Herzkind: „Unser Baby kam mit komplexem Herzfehler zur Welt“

Herzkind

Ich bin Claudia, 42 Jahre alt und seit einem Jahr Mama eines Babys mit angeborenem Herzfehler. Ich freue mich, hier unsere Geschichte erzählen zu dürfen, denn damit hoffe ich anderen Mamas bzw. Eltern zu helfen, sich für ihren Start in die Herzchen-Welt zu wappnen. Vielleicht kann unsere Geschichte Freund*innen, Großeltern, Tanten und Onkels betroffener Familie helfen, sich besser in die Gefühlswelt der neuen Herzkind-Eltern hineinzufühlen, in meinem Blog erzähle ich auch ganz offen davon.

Unsere Geschichte erzähle ich aus einer Situation der Entspannung heraus. Wir haben viele wichtige Operationen bereits geschafft und unser Herzkind ist aktuell seht gut drauf! Es ist, was den Herzfehler betrifft, sehr stabil. Allerdings wohnen wir hier mit einer regelrechten Wundertüte zusammen, denn unser Herzkind hat in seinen ersten Lebenstagen mehr Komplikationen mitgenommen, als uns lieb waren und deren Auswirkungen wir erst im Laufe der Zeit erkennen werden können.

Herzkind: Die Diagnose des Herzfehlers

Seit gut einem Jahr bin ich nun eine Herz- oder Herzchen-Mama, so nennen „wir“ uns. Denn obwohl man sich nach der Diagnose ziemlich allein und ohnmächtig fühlt, so gibt es doch mehr von „uns“ als ich mir vorher vorstellen konnte. Nein anders, bevor ich betroffen war, habe ich das Thema überhaupt nicht wahrgenommen.

Wir haben bereits beim Ersttrimester-Screening von einem möglichen Herzfehler unseres Babys erfahren. Das war natürlich ein Schock. Die Zeit nach der Diagnose fühlte sich an wie verzerrt und gedehnt. Ich war wie gelähmt. Unbeweglich. Auch im Kopf! Alles zäh, träge und dumpf. Ich nenne sie gerne die „Zeit des Nebels“. Es hat gedauert, bis ich wieder klarer sehen und denken konnte. Sich alles aus dem Kopf und von der Seele zu schreiben hat mir unheimlich gutgetan und so habe ich einen Blog gestartet und inzwischen über 70 Artikel über unseren Start ins Leben geschrieben.

Als Prognose bei Babys mit Herzfehler hat uns der Kinderkardiologe damals gesagt, dass nach entsprechenden Herzfehler-Operationen ein normales Leben möglich sei, falls keine Komplikationen auftreten. Das hat uns beruhigt und auch zuversichtlich gestimmt. Ich gebe allerdings zu, dass in meinem Kopf „operabeler Herzfehler“ deklariert war, wie ein kaputtes Auto: Kurz reparieren respektive operieren und „fertig“.

Dass das meist mit großen Entwicklungsverzögerungen, OP-Risiken und mentalen Höchstleistungen und Herausforderungen der Eltern einhergeht, habe ich – vielleicht zum Glück – nicht gewusst. Ich weiß, dass ich beim ersten Termin mit dem Kardiologen den Satz sagte: „Der Kleine ist gekommen, um zu bleiben!“ und das hat uns unser Sohnemann mehr als einmal bewiesen! ❤️

Es folgten mehrere Verlaufskontrollen und die Feindiagnostiken mit jeweils der Pränataldiagnostikerin und dem Kinderkardiologen. Der diagnostizierte Herzfehler nennt sich „DORV Typ Fallot“ (Double Outlet Right Ventrikel) und gilt als komplexer angeborener Herzfehler, da mehrere Anomalien des Herzens kombiniert vorliegen. Dabei gehen beide großen Gefäße die aus dem Herzen herausführen von einer Herzkammer ab, in unserem Fall aus dem rechten Vorhof. Glück im Unglück ist, dass dieser Herzfehler in der Forschung sehr gut dasteht, da er relativ häufig ist und daher die Prognosen auch sehr gut abzuschätzen sind.

Leider kam im Verlauf noch eine noch seltenere Anomalie des Dünndarms dazu, die man auf dem Ultraschall mit zwei großen dunklen, mit Wasser gefüllten Blasen erkannte. Das ist zum einen der mit Flüssigkeit gefüllte Magen und quasi dahinter eine Blase im Darm, die dadurch entsteht, dass der Darm dort nicht durchgängig ist und sich die Flüssigkeit noch einmal staut. Pränataldiagnostiker nennen dies wegen des Bildes auf ihrem Monitor ein „Double Bubble Sign“. Dieser Verschluss des Darms machte eine OP direkt nach der Geburt notwendig und war im Endeffekt sogar noch dringender als ein Eingriff am Herzen.

Unterstützung für Familien von Babys mit Herzfehler

Ich bin IT-Projektleiterin. Und so habe ich gerade in der Anfangszeit nach der Diagnose meinen Kopf mit etwas abgelenkt und beschäftigt, was er kann: Pläne und Konzepte machen. Das hat mir unheimlich geholfen, weil es mich handlungsfähig gemacht hat. Anstatt mich als Opfer der Situation hinzugeben, bin ich das Thema proaktiv angegangen. Schön mit System natürlich! Welche Personen und Faktoren haben mit dem Thema zu tun? Wer hat welche Bedürfnisse? Und was kann jeweils geplant, besprochen oder vorbereitet werden?

Und was ich auch mochte: das Gefühl, vorbereitet zu sein. Selbst wenn manches Vorgedachte nicht passen oder passieren würde, einige Gedanken und Vorbereitungen passten bestimmt! Und jedes vorbereitete Detail, welches hilfreich war, hat mir Aufwind gegeben! Ab und zu ein Tschakka kann man sehr gut gebrauchen!

Und so hat unsere Planungswand zu Hause einen Schub neuer Zettel bekommen. Ich habe mich in die Rolle der Managerin meines Sohnes eingefunden (ich nenne es „Gesundheitsmanagerin“). Oma und Opa wussten um ihre Rolle und ihre Aufgaben. Und auch meine Schwester in Aachen – wir haben uns für die Uniklinik in Aachen entschieden – war instruiert als Unterstützung vor Ort.

Unsere Tochter war bei der Diagnose keine drei Jahre alt. Schon ab der Diagnose hat sie unsere Sorgen und unsere Nervosität gespürt. Kinder, die neben Kindern mit Beeinträchtigungen groß werden, nennt man im Sprachgebraucht auch „Schattenkinder“. Nur, dass sie schon ab Diagnose – also schon in der Schwangerschaft – ein Schattenkind war. Meine Gedanken waren auch da öfter beim zukünftigen kleinen Bruder als im Hier und Jetzt bei ihr.

Wir haben dann Strategien gegen das Schattenkind-Dasein der großen Schwester ausgetüftelt und ausprobiert. Die Devise war, dass sie so viel Exklusivzeit wie möglich von Mama oder Papa bekommt. Und wir haben mehrere Optionen entworfen, wer wo wohnen könnte und wovon es abhängt, wer wo wohnt. Alle 4 in Aachen verteilt auf Krankenhaus und Ronald-McDonald-Haus oder Papa und Tochter mit Oma zu Hause.

Am Ende hatte ich das Gefühl, die Bedürfnisse aller waren mitgedacht worden. Und so konnte ich mich entspannen und auf die Geburt warten! Ok, der Bauch hat mich nicht entspannen lassen. Aber ich konnte kopf-entspannt die letzte Zeit im Krankenhaus absitzen.

Abschied von Erwartungen an Schwangerschaft, Geburt und das erste Babyjahr

Die Zeit der Schwangerschaft war auch geprägt von Abschieden. Keinen „realen“ aber dennoch schmerzlichen. Ich wollte ein artgerechtes Baby – denn ich bin ausgebildete artgerecht®-Coachin des artgerecht® Projektes. Ich wollte eine problemlose, harmonische Schwangerschaft. Irgendwo eine ruhige Geburt. Danach kuschelnd zum Stillen kommen. Mit der großen Schwester kuschelnd Familie werden. Und von all diesen Träumen, Erwartungen und Wunschvorstellungen musste ich mich verabschieden.

Dann der für mich sehr krasse Abschied vom Stillen direkt nach der Geburt, denn aufgrund des Darmverschlusses durfte der kleine Kämpfer nach der Geburt nur intravenös mit Glukose durch eine Infusion ernährt werden. Bis dahin trug mich der Gedanke, dass – trotz Herzfehler – ein kurzer kuscheliger Start mit Baby möglich sei! Und dann der „normale“ Abschied von der „Kleinstfamilie“. Wie wird es zu viert? Vor allem, wenn Nr. 4 mehr Aufmerksamkeit benötigt als ein gesundes Baby? Reißt uns der Stress auseinander? Oder bekommen wir es irgendwie hin, dass niemand auf der Strecke bleibt?

Unausgesprochen noch die Angst, sich von den Träumen für die Zukunft verabschieden zu müssen. Ist der kleine Mann wirklich so fit, dass wir z.B. mit unserem Wohnwagen wegfahren können? Was ist mit der gewohnten aktuellen Lebensplanung, dass beide Eltern irgendwann wieder arbeiten? Welche Lebensqualität hat so ein Baby mit Herzfehler? Und was ist, wenn das Schlimmste eintritt: Dass der Herzfehler schwerwiegender ist oder es Komplikationen gibt und wir uns vom kleinen Kämpfer wieder verabschieden müssen? Werden wir überhaupt zu viert sein?

Die Geburt ließ auf sich warten

Die Anomalie des Baby-Darms hatte noch eine andere Auswirkung. Ich hatte zu viel Fruchtwasser. In der Fachsprache Polyhydramnion. Ich hatte einen Bauch wie eine Zwillings-Schwangere. Darin konnte unser Herzfehler-Baby quasi frei herumschwimmen. Da ein Polyhydramnion unter Geburt noch mehr Komplikationen mit sich bringen kann, haben mich die Ärzte in der Schwangerschaftswoche 36 stationär aufgenommen.

Aufgrund mehrerer Faktoren hat sich die Geburt aber noch bis zum Tag 37+6 hingezogen. Vor allem mein Kopf konnte nicht auf den Geburtsmodus umschalten, nachdem er 6 Monate gedacht hat: „In mir ist mein Kind sicher mit Sauerstoff versorgt, erst wenn das Baby geboren ist, treten die ersten Symptome des angeborenen Herzfehlers auf“.

Leider hat sich auch in den letzten Tagen mein Blutdruck selbstständig gemacht. Und so endete der Versuch der Einleitung der Geburt nach 5 Tagen ohne eine einzige Wehe in einem kurzfristig geplanten Kaiserschnitt. Das Risiko, noch weiter abzuwarten wäre für mich und das Baby zu hoch geworden. Der kleine Kämpfer wurde dann direkt nach dem Kaiserschnitt an meinem Kopf im OP-Saal vorbeigerollt. Der Kinderkardiologe, der die U1 durchgeführt hatte, war sehr zufrieden mit ihm. Und mir sind – noch auf dem OP-Tisch – so viele Steine vom Herzen gefallen, dass mein Kreislauf endgültig schlapp gemacht hat.

Die Nacht nach der Geburt habe ich mit einem akuten HELLP-Syndrom auf einer Intensiv-Überwachungsstation verbracht. Mein neugeborenes Baby auf der Neonatologie. Der frische Papa ist knapp 100 Kilometer wieder nach Hause gefahren zur Tochter, die von Oma und Opa betreut war. So hatten wir das nicht geplant. Die nächsten 72 Stunden habe ich im Kreißsaal versorgt werden müssen, da nur dort 24/7 ein Gynäkologe anwesend war. Ein Besuch auf der Kinderintensivstation war mir nicht möglich.

Ein Baby mit Herzfehler auf der Intensivstation

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Ach, war das doof, nach der Geburt das erste Mal auf der Intensivstation. Ich wurde auf einem gelben Transportstuhl mit Magnesiumtropf und Blasenkatheter von der netten Hebammenstudentin gefahren. Ich noch voll unter Drogen von einem HELLP-Syndrom. Ich konnte mich nicht mal auf den Beinen halten. 50 Stunden nach der Geburt war das erst. Nicht, weil das Baby nicht fit genug war. Nein, ich war ausgeknockt!

Da werde ich also auf die Intensivstation gerollt, auf der ich mich nicht auskenne, kann mich nicht frei bewegen und mir das Tempo selbst aussuchen, mit dem ich ins Geschehen eintauche und besuche nach endlosen 50 Stunden zum ersten Mal mein Baby. Mit ner Rakete ins All auf den Mond muss eine ähnliche Erfahrung sein. Ich total überfordert und unsicher. Und mit einem Stress im Nacken, den ich gar nicht fassen konnte. Hierauf war ich dann nicht vorbereitet. Da liegt es, das Baby. Und es kommt mir gleichzeitig so vertraut und so fremd vor.

Im Nachhinein weiß ich, dass ich das Gefühl hatte, Verantwortung zu haben. Schließlich bin ich die Mama! Ich, die sich nicht auf den Beinen halten kann! Ich, die keine Ahnung von den ganzen Geräten und piepsenden Kurven hat! Ich, die dieses Baby weniger gut kennt als die nette Pflegerin daneben! Dieser Verantwortung kann ich nicht gerecht werden. Meine Erkenntnis, die ich erst Monate später erlangt habe: Das musste ich auch nicht! Auf der Intensivstation hat die Mama nicht die Verantwortung! Krasse Erkenntnis, die mein Unterbewusstsein noch immer nicht wirklich erreicht hat.

Die Herzfehleroperationen und Komplikationen

An seinem 4. Lebenstag wurde der kleine Kämpfer am Darm operiert. Von dieser ersten OP – oder eher von der Narkose – hat er sich leider nicht gut wieder berappelt, die Sauerstoffsättigung von unter 80% tat ihr übriges. Und so ist aus der für Herzkinder fast standardmäßigen Herzkatheter-Untersuchung am 11. Lebenstag eine Not-OP am offenen Herzen geworden. Diese OP hat seinen Blutkreislauf so unter Stress gesetzt, dass er zwei Mal reanimiert werden musste.

Die Ärzte haben daraufhin in einer weiteren Not-OP noch am selben Abend den Brustkorb wieder geöffnet und die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Irgendwann an diesem Tag, hat unser kleiner Kämpfer zwei Schlaganfälle erlitten. Dieser Verlauf hat nicht nur uns, sondern auch einige der Ärzte dort sehr mitgenommen. Zwischen „nicht wieder aufwachen“ und „nur wenige Einschränkungen“ liegen ab diesem Tag seine Prognosen.

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Ich werde wahrscheinlich mein Leben lang diesen Tag und dieses Datum nicht vergessen. Und auch nicht dieses Gefühl von Panik. Es hat sich tief eingebrannt. Bei der Einschlafbegleitung der großen Schwester habe ich – mitten im Sommer – die Weihnachtsbäckerei gehört. Bis heute kommen mir bei diesen tollen Liedern die ohnmächtigen Gefühle dieses Abends wieder hoch. Diese Gleichzeitigkeit von „normalem Leben“ und „mein Baby kämpft ums Überleben“ hat mir damals alles abverlangt.

Es folgten danach noch viele Aufs und Abs. Viele Komplikationen vor allem nach dem Ausbau der Herz-Lungen-Maschine und dem Verschluss des Brustkorbs. Viele Mini-Eingriffe, um ihn weiter zu stabilisieren. 4 Wochen Intensivstation hatten wir schlussendlich hinter uns. Nach einer weiteren Woche auf der Normalstation durften wir nach Hause! Noch einmal zum Realisieren: diese Herzkinder sind solche Kämpfer, dass unser Sohn die Klinik knapp einen Monat nach diesem schrecklichen Not-OP-Tag verlassen konnte!

Zuhause mit einem Baby mit Herzfehler

Und dann, nach schier endlosen Wochen, waren wir endlich zu Hause! Endlich so etwas wie Wochenbett! Ääääh…nein. Anträge schreiben und verschicken, Milch abpumpen, Rezepte besorgen, Flasche geben, Medikamente bestellen, Stillen üben, Milch abpumpen, Medikamente aufziehen, Flasche geben, Medikamente verabreichen, Widersprüche formulieren, Stillen üben, Arztbrief lesen. Müde sein.

Das Herzkind anfangs noch entspannt, wird nach zwei Wochen zu Hause sehr gestresst. Zur Klarstellung: Das Baby hat den Herzfehler noch und der Blutkreislauf ist noch nicht so, wie bei einem gesunden Menschen. Dadurch hat er eine Sauerstoffsättigung von ca. 85%. Erwachsene Menschen wären da schon ohnmächtig! Er entwickelt deswegen eine krasse Muskelhypertonie, das ist eine überspannte Muskulatur und einen Opisthotonus, das bedeutet er überstreckt sich andauernd nach hinten, so dass wir ihn kaum halten oder tragen können.

Er weint viel. „Nie zufrieden“ heißt ein Blogartikel. Unsere Nerven werden dünner. Die Gespräche weniger. Die Stimmung gedrückter. Die Schattenkind-Schwester leidet. Wir planen und strukturieren um. Mehr Exklusivzeit für sie ist die Devise, aber kaum machbar. Alle zwei drei Tage wird der Alltag unterbrochen – oder ergänzt? – von Schädelsonographien, EEGs, Herzultraschall-Untersuchungen, Physiotherapie.

Manchmal bekommen wir Besuch. Vom Bunten Kreis, vom MDK, vom Jugendamt, von den frühen Hilfen, vom Pflegedienst. Und bei jedem Wickeln der Blick auf die Narben als Zeichen dafür, was der kleine Kämpfer schon alles durchgestanden hat. Das Thema Herzfehler bestimmt in den ersten Monaten ALLES! Ein kleiner Lichtblick ist aber, dass nach vielen vielen Versuchen das Stillen klappt und er sich dadurch herunterregulieren kann. Für ein paar entspannte Momente am Tag!

Mit Baby beim Arzt oder Therapeuten

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Es waren anfangs wirklich viele Arztbesuche und Untersuchungen. Jedes Mal wollte ich wie eine Löwin die Unversehrtheit meines Babys schützen. Andererseits wollte ich natürlich auch die bestmögliche medizinische Versorgung für das Herzkind, um ihm ein langes und aktives Leben zu ermöglichen. Und zack… saß ich in einem Dilemma, das schlechte Gewissen im Nacken, ein dauerndes „Es tut mir so leid“ an das Herzkind.

Wenn ich ihm Medis verabreiche oder Physio turne, findet er es richtig kacke. Aber ich versuche es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Bei den Medis schnell Milch hinterhergeben. Bei den Physio-Übungen mal was weglassen, mal was abkürzen. Irgendwas, was es dem Mamaherz leichter macht. Sind wir beim Arzt oder Therapeuten, ist dieses „so angenehm wie möglich machen“ echt ein Akt! Viel Kopfarbeit ist nötig, um auch in den stressigen Situationen den Mut aufzubringen für das Herzkind Partei zu ergreifen.

Und auch einige Erfahrung ist nötig. Wissen über die Abläufe in den verschiedenen Praxen helfen. Oder das Kind zu kennen. Wie kann ich es am besten halten, dass es sich sicher fühlt? An welcher Stelle ist die Blutabnahme am erfolgversprechendsten und damit schnell vorbei ohne vier Versuche zu benötigen? Und so lerne ich schnell, aber trotzdem noch viel zu langsam, den Respekt vor den weißen Kitteln im Zaum zu halten, damit mehr Raum bleibt für die Bedürfnisse meines Herzkindes!

Nachteilsausgleich: Hilfe annehmen ist schwer

Auch ein neues Wort in meinem Vokabelheft ist „Nachteilsausgleich“. Das ist der Fachbegriff dafür, dass durch z.B. Behinderungen benachteiligte Menschen einen (meist finanziellen) Ausgleich bekommen. Das Wort kommt irgendwie total unscheinbar daher. Und so könnte man es fast ignorieren. Einen Nachteilsausgleich bekommt man aber nicht frei Haus, nicht automatisch, nicht aufgedrängt. Man muss darum bitten, Anträge stellen. Argumentieren. Kämpfen.

Kurz darüber nachgedacht, macht allein das Wort schon müde und frustriert. Und gleichzeitig ruft das Unterbewusstsein: Nein! Brauchen wir nicht! Wir haben keine Nachteile! Das ist das normale Leben! Wir sind erwachsen, finanziell unabhängig, mündig und haben bisher einiges gewuppt! Wir brauchen nichts! Niemanden der sich einmischt! Kein Mitleid! Keine Hilfe, keine Almosen!

Es hat bei mir ein bisschen gedauert. Zu lange wahrscheinlich. Die Erkenntnis, dass der kleine Kämpfer und wir als Familie doch mehr Nachteile einstecken mussten und weiter müssen, als ich wahrhaben will. All die Zeit, die wir in die Pflege investieren, geht entweder von der Zeit mit der großen Schwester ab (was wir tunlichst zu verhindern versuchen, Stichwort Schattenkind), von Arbeitszeit (anfangs in Elternzeit noch gerade so zu wuppen, danach aber ein Kraftakt) oder von der Hausarbeit. Und diese Löcher versuchen wir zu stopfen. Zu zweit als Eltern-Team, gemeinsam mit unserem kleinen Dorf.

Und so haben wir Hilfe beantragt. Zusätzlich zu unserem „Dorf“ haben wir Unterstützung in der Form einer Familienpflegerin. Die kann eigentlich alles, was wir Eltern auch können. Haushaltsführung, Kinder versorgen, Waschen, Kochen, Einkaufen. Wir haben mit ihr besprochen, dass sie regelmäßig einen „Grundputz“ für uns macht. Die Familienpflegerin macht somit 2 Stunden Haushalt die Woche als Ausgleich z. B. dafür, dass ich 2 Mal die Woche zu Ärzt*innen tingele und noch einmal zur Physio. Ein kläglicher Ausgleich, aber er ist da. Ich muss nicht auch noch meine große Tochter vertrösten, nur weil ich staubsaugen oder das Bad putzen muss. Das nimmt viel Druck.

Finanzielle Nachteilsausgleiche sind die Zahlungen der Pflegekasse. Mit einem Pflegegrad kommt Pflegegeld einher, und nach 6 Monaten auch ein Betrag für die sogenannte „Verhinderungspflege“. Geld, das wir dazu verwenden könnten, eine Pflege zu organisieren, um selbst einmal „Urlaub“ von der Pflege zu nehmen. Und wir haben Anspruch auf monatliche Pflegemittel, wie Handschuhe oder Masken. Alles Verbrauchsmaterial, welches in der Pflege anfallen könnte.

Wir haben auch einen Schwerbehindertenausweis beantragt. Der kann für weitere finanzielle und organisatorische Erleichterungen sorgen. Freibeträge bei der Steuer, vergünstigte Eintritte und Fahrkarten, in besonderen Fällen auch kostenloses Parken. 100 Prozent ist sein Grad der Behinderung. Wir schwanken sehr, ob uns das freut oder nicht. Über den orangenen Parkausweis, mit dem wir auf öffentlichen Parkplätzen kostenlos stehen dürfen, freuen wir uns. Kurze Wege sind mit einem herzkranken und entwicklungsverzögerten Baby eine große Erleichterung!

Und das sind nur die Nachteile, die wir im Hier und Jetzt haben und „ausgleichen“ können. Nicht mit eingerechnet sind da Nachteile, die auf den kleinen Kämpfer zukommen können. Ihm später zu erklären, dass er keinen Anspruch auf Pflegegeld, eine Integrationskraft, einen Schwerbehinderten-Ausweis oder einen Nachteilsausgleich für chronisch kranke Kinder in der Schule hat, wäre schlicht peinlich. „Nein, liebes Herzkind, du hast keinen Nachteilsausgleich. Das war uns damals irgendwie … „unangenehm“. Das war wahrscheinlich mein größtes Learning: Wäre ich zu stolz Hilfe anzunehmen, würde ich mein Kind mit meinen eigenen Glaubenssätzen zum Thema Behinderung behindern.

Aufatmen nach der Herz-Korrektur-OP

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Unser Herzkind zählte zu den Kindern, die erst nach ca. einem halben Jahr oder bei mindestens 5 kg korrigierend operiert werden. Statistisch gesehen haben Operationen nach diesen Meilensteinen die besten Ergebnisse. Und so hatte er fast auf den Tag genau 6 Monate nach der Geburt seine Korrektur-OP.

Dieses Mal lief es „wie geschmiert“. Mit Aufnahme und Entlassung waren wir keine 9 Tage im Krankenhaus. Und das bei einer OP am offenen Herzen! Wir haben noch auf der Intensivstation wieder gestillt! Und schon 5 Tage nach dem Eingriff brauchte der Kleine keine Schmerzmittel mehr.

Die Wochen danach haben gezeigt: Die OP hat ihm nun endlich Lebensqualität ermöglicht. Denn weil mit der geringeren Sauerstoffsättigung anscheinend bei ihm keine Entwicklung möglich war, hatte unser Baby bei der OP quasi ein Entwicklungsstand eines Neugeborenen. Seit der OP sind die Fortschritte sichtbar! Er ist fitter, neugieriger, „kommunikativer“! Endlich fängt er auch an große Kontraste zu erkennen, wir dachten 6 Monate lang, er würde nie sehen können! (Das erste Mal in seinem Leben lächeln kam nach 7 Monaten… er hat die Dunstabzugshaube schüchtern angelächelt!)

Für „unseren“ Herzfehler müssen wir aktuell zum Glück nicht viel beachten. Wir sind sogar frei von Medikamenten! Es stehen lediglich halbjährliche Kontrolltermine an, deren Abstände immer größer werden. Wenn das Herz wächst, muss überprüft werden, ob alle Herzklappen und Arterien proportional mitwachsen, damit das Herz, besser gesagt der Blutkreislauf, im „Gleichgewicht“ bleibt.

Außerdem muss überprüft werden, ob sich die Muskelmasse an der rechten Herzkammer zurückgebildet hat. Diese Herzkammer war bis zur OP quasi allein dafür verantwortlich, dass Blut Richtung Lunge und Körper gepumpt wird. Die ist nun quasi zu stark, während die linke Herzkammer noch trainieren muss. Bei uns stehen an dieser Stelle die Zeichen eindeutig auf Entspannung und ein weiterer Eingriff in weiter Ferne!

Die ungewisse Zukunft nach den Schlaganfällen

Herzkind

Unser kleiner Kämpfer ist trotzdem stark entwicklungsverzögert. Bis zur Herzkorrektur-OP war ihm anscheinend keine Entwicklung möglich durch die geringe Sauerstoffsättigung. Bis Weihnachten hatten wir quasi ein Neugeborenes 7 Monate altes Baby. Seitdem sind aber große Fortschritte zu erkennen! Zwar läuft die Entwicklung nicht so schnell ab wie bei gesunden Babys, aber es sind definitiv viele tolle Erfolge sichtbar!

Aber wo hören die Fortschritte nach der Herz-OP auf und wo fangen die Einschränkungen durch die Schlaganfälle an? Wir leben hier mit einer Wundertüte zusammen. Das MRT-Ergebnis damals nach den Reanimationen war erschreckend, aber mehr wissen wir seitdem auch nicht. Wir leben im Status: „Was er nicht können wird, wissen wir erst, wenn er es nicht kann!“

Allerdings können wir langsam sehen, dass sich die Schlaganfälle bemerkbar machen. Die Hand und das Bein auf der linken Seite entwickeln sich nicht so wie die rechte Seite. Insgesamt ist die Entwicklung sehr langsam. Und es kann sein, dass die Schlaganfälle irgendwann noch „sichtbarer“ werden. Sei es, dass er eine Epilepsie entwickelt oder motorische Einschränkungen und Spastiken hat. Dahingehend ist unser Herzkind gerade wie gesagt eine totale Wundertüte.

Und so steuern wir weiter durch Nebelschwaden. Manchmal geht’s es uns gut und wir sehen klar! Und manchmal beschleichen uns wieder die Gedanken und Sorgen. Wird er sitzen, krabbeln, laufen lernen? Kann er sehen, hören und riechen? Und was macht sein Kopf mit diesen Eindrücken? Wird sich das Sehen noch weiter entwickeln? Kann er die Entwicklungsverzögerungen jemals aufholen? Wird er je seine Gefühle erkennen, ausdrücken und regulieren können?

Manchmal wünsche ich mir, es alles vorher zu wissen. Manchmal genieße ich die aktuelle Situation, nicht den weiteren Verlauf zu kennen. Nach der Diagnose damals schrieb ich den Halbsatz „Zwischen nicht-zu-viel-Hoffnung-machen und Vorfreude“. Und ich habe das Gefühl, dass uns dieses „Dazwischen“ noch so einige Jahre begleiten wird.

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Herzkind
Das Herzkind im Urlaub in der Kraxe

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4 comments

  1. Zunächst mal, da habt ihr ja wirklich einiges durch. Ich wünsche euch und eurem kleinen Kämpfer, dass es nun stetig aufwärts geht.
    Was mich etwas wundert, dass hier die Sättigung für den Entwicklungsrückstand verantwortlich gemacht wird. Hatte man euch das so gesagt? Unser Sohn hatte eine ähnliche Sättigung über 5 Monate und war zwar motorisch etwas verzögert, kognitiv aber nicht. Lächeln, gucken, reagieren war alles zeitgerecht. Mein Bruder hatte sogar 15 Monate nur so eine niedrige Sättigung und hat außer Laufen alles pünktlich gelernt. Das ist eigentlich keine dramatisch niedrige Sättigung, wenn man sie von Geburt an hat und der Körper es nicht anders kennt.

    1. Hi Isa, der kleine Kämpfer kämpft weiter und ist gerade super drauf!
      Die Sättigung hatte keine direkte Auswirkung auf die Entwicklungsverzögerung. Durch den Schlaganfall hatte er aber eine anfangs wirklich starke Spastik durch den ganzen Körper (Opisthothonus). Und diese Spastik nimmt – auch heute noch – bei Stress zu, also auch bei niedriger Sauerstoffsättigung. Ist er in der Spastik gefangen, kann er seinen Körper und seine Gliedmaßen quasi nicht selbst steuern, da übernimmt die Spastik das Ruder. Deswegen hat die Sättigung indirekt die Entwicklung mit verzögert.
      Liebe Grüße!
      Claudia

  2. Liebe Claudia,
    deine Geschichte geht mir sehr nahe und ich bewundere deine Stärke, mit all diesen Erfahrungen, beginnend bei der ersten Fehlgeburt, umzugehen.

    Vielen Dank für deine detaillierten Schilderungen, die Darstellung der Gefühlsachterbahn und auch deiner Verfassung in den verschiedenen Situationen. Tatsächlich hat mir dies sehr bei einer eigenen Entscheidungsfindung in einer sehr schwierigen und belastenden Situation geholfen.

    Ich wünsche dir und deiner Familie von Herzen alles Gute!🍀
    Simone

    1. Hallo Simone,
      es freut mich zu hören, dass die meine Schilderungen helfen konnten. Genau das möchte ich erreichen. Oft hört man ein „Googeln sie bloß nicht!“ und steht dann allein mit seinen Gedanken, Gefühlen und Fragen. Mit meinem Blog und diesem Artikel möchte ich genau das Gegenteil erreichen. Zu sehen, dass man nicht allein ist mit dieser Situation, nimmt schon eine große Last!
      LG,
      Claudia

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