Ehrenamtliche Wegbegleitung: Soziales Netzwerk für Jugendliche

Ehrenamtliche Wegbegleitung

Ihr Lieben, wir haben schon einmal über die ehrenamtliche Wegbegleitung von Julius Daven für Jugendliche aus Jugendhilfeeinrichtungen berichtet. Mittlerweile hat er ein zweites Buch geschrieben (Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe*), einen Verein gegründet und ist auf der Suche nach Menschen, die Lust haben, selbst ehrenamtliche Wegbegleiter:innen zu werden. Sie suchen aktuell im Großraum Köln, Düsseldorf, Wuppertal, Bonn, Aachen und das Ruhrgebiet. Warum Julius das tut? Er hat selbst in seiner Jugend von einer Begleiterin profiert, die nicht zu seiner Familie gehörte…

Lieber Julius, wir haben dich vor zwei Jahren schon einmal zum Thema ehrenamtliche Wegbegleitung interviewt, was hat sich seitdem getan?

Ehrenamtliche Wegbegleitung

Nach unserem Interview ist noch ein zweites Buch enstanden und zwar zusammen mit Prof. Dr. Andreas Schrenk. Seine Idee war es, einen Sammelband zur ehrenamtlichen Wegbegleitung, also ein Fachbuch mit wissenschaftlicher Resonanz zu veröffentlichen. Es sollte ein Buch für Fachleute aus dem Hilfesystem der Kinder- und Jugendhilfe werden und gleichzeitig so geschrieben sein, dass es auch für Laien verständlich wirkt. Ich meine, dass uns dies ganz gut gelungen ist.

Soweit ich weiß, habt ihr einen Verein gegründet…

Genau, auf Grundlage dieses zweiten Buches haben wir dann am 14.07.2023 einen gemeinnützigen und mildtätigen Verein als Non-Profit-Organisation gegründet. Unser Verein EWD e.V. (Ehrenamtliche Wegbegleitung Deutschland für Kinder, Jugendliche und Careleaver) hat das Ziel, erwachsene reflexionsstarke Menschen zu finden, welche die richtigen Absichten mitbringen und sich vorstellen können, ein Kind oder einen Jugendlichen aus einer Wohngruppe (Kinderheim) mit kaum bis gar keinem Kontakt zu erwachsenen Bezugspersonen außerhalb der Einrichtungen langfristig zu begleiten. Hierzu qualifizieren, betreuen und supervidieren wir ehrenamtliche Wegbegleiter:innen.

Magst du uns nochmal erklären, was genau es mit der ehrenamtlichen Wegbegleitung auf sich hat?

Nicht alle Kinder wachsen zu Hause gut behütet auf. Deshalb ist es gut und wichtig, dass es Heime gibt, in denen sich pädagogische Fachkräfte für die Kinder und Jugendlichen engagieren. Viele Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen haben vor der außerfamiliären Platzierung prägende und traumatisierende Erfahrungen gemacht. Und das mit instabilen, nicht verlässlichen oder dissozialen Beziehungen. In jedem Falle negativ und in vielen Fällen z.B. von Missbrauch oder Gewalt geprägt.

Manche von ihnen befinden sich ausschließlich in professionalisierten Kontexten. Sie fühlen sich unendlich alleine, wenn sie realisieren, dass dies so ist und sie z.B. auch am Wochenende nicht – wie die anderen Kinder – für Ausflüge von Familien oder Freunden abgeholt werden. Die ehrenamtliche Wegbegleitung setzt genau hier an und versteht sich als Ergänzung heimpädagogischer Strukturen.

Was ist das langfristige Ziel?

Ehrenamtliche Wegbegleitung

Wir möchten erreichen, dass mit Unterstützung von ehrenamtlichen Wegbegleiter:innen ein soziales Netzwerk aufgebaut werden kann, auf das die jungen Menschen nach Auszug aus der Wohngruppe und weit darüber hinaus als Careleaver zurückgreifen können. Als Careleaver werden junge Menschen beschrieben, die die Wohngruppen meist um das 18. Lebensjahr herum verlassen und von da an auf eigenen Füßen stehen müssen.

Mit dem Auszug gehen die haltgebenden und lieb gewonnen Strukturen in der Regel verloren. Die ehrenamtlichen Wegbegleiter:innen können die jungen Menschen dann auffangen, weiterhin als  Ansprechpartner:innen oder Bezugspersonen wie ein starkes Rückgrat zur Verfügung stehen und in alltäglichen Dingen helfen. Wie es eben die Eltern eigentlich auch tun würden.

Welches ist euer Vereinsziel?

Unser Vereinsziel ist es, in ganz Deutschland möglichst vielen jungen Menschen die ehrenamtliche Wegbegleitung künftig anbieten zu können. Wir sind im Raum Köln, Bonn, Aachen, Düsseldorf und im Ruhrgebiet gestartet und wollen uns sukzessive im ganzen Bundesgebiet mit hoher Professionalität und einem hohen Anspruch ausdehnen. So haben wir neben unserem 5-köpfigen Vorstandsteam zwei zusätzliche Berater:innen (einer ist Amtsvormund, die andere ehemalige Jugendamtsleiterin) mit an Bord. Um den Kinderschutz vollumfänglich zu wahren, haben wir aus unserem Team zwei Kinderschutzbeauftrage (sogenannte „insofern erfahrene Fachkräfte“ = insoFa) ernannt.

Wie kann man eine solche Begleiterin oder ein solcher Begleiter werden?

Wir haben uns einen 7-Stufen-Eignungsplan überlegt. Wenn sich jemand für die ehrenamtliche Wegbegleitung interessiert, bitten wir zunächst darum, unsere Webseite ausgiebig zu studieren. Wir haben dort auch einen „Orientierungskompass“ hinterlegt. Hier stellen wir grundlegende Fragen, an denen man sich orientieren kann.

Der nächste Schritt wäre dann, bei uns einen Fragebogen anzufordern, den man ausfüllt und idealerweise mit einem Foto zurückreicht. Anschließend findet ein persönliches – meist digitales – Gespräch statt. Nach jeder erreichten Stufe stellt sich heraus, ob es noch passt und beide Seiten der Ansicht sind, den nächsten Schritt zu gehen.

Wir benötigen dann auch ein s.g. „erweitertes polizeiliches Führungszeugnis“. Anschließend besuchen wir interessierte Wegbegleiter:innen zuhause und machen uns ein umfassendes Bild vom Lebensumfeld des Bewerbers oder der Bewerberin. Hier kommen wir noch einmal Vis-a-vis ins Gespräch und können offene Fragen miteinander klären.

Die Einführungsschulungen finden dann an zwei Wochenenden statt. Nach erfolgreichem Absolvieren aller 7 Stufen schauen wir dann in den Einrichtungen nach jungen Menschen, die vom Angebot der ehrenamtlichen Wegbegleitung profitieren möchten.

Wie kommt ihr an die Kinder und Jugendlichen bzw. wie kommen sie zu euch?

Wir bemühen uns, in den Einrichtungen, in denen die jungen Menschen leben, für das Modell der ehrenamtlichen Wegbegleitung als Setting-ergänzendes Element zu werben. Ebenso sprechen wir mit den Jugendämtern (ASD = Allgemeiner Sozialer Dienst) und den Vormund:innen. Alle beteiligten Akteure:innen sollen ja am Ende dem Angebot der ehrenamtlichen Wegbegleitung zustimmen.

Die Fachkräfte wissen meist am besten, ob es junge Menschen gibt, die vom Angebot der ehrenamtlichen Wegbegleitung profitieren könnten. Wie die interessierten ehrenamtlichen Wegbegleiter:innen, bitten wir die Kinder und Jugendlichen auch einen Fragebogen auszufüllen und uns einzureichen. Wir gucken uns dann die Fragebögen der jungen Menschen und die der interessierten Wegbegleiter:innen an und versuchen mit viel Bauchgefühl herauszufinden, wer in Bezug auf Interessen und Hobbies ganz gut zueinander passen könnte. Und dann beginnt schon das Matching, also ein erstes behutsames Kennenlernen.

Wie kamst Du damals auf die Idee, eine solche Initiative zu ergreifen?

Begleitung Jugendliche
Symbolfoto: Pixabay

In meinem ersten Buch „Bis Du tot bist – oder bis ich tot bin“* habe ich recht offen darüber berichtet, dass ich selbst weit über 35 Jahre von einer ehrenamtlichen Wegbegleiterin profitieren durfte. Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, in welchem es insbesondere in der Pubertät viel Gewalt gab, die manchmal unerträglich wurde. So fühlte ich mich als Kind ungeliebt, alleine und haltlos.

Doch dann trat Anna, eine Krankenschwester und Ehefrau eines Lehrers, selbst ein Waisen- und Heimkind, in mein Leben. Sie nahm mich wie ich war und bot mir aus freien Stücken eine unerschütterliche und langfristige Beziehung. Und dies bis zu ihrem Tod. Sie war und ist noch heute mein Vorbild und hat mir in schwierigen Zeiten meines Lebens geholfen, Fuß zu fassen, so dass ich meine Flügel ausbreiten konnte.

So weiß ich aus eigener Erfahrung, wie wichtig erwachsene Bezugspersonen sind, wenn man sich allein fühlt. Junge Menschen in den Einrichtungen leiden unter der starken Fluktuation und dem Schichtdienstbetrieb in den Einrichtungen. Gerade im Übergang in die Selbständigkeit bei Auszug aus der Wohngruppe entsteht häufig das Gefühl des Alleinseins. Das wissen wir von Carleaver:innen. Ehrenamtliche Wegbegleitung schließt eine Lücke in der Kinder- und Jugendhilfe durch eine exklusive, unbezahlte, dauerhafte und verlässliche Beziehung.

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Magst du uns mal von einer besonders berührenden Wegbegleitung erzählen?

Es gibt ein Kind (10 Jahre), welches seit einem halben Jahr von einer ehrenamtlichen Wegbegleitung profitiert. Es lebt in einem intensivpädagogischen Setting und ist schwer traumatisiert. Die Mutter – selbst vermutlich stark belastet – hat das Kind vor über einem Jahr in einer Einrichtung abgeben müssen und ist dann untergetaucht. Sie hat sich nie wieder gemeldet. Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Einen Vater gibt es nicht, auch keine Geschwister, keine Freunde und keine Verwandten.

Das Kind fühlt sich völlig alleine und kann das auch so ausdrücken: „Ich bin niemandem wichtig.“ Innerhalb des ersten Jahres in der Wohngruppe wechselten mittlerweile dreimal die Bezugsbetreuer:innen. Eine typische Situation in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist kaum abwendbar und Teil der Lebensrealität vieler junger Menschen. Es war für das Kind sehr schwierig, Vertrauen zur ehrenamtlichen Wegbegleiterin herzustellen.

Das Kind glaubte anfangs nicht daran, dass die Wegbegleiterin wiederkommen würde. Nach und nach entsteht jedoch eine Beziehung, die natürlich noch viel Ausbaupotential hat, aber erste Blüten trägt. Wenn die Wegbegleiterin mit dem Kind gemeinsame Zeit außerhalb der Einrichtung verbringt, gibt es Situationen, in denen das Kind plötzlich wie versteinert und erstarrt dasteht. Und zwar immer dann, wenn es eine Mutter mit einem Kind sieht. Die Wegbegleiterin beschreibt es, wie ein „Wegbeamen“ für Minuten.

Für die Wegbegleiterin sind solche Momente schwer auszuhalten, aber Dank supervisorischer Unterstützung schafft sie es ganz gut. Letzte Woche berichtete sie, dass sie gemeinsam auf dem Smartphone der Wegbegleiterin über Spotify Kinderlieder hörten. Es gibt ein Lied mit dem Refrain „Weißt Du eigentlich, wie sehr ich Dich lieb hab…?“ Das Kind versteinerte quasi erneut und es liefen minutenlang die Tränen über die Wange. Solche Momente bringen sicherlich auch Profis manchmal an ihre Grenzen. Und es wird deutlich, warum eine ehrenamtliche Wegbegleitung so wichtig ist.

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