Liebe Julia, Euer drittes Kind musstet Ihr in der 34. Woche gehen lassen, weil es schwer behindert war. Du hast uns schon einmal über den Spätabbruch berichtet. Das hat uns alle sehr berührt. Neun Monate später bist Du wieder schwanger geworden. Wie war diese Schwangerschaft für Dich?
Im Rückblick waren wir vielleicht noch gar nicht bereit für eine neue Schwangerschaft. Die Trauer um unser drittes Kind war noch so dominant im Alltag. Aber wir konnten uns auch nicht anders entscheiden oder warten. Der Kinderwunsch war einfach riesig und die neun Monate zwischen den Schwangerschaften haben sich wie Ewigkeiten angefühlt.
Die Schwangerschaft war emotional ziemlich furchtbar, um ehrlich zu sein – hatte aber ein Happy End. Es war vor allem am Anfang das reinste Gefühlschaos. Vorsichtige Vorfreude auf der einen Seite. Auf der anderen war die Trauer noch so stark, die Sehnsucht nach unserem toten Baby so groß, dass das neue Baby oft hintenan stand.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, aber auch Angst, mich auf das vierte Kind zu freuen, weil dann ein erneuter Verlust ja umso schmerzhafter gewesen wäre.
Es stand im Raum, dass es sich bei all dem Drama um eine vererbbare genetische Erkrankung gehandelt hatte. Das konnte aber leider nicht abschließend geklärt werden. Uns wurde geraten, frühe und regelmäßige Ultraschallkontrollen machen zu lassen.
Den Herzfehler, den unser drittes Kind hatte, kann man bereits um die 12. Woche herum erkennen. Da war zum Glück alles gut, aber abschließend beruhigt waren wir nicht. Viele andere Symptome waren ja auch erst viel später aufgetreten.
Nach der Untersuchung und dem ersten Todestag, welcher nur zwei Tage danach war, ging es uns etwas besser. Richtige Vorfreude und ein klein wenig Vertrauen darauf, dass alles gut geht, stellte sich ein. Und dann habe ich in der 17. Schwangerschaftswoche Ringelröteln bekommen. Nicht Röteln, dagegen bin ich geimpft.
Ringelröteln sind eigentlich eine ziemlich harmlose Kinderkrankheit, nur für Ungeborene kann sie sehr gefährlich sein. Geht die Krankheit von der Mutter auf das Baby im Bauch über, kann das blutbildende System des Babys stark beeinträchtigt werden, was zu einer Blutarmut bis hin zum Tod führen kann.
Da man eine Blutarmut im Ultraschall erkennen kann, musste ich 2,5 Monate lang jede Woche in die Praxis für Pränataldiagnostik zur Kontrolle. Wäre was gewesen, hätte unser Baby Bluttransfusionen bekommen. In meinem Bauch, in die Nabelschnur, in den ersten Wochen nach der Diagnose möglicherweise direkt ins Herz. Dass das nicht gerade risikoarm ist, brauche ich wahrscheinlich nicht zu erwähnen.
Ihr hattet sicher wahsinnige Angst…
Ja, die hatten wir. Aber es war nie was auffällig und mit Spätfolgen ist glücklicherweise bei Ringelröteln nicht zu rechnen. Trotzdem war es natürlich sehr nervenaufreibend. Andererseits wurde unser Baby, wieder ein Junge, jede Woche komplett durchgecheckt, was mich im Hinblick auf mögliche andere Auffälligkeiten beruhigte und wir konnten ihn jede Woche auf dem riesigen Flachbildschirm im Untersuchungsraum bewundern.
Unsere Gefühle für das Baby wurden immer stärker und ich hatte kein so schlechtes Bauchgefühl wie in der Schwangerschaft zuvor. Trotzdem war auch die restliche Schwangerschaft nicht einfach. Ich hatte total Angst vor weiteren Infektionskrankheiten und war super ängstlich beim Essen und desinfizierte mir ständig die Hände.
Überall lauerten gefühlt Gefahren, ein Happy End einer Schwangerschaft schien mir fast ein außergewöhnlicher Glücksfall zu sein. Vor allem die Zeit zwischen der 31.-34. Woche, die letzten grauenhaften Wochen der dritten Schwangerschaft, waren furchtbar. Alle Erinnerungen waren sehr präsent und die irrationale Angst riesig.
Kann man überhaupt noch "guter Hoffnung" sein, wenn man das durchgemacht hat, was Ihr durchgemacht habt?
So richtig haben wir das erst in den letzten Wochen der Schwangerschaft geschafft. Die Ringelröteln haben da mit Sicherheit aber auch nicht geholfen. Nachdem das ausgestanden war und nach der großen Krisenzeit der letzten Schwangerschaft wurde es deutlich besser. Wir waren in der 35. Woche ein letztes Mal zur Kontrolle und alles war gut.
Die Bewegungen waren normal und unser Baby reagierte zuverlässig, wenn man es anstupste. Das hatte unser Drittes nie gemacht, was uns aber erst im Nachhinein als ungewöhnlich aufgefallen ist. Ich habe ihn wahrscheinlich x-fach geweckt, weil ich auf seinen Füßen rumgedrückt habe um zu testen, ob er lebt. Mittlerweile hat er sich dafür mehr als revanchiert, was das Wecken angeht.
Erzähl uns doch bitte von der Geburt Eures vierten Kindes…
Ich habe in einem wundervollen Geburtshaus mit wundervollen Hebammen entbunden. Es war ja die vierte Geburt in sechs Jahren und sie ging wahnsinnig schnell. Fast zu schnell, es war wenig Zeit mich in der Situation einzufinden – tatsächlich und emotional.
Wir waren nur 20 Minuten im Geburtshaus, bevor er da war. Ein Stau mehr und er wäre im Auto gekommen. So war aber glücklicherweise kaum Zeit für Ängste. Die Hebammen waren toll. Ich durfte einfach ich sein, vor, während und nach der Geburt. Mein Mann war auch super und hat mich bestens unterstützt, auch auf der doch eher unangenehmen Fahrt ins Geburtshaus.
Nach der Geburt hat unser Baby sofort geschrien. Es gab natürlich keinerlei Hinweis, dass es anders sein könnte, sonst wären wir ja nicht im Geburtshaus gewesen. Aber irgendwie hat es mich in der Situation doch total geflasht. Ich habe auch mehrfach laut ausgerufen "Er schreit. Er schreit."
Wir waren überglücklich ihn lebendig im Arm zu halten und haben mit den Hebammen mit Sekt und Keksen gefeiert.
Nach wenigen Stunden sind wir nach Hause, wo unsere Großen ähnlich reagierten wie wir. Unser Sohn sagte immer wieder: "Der ist auf jeden Fall echt und lebendig." Beide Kinder waren augenblicklich schockverliebt und unser Baby konnte sich vor Liebe kaum retten.
Wie fühlt sich das Leben jetzt zu fünft an?
Die Zeit nach der Geburt war wunderschön und super schwer zugleich. Ich war auf Wolke Sieben, aber gleichzeitig hat uns all das Glück nochmal vorgeführt, was wir beim letzten Mal nicht haben konnten. Das und sicherlich auch der Hormoncocktail des Wochenbetts haben mich nochmal sehr stark aufgewühlt.
Nach dem Wochenbett ist das Leben dann endgültig irgendwie wieder leichter geworden. Wir genießen unser Baby bzw. mittlerweile Kleinkind (schon 14 Monate alt, der kleine Mann) so sehr und natürlich auch die großen Kinder und unser Familienleben.
Wir sind dankbar dafür, drei gesunde Kinder zu haben und trotzdem fehlt jemand. Im Alltag ist es bei uns wie bei den meisten Familien, nehme ich an. Schön und anstrengend zugleich.
Wie präsent ist Euer kleiner Junge, den Ihr gehen lassen musstet, in Eurem Alltag?
Wir vermissen unser drittes Kind sehr, es ist sicherlich noch kein Tag vergangen, an dem ich nicht mehrfach an ihn gedacht habe. Unsere Familie fühlt sich einfach unvollständig an und das wird wohl auch immer so bleiben. Unser Baby hat einen festen Platz in unseren Herzen, wird nie vergessen sein und für immer geliebt werden.
Wir haben Fotos von ihm an unterschiedlichen Stellen der Wohnung wie von seinen Geschwistern auch, aber keine explizite Gedenkecke. Dafür haben wir das Grab schön gestaltet und besuchen es regelmäßig, wenn auch längst nicht mehr so oft wie am Anfang.
Die Trauer wird nie verschwinden, aber sie darf unser Leben nicht vollkommen steuern. Wir tabuisieren nicht, versuchen das Thema aber nicht zu dominant sein zu lassen. Die lebenden Kinder und auch wir haben das Anrecht darauf, dass es auch Leichtigkeit gibt.
Gleichzeitig nehmen wir uns immer wieder bewusst Zeit für das Thema und unsere Trauer und die der Kinder. Wir richten dann gemeinsam das Grab her oder sprechen einfach darüber. Wir bleiben dabei so nahe an der ganzen Wahrheit wie es das Alter unserer Kinder eben zulässt.
Habt Ihr Euch professionelle Hilfe nach dem Tod geholt oder wie habt ihr den Verlust verarbeitet?
Wir hatten am Anfang unsere Hebamme, die immer da war. Die Gespräche mit ihr waren toll. Ich war dann zweimal bei einer Psychologin, die auf das Thema rund um Traumata in Schwangerschaft/Geburt/vorzeitigen Kindsverlust spezialisiert ist, aber ich fand sie furchtbar. Im Nachhinein gesehen hat sie eigentlich schlaue Dinge gesagt. Die Chemie zwischen uns hat einfach nicht gestimmt.
Nach einer Weile war ich dann einige Monate lang wöchentlich bei einer anderen Psychologin. Mein Mann war auch bei einem Psychologen. Es war gut, Raum für das Thema zu haben, wir hatten nämlich das Gefühl, dem Großteil unserer Umwelt mit dem Thema zur Last zu fallen oder zu nerven und dabei mussten wir einfach darüber sprechen.
Es hat auch geholfen zu erfahren, dass die ein oder andere Macke, die wir davon getragen haben, sich sehr gut erklären lässt. Die Therapie wurde aber nach einer Weile nicht weiter von der Krankenkasse übernommen und ich hatte auch das Gefühl da nicht richtig weiter zukommen und so habe ich es gelassen.
Unser großer Sohn war auch bei einer Kinderpsychologin, die aber auch für Erwachsenen-Traumatherapie ausgebildet ist und wir Eltern haben auch jeweils ein paar Stunden mit ihr gemacht. Bei mir hat sie es mit der EMDR Methode probiert, was mir zu meiner eigenen Verwunderung in wenigen Stunden gut geholfen hat.
Ansonsten haben mein Mann und ich sehr viel darüber gesprochen und machen das immer noch häufig. Ich habe auch viel darüber aufgeschrieben, ein Fotoalbum gestaltet, mich auf Internetseiten zu dem Thema rumgetrieben und dort Anschluss zu anderen mit ähnlichem Schicksal gesucht.
Leider gibt es quasi keine Angebote für Leute speziell nach einem Spätabbruch, aber unzählige Foren/Gruppen für verwaiste Babyeltern. Das war allerdings nicht so richtig meines, da sehr viele Betroffene sich stark auf Religion oder große Spiritualität in ihrem Umgang mit der Trauer stützen.
Ich will das nicht schlecht reden, aber ich persönlich kann damit nicht so viel anfangen und entsprechend keinen Trost daraus ziehen.
Was machst Du, wenn die Trauer über den Verlust an manchen Tagen übermächtig wird?
Das passiert mittlerweile eigentlich nur noch dann, wenn es auch sein darf. Ich schiebe das mit Ablenkung und Alltagsstress so lang von mir weg, bis Zeit dafür ist, dass ich ausfalle. Dann gibt es schon Tage, wo ich nur heulend im Bett liege und gar nichts schaffe. Das ist zum Glück selten geworden.
Oft hilft es mir, wenn ich eben nicht auf den totalen Zusammenbruch warte bzw. warten muss, sondern mir, wenn alles hochkommt, ganz bewusst Zeit für mich und das Thema nehme und z.B. in Ruhe das Fotoalbum anschaue und alle Gefühle zulasse. Oder Inliner fahren gehe und dabei die Lieder anhöre, die wir bei der Beerdigung gehört haben.
Oder einfach alleine an den Friedhof um dort in Ruhe zu weinen. Dann geht es meistens relativ schnell wieder besser.
Wie hat sich Eure Partnerschaft durch den Verlust verändert?
Sie ist stärker geworden. Wir wissen, dass wir uns auch in Extremsituationen aufeinander verlassen können und aufeinander Rücksicht nehmen können ohne dabei selbst unterzugehen. Wir kennen die Schwachpunkte und Ängste des jeweils anderen und können uns meistens sehr gut unterstützen.
Ich kann mir nichts vorstellen, was uns auseinander bringen könnte und bin dankbar um unsere tolle Beziehung, die wir auch sehr bewusst pflegen, in dem wir einen großen Teil der Abende zuhause gemeinsam und ohne Fernseher verbringen.
Was möchtest Du Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind wie ihr damals, sagen?
Ich möchte sagen: Es tut mir leid, was du gerade durchleben musst. Es ist unfassbar traurig und gemein, wenn einen sowas trifft. Mach Dinge, die dir gut tun und umgib dich mit Menschen, die dir gut tun. Sprich darüber, wenn dir danach ist, ohne dir zuviel Gedanken zu machen, ob es dein Gegenüber traurig macht. Du bist nicht dafür verantwortlich in dieser Situation zu trösten.
Die Trauer und auch die Schuldgefühle (wenn man welche hat) werden irgendwann besser auszuhalten und das Leben wieder leichter. Vielleicht nicht so wie vorher, aber trotzdem wieder schön. Es dauert und man muss einfach akzeptieren, dass man nicht alles beeinflussen kann, es keine Antwort auf das 'Warum?' gibt und auch, dass so eine Erfahrung bleibende Spuren hinterlässt.
Ich denke, es ist sinnvoll sich professionelle Hilfe zur Verarbeitung zu holen. Gerade wenn die Schuldgefühle stark sind, kann das die Trauer noch viel komplizierter machen und es ist nicht leicht da alleine rauszukommen.
—ZUM WEITERLESEN: Hier erzählt Julia von ihrer dritten Schwangerschaft, die in einem Spätabbruch endete
4 comments
Du hast recht!
Genau das dachte ich auch! Auch als ich Julias Bericht über ihren Abbruch gelesen habe, war ich etwas entsetzt über die Kommentare darunter?! Das kann man sich ja alles denken-aber doch nicht direkt einer Frau in dieser Situation vor den Latz knallen!
Liebe Julia, ich hoffe, du nimmst das gar nicht wahr. Alles Gute dir und deiner Familie!
Freude
Ich freue mich sehr für Euch , dass es mit dem vierten Kind so schnell geklappt hat. Beim Lesen des zweiten Artikels dachte ich, dass Du Ende 30/ Anfang 40 bist, und daher die Eile noch ein Kind zu bekommen. Umso erstaunter war ich als ich dann im ersten Artikel gelesen habe, dass Du erst Ende 20 warst/bist. Wozu die Eile und der Druck frage ich mich da? Ein bisschen Abstand hätte Euch vielleicht gut getan. Schade, dass ich Euch jetzt trotzdem nicht komplett fühlt. Vielleicht hat es doch etwas mit der Entscheidung des Spätabbruchs zu tun? Schade, dass Ihr die dritte Schwangerschaft nicht bis zum Schluss durchgestanden habt. Vielleicht wäre es jetzt einfacher zu verarbeiten für Euch. Ich hoffe, Ihr fühlt euch trotzdem bald doch noch komplett. Trauer darfst sein und bleiben, sollte aber in Eurem lebendigen Leben nicht die Überhand haben.
Unfassbar
Wie kann man so unsensibel kommentieren?
Ich finde den Kommentar auch
Ich finde den Kommentar auch sehr unsensibel. Das schreibt sich so leicht „die Schwangerschaft bis zum Schluss durchstehen und dann noch ein bisschen Zeit mit dem Baby haben, bis es stirbt“. In der Realität kann es bestimmt ganz furchtbar sein. Die Autorin schrieb doch von den Krampfanfällen und dass sie das Gefühl hatte, dass ihr Sohn dabei Schmerzen hat und leidet. Das dann mitansehen zu müssen, ist doch total hart. Das ist einfach eine sehr persönliche Entscheidung und Fremde sollten da kein Urteil drüber treffen. Und wenn, dann die eigene Meinung wenigstens nicht den Betroffenen ins Gesicht sagen.