Die Fitness-Lüge: Nicht Muskeln, sondern Faszien schützen vor Schmerz

Die Fitness-Lüge

Foto: pixabay

Ihr Lieben, viele starten mit guten Vorsätzen ins neue Jahr und gaaanz viele nehmen sich vor, mehr Sport zu treiben, weitere Muskeln aufzubauen, den Körper zu stählen. Darum möchten wir hier heute einen Experten zu Wort kommen lassen, der uns enorm wichtige Einblicke geben kann: Dr. med. Arvid Neumann. Mit seinem Buch „Die Fitness-Lüge“ bringt er uns die faszinierende Welt der Faszien näher, die unsere Bewegung geschmeidiger und schmerzfreier gestalten kann!

Lieber Herr Neumann, wir starten jetzt ins neue Jahr, viele nehmen sich vor, mehr Sport zu treiben. Was können sie dabei richtig und was falsch machen?

Es gibt leider viele falsche Versprechen und Unwahrheiten über Fitness und Sport. Deshalb sollten wir uns nicht vornehmen, mehr Sport zu treiben, sondern uns im Alltag richtig zu bewegen. Und das tun wir, wenn wir die Faszie berücksichtigen. Monotone Bewegungen mit hoher Wiederholungszahl, bei denen es nur um den Muskelaufbau geht, schaden meist der Faszie. Sie können zu Schmerzen führen. Sich mit Freude und Genuss abwechslungsreich zu bewegen – das ist gut. Mit schlechtem Gewissen, Zwang und Druck Sport zu treiben, ist eher kontraproduktiv.

In Corona-Zeiten bin ich so viel wutjoggen gegangen, dass ich Knieprobleme bekommen habe – Patellaspitzensyndrom. Was hab ich vermutlich falsch gemacht?

Wut ist wie Angst und Sorge kein gutes Bewegungsmotiv. Das allein kann Sie mental belastet und somit auch die Faszie ungünstig verändert haben. Wie viele andere Menschen haben Sie vor dem Sport bestimmt keine Bestandsaufnahme Ihrer Körperfaszie machen lassen. Ein Faszien-Check-up ist die Eingangsdiagnostik meiner Methode, der Faszien-Orthopädie.

Haben Sie eine schlechte Körperstruktur, die sozusagen aus dem Lot geraten ist, dann starten Sie bereits ungünstig. Wenn Sie dann noch falsche Belastungen auf diese schlechte Körperstruktur bringen, dann können Beschwerden auftreten. So kann ein Teufelskreis entstehen, der zu typischen orthopädischen Erkrankungen wie Arthrose oder Rückenschmerzen führt.

Ohne Sie untersucht zu haben, kann ich hier keine genauen Aussagen machen. Ihre Diagnose beschreibt eine schmerzhafte Erkrankung am Ansatz der Kniescheibensehne an der Kniescheibe, also am Knochen-Sehnen-Übergang. Neben körperlichen Ursachen können auch äußere Faktoren dazu beigetragen haben, etwa falsches Schuhwerk. Und Sie sagen ja, dass Sie „so viel“ wutjoggen gegangen sind. Das war womöglich eine hohe Belastung, die der Körper so nicht gewohnt war. Sie sehen, vielfältige Ursachen kommen in Frage.

Die Fitness-Lüge
Arvid Neumann. Foto: Elena Reinsch

Immer mehr Menschen treiben Sport, die orthopädischen Erkrankungen steigen jedoch stetig. Ist Sport also doch Mord oder machen wir nur viel zu viel verkehrt?

Wir machen viel verkehrt. Wir treiben regelmäßig Sport, und dennoch steigen orthopädische Erkrankungen. So kann es nicht weitergehen! Wir benötigen ein Umdenken. Wie das gelingt und was dafür notwendig ist, führe ich in meinem Buch aus. Wir können uns die gesunden Kleinkinder zum Vorbild nehmen: Sie bewegen sich spontan, intuitiv, ökonomisch und abwechslungsreich. Bewegung ist ein Teil ihres Lebens, vielleicht der bedeutendste. Um Bewegungsqualität und Bewegungsvielfalt im Alltag muss es gehen, wenn wir gesünder werden wollen.

Der Breitensport, wie er heute empfohlen wird, macht also krank? Weil Muskeln nicht vor Schmerzen schützen?

Ja. Das sehe ich in meiner Praxis immer wieder. Und die Statistik bestätigt es deutschlandweit. Leider gibt es sehr viele Menschen mit Rückenschmerzen, Fehlhaltungen wie Geiernacken und Rundrücken, Verspannungen und Bewegungseinschränkungen, sogar in der jüngeren Bevölkerung. Das alles betrifft nicht nur die inaktiven Couch-Potatos.

Viele ehemalige Sportwissenschafts-Kommilitonen sind inzwischen Sportlehrer, treiben viel Sport, und haben doch Beschwerden. Ehemalige Sportlehrer bekommen genauso häufig Hüftendoprothesen eingesetzt wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Zu wenig Sport kann man den aktuellen und ehemaligen Trainern und Lehrern eher nicht vorwerfen. Neuste wissenschaftliche Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die Faszie eher Schmerzen verursacht (und sie beheben kann) als die Muskeln. Muskeln werden vielfach überbewertet (aus vielfältigen Gründen), die Faszie leider immer noch unterschätzt.

Sie sagen: ein schmerzfreies Leben, Beweglichkeit und Wohlbefinden bis ins hohe Alter erreichen wir nur durch achtsamen Umgang unserer Faszien…

Letztendlich geht es um ein artgerechtes Leben. Und dazu gehört eine mühelos aufrechte Körperstruktur ebenso wie natürliche, geschmeidige Bewegungen. Für beides ist die Faszie hauptverantwortlich.

Was genau sind Faszien, wie funktionieren sie und wie kann uns ein guter Umgang mit ihnen im Alltag helfen?

Ich spreche von der Faszie, es gibt nur die eine. Die Faszie ist faseriges Bindegewebe und bildet ein körperweites Netzwerk. Die Faszie ist die Architektin unserer Körperstruktur, sie verbindet alles mit allem und reicht von der Hautoberfläche bis zur einzelnen Körperzelle. Sie entscheidet, wie wir stehen und wie wir uns bewegen können. Sie ist dynamisch und passt sich ständig an.

Von daher lohnt es sich, sich zu überlegen, wie man im Alter körperlich aussehen möchte (Stichwort: Körperform), in welcher Verfassung man sein möchte, was man bis ins hohe Alter noch können möchte? In der tiefen Hocke den Boden säubern, mit seinen Enkelkindern Trampolin springen oder auf dem Hochseil balancieren? Mit einem Strahlen im Gesicht in ein paar Stunden einen hohen Berggipfel erwandern? Dann sollte ich dies alles jetzt schon tun. Und mit dem in meinem Buch beschriebenen richtigen Stehen, Gehen, Sitzen und Bücken kann ich lernen, wie ich mich richtig und sehr ökonomisch im Alltag bewege.

Das spart Energie, die ich dann am Abend für achtsame Me-Time nutzen oder bei Aktivitäten mit sozialen Kontakten einsetzen kann. Wenn die Hausarbeit mein Workout ist, habe ich mich richtig bewegt und etwas geschafft. Dann muss ich nicht danach Sport treiben, sondern kann Zeit für Herzensthemen gewinnen. Faszien-Orthopädie schafft Lebensqualität.

Was halten Sie von Faszienrollen und wie wirken sie?

Einen grundsätzlichen Zwang, eine Faszie zu rollen, sehe ich nicht. Das Faszienrollen kann kurzfristig die lokale Gelenkigkeit erhöhen. Außerdem beschreiben viele Nutzer ein Wohlgefühl im Anschluss. Beides befreit aber weder dauerhaft von Schmerzen, noch steigert es die Leistung. Die Rollen sind auch nicht für alle gut, das muss man im Einzelfall prüfen. Der Stoffwechsel kann aber durchaus durch sie angeregt werden. Man sollte sie eher „Stoffwechsel-Rolle“ nennen.

Welche Bewegungsabläufe und Haltungen unterstützen die Faszie?

Richtige Bewegung benötigt zwei Faktoren: Ein gesundes Nervensystem und ein geschmeidiges, gleitfähiges Fasziennetzwerk. Dann ist jede Bewegung eine Ganzkörperbewegung. Bewegungen werden so elegant, anmutig und flüssig. „Loslassen“ ist dafür das Zauberwort. Das Gegenteil wäre ein Festhalten einzelner Körperbereiche, also ein lokaler Bewegungsmangel.

Loslassen meint freies Bewegen im gesamten Fasziennetzwerk aber auch von eingefahrenen Glaubenssätzen. Beides steht absoluter Flexibilität im Wege. Bleibt die Faszie gesund, bleibt der Mensch in Form. Das ist die Grundlage für lebenslange Vitalität, Schmerzfreiheit und Beweglichkeit.

Die Fitness-Lüge
Dr. med. Arvid Neumann: Die Fitness-Lüge

Kann ich mich durch gute Bewegungsabläufe und gutes Sitzen selbst kümmern oder braucht es Experten für das richtige Kümmern um Faszien?

Ich habe „Die Fitness-Lüge“ auch mit dem Ziel geschrieben, die Menschen etwas unabhängiger vom Gesundheitssystem zu machen. Richtig angewandt können die Inhalte schon genutzt werden, um sich selbst zu helfen. Richtige Bewegung führt nach und nach auch zu einem körperlichen Umbau, zu einem im Lot sein. Pioniere dieses Weges sind Frederick Alexander mit seiner Alexander-Technik und der israelische Bewegungslehrer Moshé Feldenkrais.

Als Startbeschleuniger kann ich die Faszien-Orthopädie nutzen, die mit manueller Körperarbeit, Wahrnehmungsschule und Bewegungs-Coaching Unterstützung bietet. Oder die so genannte Strukturelle Integration, das „Rolfing“ nach der New Yorker Biochemikerin und Therapeutin Ida Rolf. All diese Techniken sind zu empfehlen, wenn man dann noch mehr erreichen will.

Was möchten Sie allen FreizeitsportlerInnen mit auf den Weg geben?

Fünf Dinge:

1. Machen Sie sich Ihr wahres Motiv klar, Ihr Warum? Und wenn Sie es kennen, überlegen Sie, ob Sie es mit der gewählten Sportart überhaupt erreichen und zugleich mit Spaß und Freude bei der Sache sind. Ist eins von beiden nicht gegeben, schauen Sie sich nach Alternativen um.

2. Berücksichtigen Sie Ihre aktuelle Körperstruktur und optimieren Sie diese frühzeitig. Verändern Sie Ihr Bewegungsverhalten (sie wollen hohe Bewegungsqualität der Einzelbewegung und hohes Bewegungsrepertoire), eventuell mit Unterstützung eines guten Experten.

3. Denken Sie an den Alltag. Ihr Körper trainiert 24 Stunden täglich. Lassen Sie sich nicht einreden, dass die eine Stunde im Sportstudio das Wichtigste sei. Richtiges Bewegen im Alltag gibt Ihnen neue Freiheit.

4. Ziehen Sie Sport in der Natur dem Fitnessstudio vor. Gehen Sie spazieren, wandern, klettern. Gehen Sie häufig barfuß. Machen Sie es Kindern nach und kopieren Sie deren Spontaneität und Intuition auch für Ihr eigenes Bewegungsverhalten.

5. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl und nehmen Sie sich ausreichend Zeit für sich selbst und ihre Regeneration. Achten Sie auf gesunden Schlaf und die richtige Schlafposition.

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Die Fitness-Lüge
Arvid Neumann. Foto: Elena Reinsch

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2 comments

  1. Moin,

    Ich bin kein Fan von diese reißerischen Buch-Titeln.
    Ich denke sehr wohl, dass die Faszie eine größere Rolle als gedacht spielt. Aber zu behaupten, Muskeltraining wäre sinnfrei?
    Beim Treppensteigen mit 85 Jahren fällt es doch erheblich leichter, wenn man schon ein paar Muskeln hat, oder? Ich weiß nicht, ob die optimale Faszie dafür ausreicht, um auch noch im Alter ohne Beschwerden Steigungen zu erklimmen?

    Das ist speziell, ja, aber bei meinem Typ II Diabetes sind viele Muskeln auch eher von Vorteil. Oder nehmen sich die Faszien auch Glucose aus dem Blut zur Bewegung?!

    Viele Grüße
    Stiefelkind

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