das die deutschen hinter der Meinung stehen die sie nach außen hin vertreten.

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