Essen, erbrechen, Abführmittel und Sportsucht: Für meine Kinder habe ich mein Leben geändert

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Ihr Lieben, wir können es nicht oft genug sagen, wie dankbar wir sind, dass ihr eure Lebensgeschichten mit uns teilt. Viele von euch haben sich schon so einiges durchkämpfen müssen, so auch Judith. Heute geht es ihr gut, aber über 20 Jahre hat sie mit Essstörungen aller Art zu kämpfen gehabt. Wir durften mit ihr darüber reden.

****Triggerwarnung Essstörung*****

Liebe Judith, du hattest in deiner Jugend immer wieder mit Essstörungen zu kämpfen. Wann hat das begonnen und welche Störungen waren das?

Wann genau es begonnen hat, kann ehrlich gesagt nicht mehr genau sagen. Ich weiß, dass ich mich bereits in der fünften Klasse im Schwimmunterricht unwohl gefühlt habe und neidisch war auf die anderen Mädels mit ihren dünnen Beinen. Dazu muss ich sagen, dass ich nicht dick oder moppelig war oder so. Wahrscheinlich einfach normal, aber ich hab es anders wahrgenommenen und wollte auch gerne lange, schlanke Beine haben, einen drahtigen Körper. 

Mit Beginn der Pubertät wurde meine Unzufriedenheit größer. Da ich einen sehr strengen Vater hatte, gab es oft Konflikte in Bezug auf Treffen mit Freunden, ausgehen und so. Das führte dann zum Frustessen. Ich wollte gerne dazugehören, durfte aber an gemeinsamen Aktivitäten meiner Clique nicht teilnehmen. Also habe ich dann aus Frust gegessen- danach habe ich mich noch schlechter gefühlt und irgendwann habe ich dann begonnen, mir nach den Essattacken den Finger in den Hals zu stecken.

Die ersten Male waren bestimmt eklig, aber es ging ja darum, nicht zuzunehmen. Das kam mal mehr, mal weniger oft vor – je nach Wohlgefühl und Stress zuhause. Ich habe aber beispielsweise, wenn wir am Wochenende nach dem Frühstück in die Schwimmhalle gefahren sind, vorher erbrochen, damit ich im Bikini einen flachen Bauch habe. Zum Erbrechen kann dazu, dass ich möglichst wenig gehgegessen habe. Dafür habe ich alle möglichen Schlupflöcher genutzt. Meine Mutter hat zum Beispiel selbst auch nie Abendrot gegessen, habe ich das als erstes für mich genutzt und auch damit aufgehört. 

Als nächstes bin ich ohne Frühstück aus dem Haus, mein Pausenbrot, liebevoll von meiner Mutter geschmiert, habe ich schon auf dem Weg zur Schule weggeworfen, damit ich ja nicht in die Versuchung komme. Ein nächstes Schlupfloch war der Verzicht auf Fleisch. Ich habe mich also viele Jahre vegetarisch ernährt, damit ich generell weniger essen musste. Im Alltag habe ich dann nur die Beilagen gegessen, aber oftmals versucht, auch die Kohlenhydrate wegzulassen. 

Ich habe mich mehrmals täglich gewogen. Waren wir unterwegs, im Urlaub oder so, und es gab keine Körperwaage, war es für mich der Horror. Es war eine Sucht, ich musste mein Gewicht kontrollieren können. Diese Kombination aus Essstörungen haben mich die ganze Pubertät über begleitet. Irgendwann kam dann der Einsatz von Abführmitteln hinzu, da muss ich aber schon volljährig gewesen sein. Und zum Schluss habe ich mit Beginn des Studiums angefangen, Sport zu treiben. 10 Stunden pro Woche war gar nichts. Irgendwann habe ich das Fitnessstudio gegen Joggen ersetzt und bin durchschnittlich 50 km pro Woche gelaufen. 

Wie sind deine Freunde und Familie mit all dem umgegangen? 

Ich glaube ehrlich gesagt, dass das Ausmaß keiner wahrgenommen hat. Ich war zwar sehr schlank, aber scheinbar nie besorgniserregend. Und ich habe ja sehr viel Energie darauf verwendet, alles zu verstecken und habe immer neuen Ausflüchte gefunden.

Beschreib mal ein Leben, das von Essstörungen geprägt ist. Konntest du überhaupt noch ausgehen, arbeiten, Freunde treffen?

Im Nachhinein würde ich es als sehr anstrengend bezeichnen. Vieles an (Lebens-) Energie geht dabei drauf, essen zu vermeiden. Der Gedanke daran, abends mit Freunden essen zu gehen, war Stress. Meistens habe ich dann das Mittagessen weggelassen. An dem Tag meines Abiballs beispielsweise habe ich einen Apfel gegessen, nur damit ich abends einen flachen Bauch in dem Kleid habe.

Heute kann ich das nicht mehr nachvollziehen, aber früher bestimmte das meine Alltag. Ich habe Termine und Treffen so gelegt, dass ich nicht nach Hause musste zum Mittagessen und habe dann bei dem Treffen gesagt, ich habe schon gegessen. Habe ich am Wochenende bei Freunden übernachtet, habe ich gesagt, ich muss zum Frühstück nach Hause und zuhause gesagt, ich hätte schon gegessen. Ich habe also viel gelogen, um nicht essen zu müssen. 

Das ist wahrscheinlich sehr anstrengend gewesen, aber der Fokus lag während der Phase auf dem vermeiden vom Essen, da habe ich es nicht als anstrengend wahrgenommen. Wenn wir abends essen waren oder ich das Gefühl hatte, ich habe zu viel gegessen, habe ich Abführmittel genommen, um den Ballast loszuwerden. 

Wann hast du das erste Mal begriffen, dass du ein Problem hast?

Das erste Mal wollte ich mir zu Beginn des Studiums Hilfe holen. Aber eher aus finanziellen Gründen, denn die Abführmittel, die ich mitunter täglich genommen habe, waren in Summe teuer. Ohne Abführmittel aber funktionierte meine Verdauung nicht, dann fühlte ich mich unwohl und der Kreislauf begann von vorne.

Der Arzt, den ich aufgesucht habe, hat mich auf Lebensmittelunverträglichkeiten überprüft. Ich muss aber auch gestehen, dass ich nicht direkt von einem Missbrauch von Abführmitteln gesprochen habe, sondern eher von einer trägen Verdauung. Dass das, was ich tue, nicht gesund ist, habe ich wohl gewusst, aber verdrängt. Richtig begreifen kann ich erst mit dem Abstand, den ich dazu mittlerweile gewonnen habe. Insgesamt habe ich meinen Körper über 10 Jahre nicht gut behandelt. 

 Du hattest und hast ja auch einen Partner….

Auch mein Partner hat davon kaum was mitbekommen. Den vielen Sport hat er toleriert, es vielleicht als Spleen gesehen. Wir haben viele Jahre lang eine Fernbeziehung geführt, da hat er einfach nicht alles mitbekommen. Und selbst wenn, hätte er wohl nicht viel ausrichten können….

Dann bist du schwanger geworden. Wie hat diese Schwangerschaft dein Leben verändert?

Letztendlich musste ich mein Leben ändern, um schwanger werden zu können. Als wir mit der Familienplanung anfingen, habe ich mir in meinem Sportwahn das Ziel gesetzt, einen Marathon zu laufen. Das bedeutete einen straffen Trainingsplan.

Mein Körper war mit dem Training beschäftigt und ich wurde nicht schwanger. Dass ich nicht so schnell wie gedacht einfach schwanger wurde, hat mich oft traurig gemacht – und der Kreislauf begann von vorne: essen, erbrechen, Abführmittel nehmen und dazu dieser harte Trainingsplan. Heute denke ich, dass es ein Wunder ist, dass mein Körper das überhaupt durchgehalten hat.

Nach einiger Zeit wurde ich überraschend schwanger und war überglücklich. Leider hatte ich einen Frühabort, der mich wieder unendlich traurig machte – mich aber auch wachrüttelte. Dafür werde ich unserem kleinen Stern für immer dankbar sein. Ich begriff endlich, dass ich etwas ändern musste. Ich lief den Marathon und danach beschloss ich eine Sport-bzw Laufpause einzulegen.

Und auch die Probleme mit den Abführmitteln bekam ich irgendwie in den Griff. Ich kann nicht mal sagen, wie ich es geschafft habe. Ich war einfach voller Hoffnung auf mein Baby. Ich wollte alles dafür tun, dass es dem Kind gut geht. Gesunde, ausreichende Ernährung, mäßige Bewegung, eine zufriedene Mutter. Es klingt so trivial und einfach, das war es bestimmt nicht.

Und nach der Geburt?

Da ich mich während der Schwangerschaft gesund und ausgewogen ernährt hatte und keine Heißhungerattacken hatte, hatte ich nach der Geburt relativ schnell mein Ausgangsgewicht wieder und konnte meine alten Klamotten anziehen. Das hat mir sicherlich geholfen, standhaft zu bleiben. Der kleine Bauch, der anfänglich noch da war, störte mich, aber ich hatte als stillende Mutter eine große Verantwortung, die ich sehr ernst genommen habe. 

Nach Ende der Stillzeit wurde ich relativ schnell wieder schwanger und habe auch während der nächsten Schwangerschaft die Verantwortung für mein Baby in den Vordergrund stellen können. Natürlich habe ich mich in den letzten drei Jahren nicht immer wohl gefühlt und mich auch mal kritisch im Spiegel beäugt, aber es ist anders als früher. 

Wie geht es dir aktuell?

Mir geht es aktuell gut. Ich hatte seit knapp drei Jahren, also seit der ersten Schwangerschaft, keinen Rückfall gehabt und habe auch keine Sorge davor, dass es dazukommen kann. Ich habe eine Verantwortung meinen Kindern gegenüber und die nehme ich ernst. Ich bin ihr Vorbild und das gilt auch für die Ernährung. Natürlich fühle ich mich nicht immer wohl in meinem Körper, aber das ist nicht mehr vordergründig. Und ich würde behaupten, die Zufriedenheit überwiegt. Ich bin aber aber auch stolz auf mich, den Absprung geschafft zu haben.

Keine Abführmittel mehr, einen gesunden Appetit, regelmäßige Mahlzeiten und ein normales Pensum an Bewegung und Sport. Meine Verdauung hat sich „von alleine“ reguliert, das macht natürlich viel aus und da bin ich sehr dankbar für. Da ich noch in Elternzeit bin und mein Mann selbstständig zuhause arbeitet, essen wir zu jeder Mahlzeit gemeinsam, das ist uns wichtig. Vielleicht erleichtert es mir den Umgang mit meiner Essproblematik, da ich jetzt nichts mehr verstecken und leugnen kann. 

Was möchtest du Frauen sagen, die gerade durch ähnliches durchmüssen? 

Gebt nicht auf! Kämpft für ein freies Leben. Ein Leben, das sich nur um Essen dreht, ist nicht frei.
Es ist bestimmt kein leichter Weg und es kann sein, dass es in meinem Bericht vielleicht „einfach“ rüber kommt, aber das war aber nicht. Zwischen dem Schwimmunterricht in der fünften Klasse und jetzt liegen 20 Jahre. Es gab ganz viele Tiefen und wenig Höhen. Der Zeitraum macht deutlich, wie lange ich damit zu tun hatte – und auch wenn ich mich momentan gut fühle, wird es vermutlich nie vorbei sein. Wenn ihr es nicht aus eigener Kraft schafft, dann holt euch Hilfe. Vertraut euch jemandem an. 

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1 comment

  1. Ich freue mich für die Mama, dass sie einen gesunden Weg für sich finden konnte. Das war sicherlich nicht leicht – eigentlich gerade mit einer Schwangerschaft, da diese einen Frauenkörper noch einmal komplett verändert. Optisch und hormonell.

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