Ihr Lieben, Geschwisterstreit – das wissen wir aus eigener Erfahrung – kann so unfassbar anstrengend und zermürbend sein. Heute erzählt uns Doris von ihren Zwillingsjungs und von deren jahrelangen Streitereien – und was das mit der Familie gemacht hat. Danke für dein Vertrauen, liebe Doris.
„Mein Name ist Doris und ich möchte euch heute unsere Geschichte zum Thema Geschwisterstreit erzählen. Heute sind meine Söhne, um die es hier geht, 22 Jahre alt, die sind Zwillinge – da geht man erstmal davon aus, dass sie ein Herz und eine Seele sind, aber das war bei uns definitiv nicht der Fall.
Fangen wir also ganz von vorne an. Schon im Mutterleib war es ja für beide enger als für Einlinge und mussten sich Mama teilen. Ich musste ab der 31. SSW strikt liegen und bekam intravenöse Wehenhemmer. Die Kinder wurden dann in der 34. SSW auf natürlichem Wege geboren.
Als der Große geboren wurde, konnte er nur ganz kurz auf meinem Bauch liegen, denn die Herztöne des zweiten Kindes wurden schlechter und die Geburt musste zügig weiter gehen. Der Zweitgeborene, der verkehrt herum lag und 45 Minuten nach der ersten Geburt aus mir herausgezerrt wurde, konnte dann viel länger und entspannter bei mir sein. Ich weiß nicht, ob das Auswirkungen hatte, aber der Zweite war als Kind immer sehr schmusig, während der Erstgeborene berührungsempfindlich war und Körperkontakt lange Zeit kaum ertragen konnte.
Der Zweitgeborene brauchte mehr Aufmerksamkeit
Beide Kinder mussten als Frühchen noch 3 Wochen ohne mich im Krankenhaus auf der Frühchenstation im Wärmebett sein und wurden 2 Wochen lang wegen einer Trinkschwäche über Magensonden ernährt.
Der Zweitgeborene hatte insgesamt stärkere Anpassungsschwierigkeiten. Er hatte durch die schwierige Geburt einen verrenkten Halswirbel (Kiss-Syndrom) und hat bis zum Termin beim Osteopathen sehr viel geschrien. Daher war er in der ersten Zeit viel mehr auf meinem Arm als der recht ruhige Erstgeborene.
Der Zweitgeborene hat uns generell mehr Sorgen bereitet, er hat geschielt, sein Auge wurde abgeklebt und später operiert. Er musste wegen eines Sprachfehlers zur Logopädin, er brauchte in den Schuhen spezielle Einlagen und er war lange Zeit stark untergewichtig und sehr klein.
Im Nachhinein hatte ich dem Erstgeborenen gegenüber starke Schuldgefühle, weil er als Baby und Kleinkind weniger Aufmerksamkeit als sein Bruder bekommen hat. Dieses schlechte Gewissen hat mich sehr belastet und ich habe es in einer Psychotherapie versucht, aufzuarbeiten. Manchmal kommt dieses Gefühl trotzdem wieder hoch…
Vielleicht hat der Erstgeborene das gespürt und mir das auf seine Weise gespiegelt. Er fühlte sich immer benachteiligt (und war es irgendwie ja auch oft) – auch, wenn er aber dann ganz offensichtlich das Bessere oder Größere oder Mehr bekommen hat. Außerdem wurde er immer „anstrengender“. Er konnte viele Kleidungsstücke nicht ertragen, bestand auf immer exakt gleiche Abläufe, mochte viele Nahrungsmittel nicht. Er hätte vermutlich ganz viel Zeit mit mir gebraucht. Natürlich haben mein Mann und ich immer versucht, so gut es ging, beiden gerecht zu werden. Aber das hat nicht immer gut geklappt.
Geschwisterstreit – einfach über ALLES!
Als die Jungs etwa drei Jahre alt waren, fingen die Streitereien zwischen den beiden an. Es wurde über ALLES gestritten, von außen betrachtet waren das meist völlige Kleinigkeiten, z.B.
– wer wie viele Legosteine verbaut,
– wer als Erster zum Zähneputzen kommen soll,
– wer neben dem Besuch sitzen darf,
– wer das Bilderbuch zum Vorlesen aussucht,
– wer bestimmt, was im Fernsehen gesehen wird,
Es ging wahrscheinlich einfach darum, gesehen und wahrgenommen zu werden. Im Endeffekt: geliebt zu werden! Auch hier haben wir versucht, bezüglich der Streitereien Regelungen zu finden. Also z. B. immer abwechselnd aussuchen dürfen, eigene Bereiche im Kinderzimmer einrichten, eigene Hobbies, eigene Verabredungen fördern und und und…
Die Pubertät machte alles noch schlimmer
Am Schlimmsten wurde es mit dem Beginn der Pubertät. Die Hormone bewirkten bei beiden heftigste Ausraster. Dazu kam, dass beide ADHS (und vermutlich zumindest der eine auch das Aspergersyndrom) haben und damit eine kaum vorhandene Impulskontrolle. Nachdem wir die beiden größtenteils in getrennten Kindergartengruppen und Schulklassen hatten (was gut funktioniert hat), gab es nach der 6. Klasse auf der Schule nur eine Gymnasialklasse, in die beide Jungs kamen.
Die beiden Jungs sind zweieiig und körperlich sehr unterschiedlich. Der Erstgeborene kam sehr früh in die Pubertät und war mit 14 Jahren mit 180 cm quasi ausgewachsen. Der Zweitgeborene war ein extremer Spätentwickler, sah mit 15 Jahren noch aus wie ein Grundschüler und war mit 1,50 cm sehr klein. Diese Situation war für den Kleineren sehr schwierig. Der Große hat es wohl auch genossen, in der Schule der Überlegene zu sein.
Auf Familienfeiern bzw. nach außen hin konnten die beiden sich meistens gut zusammenreißen.
Zuhause war der Große oft der Aggressor, der dann von mir gemaßregelt wurde, weil ich das nicht ertragen konnte. Mein Einmischen war aber für beide nicht gut. Denn das verstärkte die Wut des Erstgeborenen auf seinen Bruder, ließ diesen in seiner Opferrolle und sorgte somit für neuen Streit. Ein Teufelskreis.
In der Zeit der Pubertät flogen bei uns zu Hause täglich die Fetzen. Und ich bin ständig ausgerastet, weil ich das nicht ertragen konnte. Es war für alle eine schlimme Zeit. Die beiden haben sich nicht nur übelst beleidigt, sondern auch mit Türen geknallt und dagegen getreten, sich geschlagen, bespuckt, mit Gegenständen geworfen, einmal sogar mit Messern bedroht…
Wir haben uns externe Hilfe gesucht
Meinen Mann und mich hat die Situation auch als Paar extrem belastet. Ich fühlte mich damit häufig allein gelassen. Mein Mann sagte im Nachhinein, er hätte keine Chance zum Eingreifen und Deeskalieren gehabt, weil ich immer so schnell reagiert habe.
Wir haben uns auch externe Hilfe gesucht. Die beiden Jungs waren zweimal zusammen bei einer Therapeutin, was sehr gut war, weil jemand von außen einfach mal zuhörte. Leider wurde die Therapeutin dann schwanger und es gab keinen Ersatz. Der kleinere Zwilling machte dann, weil es ihm psychisch immer schlechter ging, eine eigene Therapie, und wir waren dreimal bei einer Familientherapie, die sich aber leider als wenig effektiv erwies.
Ich selbst komme aus einem reinen Mädchenhaushalt, in dem nicht gestritten wurde bzw. werden durfte. Das bedeutet, dass ich nie gelernt habe, wie streiten eigentlich funktioniert. Es war für mich immer extrem schlimm, wenn gestritten wird. Wut ist ein Gefühl, das meine Mutter (Jahrgang 1940) weder bei sich noch bei ihren Kindern zulassen durfte/konnte.
Und ich denke, da liegt ein großes Problem: Der nicht gelernte Umgang mit Gefühlen. Nach und nach habe ich gelernt, auch meine eigene Wut zuzulassen und sie angemessen zu leben (z.B. in Form von rechtzeitigem Grenzen-Setzen!). Seitdem ist es auch mit den Kindern (4 Söhnen) entspannter geworden.
Wie die Situation heute ist? Der eine Zwilling ist mit 18 Jahren ausgezogen und macht derzeit eine Ausbildung. Der andere fängt (nach dem Abitur im letzten Jahr) in diesem Jahr mit seinem Studium an und wird im Herbst von zu Hause ausziehen. Seit die Jungs nicht mehr unter einem Dach leben, ist es besser geworden.
Ich wünsche mir für die beiden von ganzem Herzen, dass sie wieder einen Zugang zueinander finden. Dass keiner Groll gegen den anderen hegt und dass sie sich auch an die vielen schönen Erlebnisse in ihrer Kindheit erinnern können. Ich wünsche ihnen, dass sie ihren eigenen Weg finden. Und natürlich, dass sie glücklich werden.
1 comment
Danke für diesen schönen und sehr selbst-reflektierenden Beitrag. Wir haben 3 Söhne ( davon ein Zwillingspaar) und bei uns fliegen dauerhaft die Fetzen. Die 3 überschreiten jede Grenze, die sich ihnen bietet und streiten sich permanent, daher finde ich deinen Beitrag unheimlich tröstlich. Wir als Eltern sind manchmal völlig hilflos. Jetzt werde ich nochmal genauer hinschauen, in ich wirklich bei jedem Streit „dazwischen gehen“muss, oder es einfach mal laufen lasse, ohne Partei zu ergreifen. Ich wünsche euch alles Gute!