Ihr Lieben, es ist so schön, dass wir einige Familien über längere Zeit begleiten dürfen. Über Jill und ihren Sohn Paul haben wir 2017 das erste Mal berichtet. Paul hatte eine seltene Stoffwechselstörung, die in der Geburtsklinik nicht rechtzeitig erkannt wurde. Dadurch erlitt Paul einen irreparablen Hirnschaden, der ihn zu 100 Prozent mehrfach schwer behindert machte. Paul konnte nicht reden, nicht selbstständig essen, nicht sitzen oder nach etwas greifen (HIER das erste Interview) . Im September 2019 ist Paul mit 18 Jahren gestorben, ein paar Monate später erzählte uns Jill, wie es ihr nach Pauls Tod geht, wie groß die Lücke ist, die er hinterlässt (HIER das zweite Interview). Heute, eineinhalb Jahre später, konnten wir wieder mit Jill reden – darüber, wie sich Trauer verändert und wie es ihr und Pauls Bruder heute geht.
Liebe Jill, im September 2019 ist dein Sohn Paul gestorben, den du 18 Jahre lang gepflegt hast. Du bist nach seinem Tod in ein tiefes Loch gefallen. Wie geht es dir heute?
Durchwachsen – das beschreibt es ganz gut. Es gibt nun Tage, an denen ich nicht mehr durchgehend traurig bin und auch mal lache, ohne direkt danach ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Alpträume sind etwas weniger geworden. Seit dem Tod von meinem Sohn habe ich allerdings Panikattacken, für die ich mich schäme.
„Zeit heilt alle Wunden“ – wie stehst du zu diesem Spruch.
Zeit mag körperliche Wunden heilen, aber keine seelischen Wunden. Man lernt nur mit der Zeit, besser mit dem Verlust umzugehen. Wobei ich manchmal denke, dass man auch viel einfach verdrängt.
Paul zu pflegen war eine Lebensaufgabe – was erfüllt dich heute?
Es gibt nichts, was mich erfüllt. Ich flüchte mich in Aufgaben, um nicht die ganze Zeit nachzudenken. Im Grunde funktioniere ich nur.
Es stehen noch Gerichtsprozesse an, die meinen Sohn betreffen und auch die Autopsie hat neue Fragen aufgeworfen, ob der Tod nicht vermeidbar war. Dies beschäftigt mich viel und lähmt mich auch.
Wenn mir das alles zu viel wird, suche ich andere Aufgaben, um beschäftigt zu sein. Dann lese ich, arbeite im Garten, gehe viel spazieren. In meinem alten Beruf kann ich nicht mehr arbeiten, daher habe ich auch einige Seminare zur beruflichen Neuorientierung besucht.
Da ich mit Pauls Pflege immer total ausgelastet war, weiss ich im Grunde nun gar nicht, was ich mit so viel „Freizeit“ anfangen soll.
Paul hat ja noch einen kleinen Bruder, der heute 16 Jahre alt ist. Wie geht es ihm?
Pauls Bruder ist sehr selbständig und unternimmt viel. Er geht mit Pauls Tod ganz anders um, was gut ist. Er möchte nicht ständig über Paul reden, sondern sagt, dass wir einfach froh sein können, dass Paul so lange bei uns war. Er hat mir mal gesagt, dass es Pauls Entscheidung war zu gehen – so wie ein 18-Jähriger eben entscheidet, von zu Hause auszuziehen.
Wie präsent ist Paul heute in deinem Alltag?
Ich denke jeden Tag an Paul, zum Glück werde ich nicht immer traurig dabei. Er fehlt mir immer noch sehr. Ich habe noch Kontakt zu seiner Schule und den Betreuern, die bei uns angestellt waren. Darüber bin ich sehr froh.
Wir haben zwei Gedenkstellen für Paul. Eine ist im Flur mit einer Kommode aus seinem Zimmer. Auf dieser Kommode sind seine Steine und andere Dinge, die Bedeutung für ihn und uns haben und hatten. Die zweite ist in meinem Zimmer in einer Holzkiste. Dort bewahre ichBriefe, Urkunden und eine Haarlocke auf. Das ist wie eine Schatzkiste für mich.
Zu seinem Geburtstag zünden wir eine Kerze an und feiern.
Wenn die Trauer zu groß wird, wo findest du Halt und Hoffnung?
Dazu möchte ich mein Lieblingszitat von Vaclav Havel anführen: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung , dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“
Ich tanke Kraft und Mut im Wald. Letztes Jahr war ich sogar nachts im Wald spazieren. Der Zauber, den der Wald inne hat, ist nachts spürbarer als tagsüber.
Und ich glaube, ich muss diese letzte Aufgabe, diesen Prozess, der Paul betrifft, noch zu Ende bringen.
Ein Thema unseres letzten Artikels war auch deine Partnerschaft. Die Beziehung zu Pauls Vater war an den Herausforderungen zerbrochen. Du hast auch gesagt, wie schwer es ist, einen neuen Partner zu finden. Hast du mittlerweile einen neuen Partner?
Die Beziehung zu Pauls Vater ist damals an den Herausforderungen, die ein behindertes Kind so mit bringt, zerbrochen. Danach hatte ich noch eine Beziehung, aus der Pauls Bruder entstanden ist. Wir kennen uns schon seit 29 Jahren. Er war nach Pauls Tod für mich da, ist mein Seelenpartner, weil er einer der wenigen – oder vielleicht sogar der Einzige ist, der mich versteht.
Eine Partnerschaft im romantischen Sinne habe ich aber nicht.
Gibt es etwas, was du dir für deine Zukunft wünscht?
Ja, da gibt es vieles. Ich wünsche mir Unbeschwertheit und Fröhlichkeit und dass ich noch schöne viele Dinge mit meinem Sohn erlebe. Ich möchte auch wieder arbeiten und zu meiner ursprünglichen Kraft zurückzukommen.
Am meisten wünsche ich mir allerdings, dass die Prozesse endlich ein Ende finden. Solange diese nicht abgeschlossen sind, kann ich nicht in Ruhe trauern und auch irgendwann damit abschließen.
Wenn du an Paul denkst, an kommt dir da sofort in den Sinn?
Da kommt mir sofort ein König kommt mir in den Sinn. Paul war mein König, wir haben oft gescherzt, dass wir nur sein Gefolge sind. Er war eins mit sich und hatte eine so wundervolle Ausstrahlung. Er ruhte so in sich, dass alle seine Nähe gesucht haben. Ich bin dankbar, dass ich in kennenlernen durfte. Ohne Paul wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Und in diesem Gedenken werde ich weitermachen.
2 comments
Ich habe auch einen Sohn Paul, den ich nach sechs Wochen auf dieser Welt wieder gehen lassen musste. Meine Chefin schrieb mir damals, dass Zeit zwar alle Wunden heilen mag, dass die Narben jedoch bleiben werden. Und ich denke noch heute oft an ihre Worte, wenn sich mein „Narbenschmerz“ bemerkbar macht. Die riesigen Wunden sind irgendwie „geflickt“, aber ich werde immer durch diese Erfahrung gekennzeichnet sein. Und das ist auch in Ordnung so. Denn es sind Spuren meines Lebens und Zeugen meiner Liebe.
Ich wünsche Dir vom ganzen Herzen alles Liebe, Gute und viel Kraft!
Liebe Jill,
wünsche Ihnen und Ihrem anderen Sohn viel Kraft und Freude aneinander! Nein, die Zeit hilft etwas beim verarbeiten und nach Jahren ist der Schmerz weniger scharf. Aber er kommt weiterhin unvermittelt und bleibt schmerzhaft. Sie werden mehr und mehr unvermittelte Erinnerungen, ohne Tränen, haben. Und daran ist nichts falsch es gibt ( kann es nicht geben) keinen Abschluss. Der Tod beendet ja nicht die Beziehung sondern “ nur“ das Leben.
Diese eher hilflosen Sprüche sind ein Zeichen von Unsicherheit anderer Menschen die nicht wissen wie sie damit umgehen sollen. ( Ich persönlich bevorzuge Ehrlichkeit- es gibt nämlich nichts Hilfreiches was man sagen kann)