Es war kurz nach halb sechs, draußen schon dunkel, den ganzen Tag hatte es genieselt. Ein ungemütlicher Tag, der einfach bald vorbei sein sollte. Ich hatte meinen Sohn gerade zum Schwimmunterricht gebracht, drehte das Radio lauter. Die Straße war ich schon tausendmal gefahren, deshalb fiel mir gleich auf, dass etwas anders ist.
Auf der anderen Straßenseite, kurz vor der großen, vierspurigen Kreuzung stand ein Auto quer. Gleich dahinter noch eins. Am Boden lag eine Frau. Um sie herum standen Menschen, einige hatten die Hand auf den Mund gepresst, die anderen gestikulierten und hatten ein Handy am Ohr. Mist, Unfall, dachte ich. Hoffentlich ist es nicht so schlimm.
Das Gefühl in der Magengegend sagte was anderes.
Weil klar war, dass ich nicht helfen kann, fuhr ich weiter. Ich holte meine Tochter von einem Geburtstag ab, es nieselte immer noch. Sprach dort mit anderen Eltern über unser Organisations-Chaos vor den Feiertagen, über das, was uns im Alltag alle so nervt. Kurz vergaß ich die Szene an der Kreuzung.
Als ich meinen Sohn vom Schwimmtraining abholen wollte, fuhr ich wieder an der Kreuzung vorbei. Zwei große Einsatzwägen mit Blaulicht, alles abgesperrt. Mein Gefühl hatte wohl recht behalten. Das sah nicht gut aus. Ich sammelte meinen Sohn ein und dachte darüber nach, dass irgendeine Familie gerade den absoluten Horror durchlebt. Wie unwirklich plötzlich alles um mich wirkte. Die andere Mutter, die ihr Kind anmotzte, dass es sich schneller abtrocknen sollte. Mein Ärger darüber, dass ich beim Aussteigen in eine Pfütze getreten war und meine Füße nun trieften. Mein Handy, dessen Piepsen mich daran erinnerte, dass noch 104 Mails beantwortet werden wollen.
Am nächsten Morgen suchte ich im Internet nach einer Meldung über den Unfall. Ich hoffte, dass die Frau Glück im Unglück hatte. Ich fand einen kurzen Artikel. Dort stand, dass die Frau noch am Unfallort gestorben war. Sie starb am Nikolaus-Tag auf einer Kreuzung im Berliner Nieselregen. Eine andere Frau hatte sie beim Abbiegen übersehen. Da fing ich an zu weinen.
Vielleicht war die Frau vorher noch kurz etwas fürs Abendessen einkaufen und wollte schnell nach Hause. Wo sie nie ankam. Vielleicht hat jemand auf sie gewartet. Jemand, dessen Welt von einer Sekunde auf die andere nun nicht mehr die gleiche ist. Kein Stein steht mehr auf dem anderen.
Und wie immer, wenn wir etwas Schreckliches hören, lesen oder sehen, muss ich gerade auch ständig daran denken, wie schnell alles vorbei sein kann. Wie zerbrechlich unser Glück ist. Wir können uns das nicht ständig vor Augen führen, sonst würden wir wohl verrückt vor Angst werden.
Aber in Momenten, in denen wieder mal alles zu viel erscheint, in denen wir explodieren wollen oder uns über in Kleinigkeiten hineinsteigern, sollten wir uns den Gedanken hervor holen: Das Leben ist wertvoll. Wir alle haben so viel Glück in unserem Leben gehabt. Das Leben ist nie geradlinig. Wie wissen nie, was in der nächsten Sekunde passiert. Umso wichtiger ist es, dass wir ab und zu inne halten, dankbar sind, für das, was wir haben.
Und dass wir den Menschen, die wir lieben sagen, dass sie die Welt für uns bedeuten.
14 comments
Und deshalb …
Und deshalb niemals aus dem Haus gehen, ohne das mein seinen Lieben gesagt hat, das man sie lieb hat.
Auch, und insbesondere wenn’s mal wieder nicht so rund läuft
und manchmal
kann man auch einfach nur dankbar sein, dass man nicht selbst derjenige ist, der in den Unfall verwickelt ist, sondern „nur“ einer der jenigen, die im Stau stehen….
Ich arbeite seit vielen
Ich arbeite seit vielen Jahren im Rettungsdienst. Und ich habe zwei kleine Töchter, einen Mann im Schichtdienst, Katzen, Ponys, Bienen, eine Großbaustelle und mache einmal wöchentlich eine Ausbildung in TCM. Meine Woche ist übervoll, mein Geduldsfaden manchmal unauffindbar. Und trotzdem versuche ich IMMER, mit meinen Kindern liebevoll umzugehen, Lappalien nicht aufzubauschen, meinen Kindern zu vermitteln, dass zerrissene Hosen, umgeschmissene Gläser, runtergefallene Brote oder Fehler in der Klassenarbeit keinen Weltuntergang bedeuten. ES IST EINFACH NICHT SCHLIMM! Denn Dinge die wirklich schlimm sind habe ich schon viel zu häufig bei der Arbeit gesehen…
Der Vater eines
Der Vater eines Kindergartenfreundes meiner Tochter hat Anfang der Woche den Kampf gegen Krebs verloren. Die eigenen Probleme werden so klein.
Danke – für soviel …Alles..
Danke – für soviel …Alles…
Hiobsbotschaften…
Dein Text trifft gerade einen Nerv, er hat mich sehr berührt.
Wir haben letzte Woche eine Kollegin in meinem Alter an eine kurze, heftige Krebserkrankung verloren, ein Bekannter im besten Alter ist vor 3 Wochen plötzlich und unerwartet im Schlaf gestorben und erst vorgestern erhielt mein Onkel die Nachricht, dass sein Tumor metastasiert habe und er nur noch palliativ bestrahlt werden kann.
Solche Nachrichten halten die Welt kurz an – und dennoch nimmt sie so schnell wieder Fahrt auf. Daher danke für diesen gefühlvollen Moment des Innehalten.
Eine besinnliche Vorweihnachtszeit allen!
Dankbar
Danke für diesen Text! Aber eigentlich geht es mir fast täglich so, wenn ich eure Beiträge lese. Ich bin so dankbar, dass ich zwei Mal ganz leicht schwanger geworden bin und zwei angenehme Schwangerschaften hatte. Meine KS waren beide positiv belegt und ich lebe mit zwei gesunden Kindern mit meinem Mann in einer tollen Wohnung mit Großeltern, die helfen, ganz in der Nähe! Nach fast jedem Beitrag danke ich dafür, was ich habe!!! Ich bewunder alle Frauen und Mütter, die hier berichten und so viel Kraft und positive Energie ausstrahlen in ihren Beiträgen!!!
Danke, liebe Katharina! Ich
Danke, liebe Katharina! Ich bemitleide mich seit Tagen selbst, weil ich krank bin und die Kinder trotzdem anstrengend und kaum Weihnachtsstimmung aufkommt…
Über deinen Text und die Frau im (von mir sehr fernen) Berlin musste ich weinen und er hat mir wieder gezeigt, auf welchem hohem (banalem) Niveau ich oft am Jammern bin.
Die Situation kenne ich nur
Die Situation kenne ich nur zu gut. Vor 2 Jahren lag ich nach einer OP auf der Intensivstation und wusste , dass mein Leben am seidenen Faden hängt. Heute ist mir viel bewusster, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Man darf nicht alles für selbstverständlich halten. Das Leben ist und bleibt ein wunderschönes Geschenk.
Die andere Seite
Eigentlich seltsam, nein wahrscheinlich menschlich, dass man sich vorstellt, wie es wäre, wenn man selbst plötzlich einen nahen Menschen verlöre und sich dadurch selbst glücklich schätzt. Denn die andere Perspektive wäre ja auch möglich, was wäre, wenn ich plötzlich für den Tod eines Menschen verantwortlich wäre… Aber da versagt, das Weiterdenken dann doch. Bei mir jedenfalls…
Mir ging es komischerweise so…
…dass ich spontan an die andere Seite denken musste. Denn für die Frau, die den Unfall verursacht hat, wird sicher auch nie mehr alles so werden wie zuvor. Mir ging es vor kurzem ganz ähnlich. Dunkel, Nieselregen, ich biege ab und übersehe völlig den dunkel gekleideten jungen Mann, der über die Straße überquert. Zum Glück konnte ich rechtzeitig bremsen, aber dieses Erlebnis saß bei mir auch tief. Und hat meine üblichen Alltagssorgen erstmal relativiert.
Dankbar
Vielen Dank für das Teilen Deiner Gedanken! Im Alltag vergisst man es all zu schnell, dass nichts selbstverständlich ist im Leben… Eben ist es noch rosa- rot, dann kommt eine Hiobs- Botschaft und nichts ist mehr, wie es war! Also lasst uns das Leben genießen frei nach einer Zeile in einem Lied von Sarah Connor: „Ich hab das alles so gewollt, all den Terror und das Gold!“ Und in Gedanken bin ich auch bei der Familie der Frau, für die die Adventszeit nie wieder die Gleiche sein wird, wow davor!
Danke für ein bisschen Inne halten
Danke für diesen Text und das Inne halten durch diesen Text. Das Leben genießen ist so wichtig. Egal wie schwer es scheint oder aber wirklich ist.
Vielen Dank für diesen Text.
Vielen Dank für diesen Text.