Ihr Lieben, wenn eine Schwangerschaft mit Zwillingen beginnt und schließlich nicht mit zwei Kindern im Arm endet, ist das ein Einschnitt, den kaum einer nachempfinden kann, der oder die es nicht selbst erlebt hat. Wir hatten bereits einmal einen Gastbeitrag einer Mutter hier auf dem Blog, die mit Zwillingen schwanger war und wusste: Nur eines ihrer Kinder wird lebend zur Welt kommen.
Alexandra, unsere heutige Gastbeitrag-Autorin hat fünf Kinder, darunter auch Zwillinge. Sie betreut Mehrlings-Eltern und findet: Wir sollten viel mehr über den Verlust reden, denen Zwillingseltern mitmachen, wenn sich die Schwangerschaft doch noch anders entwickelt als erwartet. Hier kommt ihr rührender Beitrag.
"Als die Nachricht auf meinem Handy aufploppt, sitze ich am Küchentisch. Der Mittlere malt ein Bild. Aus dem Zimmer der Ältesten dröhnt Musik. Sie tanzt. Irgendwo im Flur streiten die Zwillinge um ein Auto.
„Ich werde eure WhatsApp-Gruppe nun verlassen müssen. War gerade beim Ultraschall. Eines der Babys ist tot. Das Herz schlägt nicht mehr. Dem zweiten geht es gut. Ich bin so traurig.“
Ich lese die Nachricht. Wieder und wieder …werde eure Gruppe nun verlassen müssen… eines der Babys ist tot…das Herz schlägt nicht mehr…dem zweiten geht es gut…ich bin so traurig…“
Mein Finger schwebt über den Buchstaben. Ich möchte antworten. Irgendetwas sagen, dass den Schmerz der Mama lindert, die diese Worte verfasst hat. Irgendetwas hoffnungsvolles. Oder Anteil nehmendes. Oder Mut machendes.
Irgendetwas, das ihr zeigt, dass sie nicht allein ist mit dieser verdammten Diagnose, mit ihrer Trauer und ihrem großen Verlust. Und mit dem was nun kommt. Ich tippe fünf Worte. „Du wirst immer Zwillingsmama bleiben.“
Und ich weiß, dass das stimmt. Und gleichzeitig stimmt es nicht.
Denn Anke (und sie könnte auch Tanja, Mirja, Swetlana oder Ina heißen) wird in einigen Wochen Mutter. Sie bekommt ihr Baby in den Arm gelegt. Sie wird es riechen und fühlen und küssen und herzen. Sie wird lernen zu stillen. Oder auch nicht. Sie wird die ersten kleinen Spaziergänge mit dem Kinderwagen unternehmen.
Sie wird sich mit anderen Mamas treffen, wird mit wenig Schlaf auskommen, wird Windeln wechseln und winzige Finger streicheln, wird vorsingen und an Grenzen stoßen, wird viele neue Erfahrungen machen und jeden Tag mehr hineinwachsen in ihre neue Rolle.
Sie wird glücklich sein. So verdammt glücklich! Und sie wird trauern. Denn egal, was passiert, egal, ob ihr Baby das erste wundervolle Lächeln lächelt, ob es krabbeln lernt oder plötzlich Bauklötze stapeln kann, ob es vor Freude quietschend einen vorbeilaufenden Hund bestaunt oder ihre Zeit stehen bleibt, wenn es friedlich auf ihrer Brust eingeschlafen ist – mein Gott – es wird immer etwas fehlen!
Ein Platz wird leer bleiben. Im Auto. In der Wiege. Im Zwillingswagen, den sie nun nicht mehr braucht. Und in ihren Armen.
Und darüber wird sie wahrscheinlich weinen. Aber wahrscheinlich nur ganz allein. Nur für sich. Und wahrscheinlich auch nur, wenn es niemand sieht.
Ich lese noch einmal. „…das Herz schlägt nicht mehr… dem Zweiten geht es gut…Ich bin so traurig…“ Ja. So ist es. Genau so. Und so wird es immer bleiben. Anke hat ein Kind verloren. Und sie wird ein Kind gebären. Sie wird immer Zwillingsmama sein. Und sie wird es nicht sein. So ist das also. Und daran wird nicht einmal die Zeit etwas ändern.
Und auch kein Blick in irgendwelche Statistiken, die besagen, wie viele der ursprünglichen Zwillingsschwangerschaften mit der Geburt von nur einem Säugling enden. Meist bildet sich der verlorene Zwilling zurück, verschmilzt mit der Plazenta. Manchmal völlig unbemerkt von den Eltern und Ärzten. Aber oft eben auch erst zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft. Wie bei Anke. Und dann wird es gruselig.
Ihre Zwillinge waren real. Sie hat ein Ultraschallbild in der Hand gehalten, auf der zwei Fruchthöhlen zu sehen waren. Und dann, ein paar Tage später, hat sie beide Herzchen schlagen sehen. Wieder ein paar Tage später paddelten in den Fruchtblasen dann zwei Miniastronauten. Mit allem was dazugehört. Händchen. Beinchen. Hoffnung.
Und nun das. „…eines der Babys ist tot. Das Herz schlägt nicht mehr. Dem zweiten geht es gut…“ Ich spüre die Wucht und Endgültigkeit, die in jedem der Worte steckt. Ich höre meine Jungs vor der Tür krakeelen – diesmal geht es um das BLAUE!! Bobbycar – und denke mir: „Was wäre, wenn einer…?!“
Ich kann den Satz nicht einmal theoretisch zu Ende denken. Dabei bringen mich meine fünf Chaoten und insbesondere das Doppelpack mindestens einmal täglich an den Rand der Fassungslosigkeit. Ein Mädchen. Vier Jungs. 12. 10. 4. Und doppelt 1. Zwischen dem „Pubertier“ und dem Vierjährigen haben wir in der 15. Woche ein Kind verloren. Ein Mädchen.
Wir haben die kleine Maus, die wir so ersehnt haben und die für uns so viel mehr war, als ein 12-Zentimeter-Wunsch mit Armen und Beinen, beerdigt, auf einem Sammelbegräbnisfeld der Kirchengemeinde unserer Stadt. Hätte sie uns nicht verlassen, hätten wir den Mittleren, der hier immer noch sitzt und malt, nicht. Dann wäre alles anders. Kein bisschen besser. Aber nicht so wie jetzt.
Noch etwas kommt mir in den Sinn. Jede Zwillingsmama wird diesen kurzen Schreckmoment kennen, in dem der Arzt sagt: „Da ist ja noch eins!“ Diese Minuten der Panik, der Fragen und – so beschreiben es viele Eltern in unseren Kursen – des Schocks.
Früher oder später kommt die unfassbare Freude über das doppelte Glück. Früher oder später ist die Botschaft „Ihr bekommt Zwillinge!“ im Herzen angekommen. Dann IST das so. Dann SIND da zwei Kinder und nicht eins. Und dann erscheint es wenig hilfreich, den Eltern irgendwelche Zahlen vorzubeten, die berechnen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es war, am Ende auch zwei Kinder in die Arme zu schließen.
Verdammt noch mal! Diese Eltern müssen nicht an ihr Glück erinnert werden, IMMERHIN NOCH EIN wunderhübsches und perfektes Baby zur Welt gebracht zu haben. Das spüren sie schon selbst beim ersten Blick. Und das wäre auch ziemlich mies, den beiden Geschwistern gegenüber. Dem, der gegangen ist. Und dem, der noch übrig ist, auch.
Diese Eltern müssen nicht daran erinnert werden, stolz zu sein. Und dankbar. Und liebend. Und zufrieden. Sie sind Eltern! Das alles passiert von ganz allein.
Nein. Sie müssen auf ein sensibles Umfeld treffen, dass ihnen sagt: „Alles was ihr nun fühlt, von größtem Glück bis tiefster Trauer, ist ok.“ Sie müssen auf ein Umfeld treffen, das ungeborene Kinder – egal welcher Anzahl! – nicht erst ab einer gewissen Schwangerschaftswoche als „real“ und „betrauernswert“ erachten.
Auf Angehörige, Freunde, Ärzte, Hebammen und Nachbarn, die nicht sagen „Du hast ja noch das eine…“, sondern die fragen: „Wie fühlst Du Dich? Können wir etwas für dich tun?“ Auf Menschen, die einfach mal sagen: „Das tut mir leid. Ich fühle mit Dir.“
Denn wann, liebe Mamas da draußen, ist ein Kind ein Kind? Mit acht Wochen? Mit 12? Mit 34? Oder vom positiven Schwangerschaftstest an? Wann, liebe Mütter und Väter, hat eine andere Mutter und ein anderer Vater das Recht, über den riesigen Verlust eines winzigen Traums zu weinen? Richtig. Immer!
Und zwar immer dann, wenn den verwaisten Eltern danach ist. Wer von uns hat das Recht, Anke nun an ihre Dankbarkeit zu erinnern, sie zu Tapferkeit und Freude zu ermahnen? Auch richtig: Niemand.
Anke hat ein Baby verloren. So wie Tanja. Und Swetlana. Und Anna. Und Ina. Dem anderen geht es gut. Hoffen wir, dass sie in diesen schrecklichen Stunden nicht allein ist mit der herzzerreißenden Nachricht ist. Anke hat ein Kind verloren. Es wird in ihr bleiben, bis das zweite zur Welt kommt. Es wird mit seinem Geschwisterchen geboren. Und es wird fehlen. Ganz gleich was geschieht.
Schreiben wir an Anke. Und sagen ihr, wie leid uns tut, was sie erleben muss. Sie. Und viele andere Mamas und Papas, die eines für immer bleiben werden: Zwillingseltern."
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Über die Autorin und "extrakind"
Alexandra, die Autorin dieses Gastbeitrages ist 38 Jahre alt und Mama von fünf Kindern. Einem Mädchen. Und vier Jungs. 12. 10. 4. Und doppelt 1. Sie hat mit extrakind ein Kompetenzzentrum für Zwillings- und Drillingseltern aufgebaut. Zusammen mit erfahrenen Kliniken vor Ort bereitet extrakind Mütter und Väter in Hannover, Coesfeld oder Essen auf die Geburt vor.
Je tiefer Alexandra in die Thematik eintaucht, desto vielschichtiger werden auch die Themen, mit denen sie zu tun hat. Sie schreibt: „Hinter jeder Anmeldung, jedem Seminar und jedem Workshop stehen individuelle glückliche und traurige Geschichten, stehen Menschen, stehen Eltern. Wir möchten Ansprechpartner für alle sein – ganz gleich, wie viele Babys den Mamas und Papas letztlich in den Arm gelegt werden.“
Und weiter: „Eine Fehlgeburt ist immer schlimm. Aber sie hat in zwischen zumindest eine gewisse Akzeptanz in unserer Gesellschaft. Eine Fehl- oder Totgeburt eines Zwillings nicht. Denn schließlich ist die Mama, der das passiert, so die leider weit verbreitete Ansicht, ja noch schwanger. Soll sie sich freuen, heißt es dann. Darüber müssen wir sprechen.“
Wovon sie in ihrem Alltag noch zu hören bekommt? Zum Beispiel so etwas:
· Von Beschäftigungsverboten, die aufgehoben werden, weil „ja jetzt keine Risikoschwangerschaft mehr vorliegt“.
· Von Ärzten, die schlecht schallen und die Mütter und Väter eine Woche in dem Glauben lassen, eines ihrer Kinder sei verstorben, obwohl das gar nicht stimmt.
· Von Drillingen, bei denen Mediziner vorschlagen, mindestens ein Kind „wegzumachen“, um den anderen weniger Risiko zuzumuten
Ist euch so etwas auch passiert? Schreibt uns gern eine Nachricht, denn darüber sollte nun wirklich nicht länger geschwiegen werden.
Foto: privat
9 comments
Ich habe deinen Beitrag auch erst jetzt gelesen, aber er spricht mir so aus der Seele! Nach einer erfolgreichen Kinderwunschbehandlung war ich schwanger mit Zwillingen. Bis zu 14. Woche. Schon vorher hat sich abgezeichnet, dass der eine sich leider viel langsamer entwickelt und in der 14. Woche hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Ja, ich habe einen wunderbaren Sohn. Aber oft stelle ich mir vor, dass da ein zweites Wesen neben ihm sitzen und Lego bauen würde…an jedem Geburtstag bin ich so dankbar und gleichzeitig tieftraurig weil da jetzt eigentlich 2 Geburtstagskinder sitzen würden…wenn man das dann mal im Bekanntenkreis anspricht, wird man ganz seltsam angeschaut. Schließlich ist das doch „schon“ 6 Jahre her, da muss man sich mal drüber weg sein. Nein, muss man ganz bestimmt nicht. Deswegen rede ich mit niemandem mehr darüber, nicht mal mehr mit meinem Mann. Leider merke ich aber auch, dass es bei meinem Sohn Spuren hinterlassen hat. Er hat ganz schlimme Verlustängste. Ich bin dabei, nach einem Psychologen zu suchen, der ihn damit helfen kann, aber das gestaltet sich momentan ja noch schwerer als sonst schon…
Ich bin erst jetzt auf diesen Beitrag gestoßen, weil ich es auch schon seid langer Zeit aufgegeben habe, danach zu suchen. Ich bin /war auch eine Zwillingsmama und wir hatten bei der Geburt eine Todgeburt. Unser Sohn leidet unter dem Verlust und wir versuchen es mir Psychologischer Unterstützung „hinzubekommen„. Aber ich denke, es wird ihm ein Leben lang bleiben.
So wahr…
Danke für diesen Post.
Ich habe unseren ersten Krümel durch eine Eileiterschwangerschaft verloren, also sehr früh in der 7. Woche. Aber so wie du schreibst, das Glück endlich schwanger zu sein, der positive Test als das war mein Krümel. Ich war so unendlich traurig und schockiert über die Reaktionen selbst der engsten Vertrauten. Wird schon, du wirst bald wieder schwanger,alles gut…das waren noch die harmlosen Kommentare. Keiner scheint einen zu verstehen und es gibt auch vom Fachpersonal wenig bis keine Unterstützung.
Und es wurde eben nicht einfach so alles gut. Heute haben wir nach endloser Odysee zwei gesunde Mädchen, auch Zwillinge. Und ja, sie wären nicht da, wäre es der Krümel…aber fehlen wird er/ sie doch immer.
Ich würde mir einfach mehr Unterstützung und Hilfe in dieser Situation für alle Betroffenen wünschen und dazu gehört eben auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Trauer um unsere Ungeborenen.
Ich hatte ein Baby in der Gebärmutter und eins im Eileiter. In der 6.Woche bekam ich starke Schmerzen und man endeckte das kleine schlagende Herz. Man musste es entfernen. Trauerzeit oder auch eine Bestattung gab es nicht.
Trotzdem ist es in Gedanken oft bei uns.
Danke für den Beitrag- der mich hoffen lässt, dass das Thema mehr in die Öffentlichkeit rückt.
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Danke
….für diesen Text! Ich weine die ganze Zeit, denn es könnte auch meine Geschichte sein. Ich erwarte bald unsere Tochter, ihre Schwester hat uns in der 12. Woche verlassen. Und so sehr ich mich auf sie freue, so sehr trauere ich noch immer um unser zweites Kind. Und nur wenige Verwandte und Freunde haben tröstende Worte gefunden. Dieser Text tut es. Danke dafür
Das ist…
..meine Geschichte. Schwanger nach künstlicher Befruchtung mit Zwillingen.
Und in der 36. Woche plötzlich während des Ultraschalls der Satz: “Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden“. Die Welt bleibt stehen!
Meine zweite Tochter ist auf natürlichem Weg am nächsten Tag geboren. Man konnte nie einen Grund für den Tod ihrer Schwester finden.
Und dann kommt man nach Hause und hat keine Zeit zu trauern, weil da ja noch zum Glück ein kleiner Mensch ist, der deine ganze Aufmerksamkeit braucht. Ich habe danach noch zwei weitere Schangerschaften ohne Probleme gehabt, aber ich denke noch sehr oft an mein Baby.
Nicht zu vergessen sind die überlebenden
Zwillinge. Sie haben ganz viel verloren und dazu gibt es mittlerweile Erkenntnisse, über die man als betroffene Eltern Bescheid wissen sollte.