Viele Eltern, vielleicht zählen auch Sie dazu, verfügen über ein beeindruckendes Wissen rund um das Thema Ernährung: Sie können Lebensmittel routiniert und treffsicher in eine gesunde und eine ungesunde Ecke stellen. Eine Untersuchung mit Grundschülern hat gezeigt, dass auch Kinder diese Einteilung schon sehr gut vornehmen können: Man bat sie, eine Auswahl von Produkten in »gesunde Lebensmittel« wie Vollkornbrot oder Salat und »nicht gesunde Lebensmittel« wie Süßigkeiten und Burger einzusortieren – für die Kinder kein Problem, sie erledigten die Aufgabe zielsicher und fehlerfrei. Danach waren sie aufgefordert, dieselben Produkte den Kategorien »mag ich« oder »mag ich nicht« zuzuordnen. Das Ergebnis wird Sie nicht überraschen: Alles Gesunde landete in der »mag ich nicht«-Ecke, während die vermeintlich ungesunden Lebensmittel in die »mag ich«-Ecke sortiert wurden.
Das kognitive Wissen, welche Lebensmittel gesund oder ungesund sind, beeinflusst also Vorlieben und Essverhalten bei Kindern möglicherweise eher in gegenteiliger Hinsicht. Als Eltern sagen wir: »Iss bitte mehr davon, das ist gesund!« und betiteln damit Speisen, die Kinder in der Regel nicht so gerne essen. Das vermeintlich gesunde Lebensmittel wird aus der Kinderperspektive zudem mit Zwang und Bevormundung assoziiert. Kinder hören den Begriff gesund und denken: Das schmeckt mir eh nicht!
Wenn wir uns also wünschen, dass unsere Kinder ausgewogen essen, können wir dies nicht durch die Vermittlung von Ernährungswissen erzwingen.
In unseren Augen sind Empfehlungen und Regeln wie beispielsweise »fünf Mahlzeiten pro Tag«, »viel Obst und Gemüse«, »regelmäßig Vollkorn-Getreide« oder »ausreichend trinken« kontraproduktiv, weil sie nicht dazu führen, dass Kinder ein gesundes Essverhalten entwickeln. Sie bewirken eher das Gegenteil, denn sie setzen Eltern unter Druck, weil Kinder in den allermeisten Fällen nicht so essen, wie Ernährungsexperten es empfehlen.
Kinder orientieren sich nicht an Regeln und Vorgaben, sie verlassen sich beim Essen auf ihr Körpergefühl. Es ist ihnen gleichgültig, ob Experten fünf Mahlzeiten pro Tag empfehlen: Wenn sie nachmittags nicht hungrig sind, essen sie nichts – es sei denn, die Eltern bestehen darauf. Wenn Kinder morgens zu Hause ausgiebig gefrühstückt haben, rühren sie ihre Brotdose in der Schule oder dem Kindergarten oft nicht an. Wenn sie Durst haben, trinken sie viel. Wenn das Vollkornbrot ihnen Bauchschmerzen bereitet, lassen sie verständlicherweise die Finger davon. Und wenn der Brokkoli komisch riecht, lehnen sie ihn ab, völlig unabhängig davon, ob Mama und Papa erklären, dass darin viele Vitamine enthalten sind und sie selbst unglaublich gerne Brokkoli essen. Er riecht trotzdem komisch! Der Körper des Kindes signalisiert Ablehnung im Sinne von: Das bekommt mir nicht gut, bitte iss das nicht! Das Kind folgt diesem inneren Signal, es vertraut auf seinen Körper. Es braucht kein Ernährungswissen, um sich gesund zu ernähren.
Leider kann es passieren, dass wir mit unserem Gesundheitsfokus, unserem Verhalten und den gesendeten Botschaften bei kleinen Kindern das säen, was wir als Essverhaltensstörung bei Jugendlichen ernten. Eine junge Frau, die Teil unseres confidimus-Netzwerks ist, schildert genau diese schmerzvolle Erfahrung:
Leider haben alle Frauen in meiner Familie ein problematisches Verhältnis zum Essen und zu ihrem Körper. Meine Mutter absolvierte immer wieder erfolglos Diätprogramme. Die Botschaft, die sie mir vermittelte, war klar: »Als Frau muss man auf sein Gewicht achten.« Auch meine Oma geht alles andere als ungezwungen mit dem Thema Essen um. Sie selbst isst nichts Süßes, weil sie stets Sorge hat, zuzunehmen. Schon als Kind habe ich von ihr Sätze gehört wie: »Ich darf das nicht essen, da ich sonst dick werde.« Leider hat sie auch immer wieder schlecht über übergewichtige Menschen gesprochen und deren Disziplinlosigkeit angeprangert. Gleichzeitig hat sie mir häufig Essen regelrecht aufgezwungen. Von mir wurde erwartet, dass ich den von ihr gebackenen Kuchen esse, auch wenn ich gerade gar nicht hungrig war. Heute ist mir klar, dass sie mit ihrem Verhalten wohl versucht hat, eigene Probleme zu kompensieren; ähnlich wie Magersüchtige, die ihre Familie bekochen. Sicher spielte auch eine Rolle, dass sie das Kuchenessen mit Anerkennung und Liebe verknüpfte, im Sinne von: Wird mein Kuchen geliebt, werde auch ich geliebt. Heute kann ich sagen, dass diese Beeinflussungen viel mit mir gemacht haben. Einerseits wurde mein Essverhalten stark kontrolliert, ich wurde meiner Autonomie beraubt, denn die Erwachsenen haben entschieden, wie viel Nahrung ich brauche. Meinen Hunger- und Sättigungssignalen durfte ich nicht folgen. Und dann konnte ich sie irgendwann selbst nicht mehr spüren. Andererseits wurde mir auch beigebracht, innere Kontrolle aufzubauen. Tief in mir hatte ich verinnerlicht: »Als Frau muss man diszipliniert essen, sonst wird man dick.« Bei mir hat sich dies dahingehend ausgewirkt, dass ich Bulimie entwickelt habe. Beide Faktoren, sowohl die Kontrolle von außen als auch der Druck, diszipliniert essen zu müssen, haben dabei eine große Rolle gespielt. Die Bulimie war meine Art der Kompensation.
Als Eltern haben wir leider ständig das Gefühl, dass unser Ernährungswissen (Brokkoli hat viele Vitamine und wenig Kalorien) wichtiger ist als die innere Stimme unserer Kinder (Der Brokkoli riecht komisch). Und das beschreibt genau das Dilemma, in dem wir uns befinden. Experten sagen uns: Das ist gesund für dein Kind! Nur leider will das Kind den Brokkoli nicht essen. Egal, wie liebevoll wir ihn zubereitet haben. Wie kann eine Lösung aussehen? Wir schlagen Ihnen diesen Weg vor:
Sie können Ihr Kind auf liebevolle und wertschätzende Weise dabei begleiten, ohne Druck und Zwang ein unbeschwertes und gesundes Essverhalten zu entwickeln.
Sie unterstützen Ihr Kind dabei, Hunger und Sättigung zu spüren und erlauben ihm, auf die natürlichen Signale seines Körpers zu vertrauen. Sie verzichten darauf, Ihr Kind beim Essen zu bevormunden, sondern ermutigen es, seinen Körper wertzuschätzen. Und wenn der Körper Ihres Kindes sagt: »Bitte keinen Brokkoli!«, dann akzeptieren Sie das und bestärken Ihr Kind darin, nur das zu essen, was ihm gut schmeckt und auch gut bekommt. Weil Sie darauf vertrauen, dass es sich nimmt, was es braucht. Sie ermutigen Ihr Kind, eigene Erfahrungen zu machen. Sie bieten ihm viele verschiedene Lebensmittel an und lassen es auch mal über die Stränge schlagen, weil Sie wissen: Jede Erfahrung prägt sich ein.
Sie stehen verteidigend hinter Ihrem Kind, wenn die Oma sagt: »Iss bitte den Teller leer!« Sie schenken Ihrem Kind Vertrauen beim Essen. Weil für Sie nicht Ernährungsempfehlungen oder gesellschaftliche Akzeptanz wichtig sind, sondern das Wohlbefinden Ihres Kindes. Sie vermitteln Ihrem Kind ein gesundes Essverhalten, das nicht auf den Empfehlungen Dritter basiert, sondern auf den individuellen Vorlieben Ihres Kindes.
Wenn es Ihnen am Herzen liegt, dass die Ernährungsweise Ihres Kindes seine individuelle Entwicklung optimal unterstützt, dann ist unser Ansatz für Sie genau richtig.
Und der erste, wichtige Schritt in diese Richtung ist: Lösen Sie sich von Regeln, Tipps und Vorgaben, die Ihnen einreden wollen »Nur wenn ein Kind so und so isst, entwickelt es sich auch gesund«.
Vertrauen kann nicht halbherzig gelebt werden. Es ist nicht vertrauensbildend, wenn Sie Ihr Kind bei den (vermeintlich) gesunden Lebensmitteln frei wählen lassen, während Sie die ungünstigen Lebensmittel strikt begrenzen. Entweder wir entscheiden uns für das Vertrauen in unsere Kinder und lernen loszulassen, oder wir bleiben bei unserem starren Regelwerk.
Warum es die eine gesunde Ernährungsweise nicht gibt
Um eines vorwegzunehmen: Wir vertreten nicht die Haltung »Jeder esse so viele Fertigprodukte und Süßigkeiten, wie er kann!«. Kinder, die sich gut spüren und ihren Körpersignalen vertrauen, tun dies auch nicht. Vielmehr setzen wir uns dafür ein, dass Kinder Vertrauen in ihren Körper entwickeln und ungezwungen und selbstbestimmt am Esstisch entscheiden dürfen, was ihnen guttut.
Denn: Jeder Organismus verstoffwechselt Nahrung unterschiedlich, sodass es keine allgemeingültigen Ernährungsempfehlungen geben kann, die für alle Menschen gleichermaßen gelten. Der Gesundheitswissenschaftler Thomas Frankenbach bestätigt: »Jeder Mensch ist einzigartig und hat individuelle Ernährungsbedürfnisse. Und die können sehr unterschiedlich ausfallen. Allein schon die Genetik und die jeweilige Lebenssituation sorgen dafür, dass Nahrung, die dem einen Menschen guttut, beim anderen bereits die Ursache für gesundheitliche Probleme sein kann.« Vollkorn ist also immer die beste Wahl? Nein, nicht für all die Menschen, denen das Vollkornbrot Bauchschmerzen bereitet.
Vielleicht ruft Ihre innere Stimme nun laut: »Aber es ist doch bewiesen, dass Zucker ungesund ist! Es kann doch nicht die Lösung sein, wenn mein Kind nur noch Pommes, Pizza und Süßigkeiten in sich hineinschaufelt.« Keine Sorge: Auf all diese Aspekte gehen wir ein. Wir verstehen Ihre Ängste. Aber wir sind überzeugt, dass Ihnen dieses Buch helfen wird, sie zu überwinden. Und dass Sie es auf diese Weise schaffen, die natürliche Körperintelligenz Ihres Kindes nachhaltig zu stärken.
Wir stehen nicht für Laisser-faire. Wir stehen für eine vielfältige, individuelle Ernährung, die Genuss und Freude in den Mittelpunkt rückt.
1 comment
Der Körper meiner Tochter scheint irgendwie nur Nudeln, Pommes und vor allen Dingen Fleisch, Fleisch und nochmals Fleisch zu wollen.
Das Einzige was sie jenseits dessen essen mag ist Obst. Da allerdings überwiegend möglichst teure Importfrüchte (Mango, Longan, Dragonfruit). Gelegentlich geht noch Banane.
Gemüse wird nicht angerührt. Auch nicht das Gemüse, das als kindgerecht gilt, wie Erbsen, Mais und Möhrchen. Das ist auch nicht nur eine Phase, sondern sie macht das schon vom dritten bis zum siebten Lebensjahr so.
Das ist wirklich nervig. Sie dazu zwingen irgendwas zu essen werde ich trotzdem nicht, weil ich es für sinnlos halte. Am Ende würde sie sich dann auch einfach weigern, egal wie ich schimpfe und drohe. Klar könnte man dann Strafen verhängen, aber letztlich würde das den Familienfrieden killen.
Dann halt lieber der Tochter ihr Nudel-plus-Fleisch-Einerlei vorsetzen und viel Geld für Flugmangos ausgeben, damit auch mal was Pflanzliches verzehrt wird.
Interessant: Trotz einer Ernährung bei der jeder Ernährungsberater sich die Haare raufen würde, ist sie kerngesund, sportlich und kein Bisschen übergewichtig.
Von daher könnte an der Theorie „Dein Kind isst besser als Du denkst!“ wirklich was dran sein.