Leider scheinen die Befürchtungen wahr zu werden: Während der Corona-Zeit wurden vermehrt Kinder Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen in der Familie. Es ist leider nicht so, dass dies wenige Einzelfälle sind, sondern ein Problem, das sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht.
Dipl.-Psych. Thien An Tran, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
und Zertifizierte Kinderschutzfachkraft: Ja, leider hat eine erste repräsentative Studie aus München (Steinert & Ebert, 2020) unsere Befürchtungen nun bestätigt, dass während der Kontaktbeschränkungen, in 6,5 % aller Haushalte in Deutschland, Kinder körperlich bestraft wurden. Wenn Stressfaktoren hinzu kamen, wie etwa Quarantäne und finanzielle Sorgen, oder die Familie schon vorbelastet war, stieg die Zahl sogar auf bis zu 14,3 %!
Diese Zahlen sind nicht verwunderlich, denn leider werden in Deutschland und weltweit täglich Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt. Im Jahre 2019 wurden in Deutschland laut Polizeilicher Kriminalstatistik (Bundeskriminalamt, 2020) ca. 15.700 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren sexuell missbraucht, ca. 5.100 Kinder misshandelt und vernachlässigt, 112 Kinder getötet und ca. 12.300 Fälle von sogenannter Kinder- und Jugendpornographie erfasst. Die Dunkelziffer übersteigt dabei um ein Vielfaches die der Polizei bekannt gewordenen Fälle; die WHO schätzt beispielsweise, dass in Deutschland ca. 1 Mio. Kinder und Jugendliche sexuellen Missbrauch erlebt haben oder erleben (UBSKM, 2018); statistisch gesehen sitzen also in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder, das ist ein untragbarer Zustand!
Für viele Kinder ist es nicht leicht, sich Hilfe zu holen. Kennt Ihr die Gründe dafür?
Es ist etwa bei sexuellem Missbrauch eher die Regel als die Ausnahme, dass sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht zeitnah anvertrauen. Besonders bei innerfamiliärem sexuellen Missbrauch wird lange geschwiegen. Dabei haben die Betroffenen viele verschiedene, allesamt gut nachvollziehbare Gründe, weshalb sie schweigen:
Je stärker sich die Kinder und Jugendlichen für den sexuellen Missbrauch verantwortlich und schuldig fühlen, desto später öffnen sie sich. Darauf bauen auch viele Täterstrategien:
Die Täter*innen versuchen die Kinder gezielt zu „Komplizen“ zu machen, indem den Kindern etwa Geschenke gemacht oder Privilegien zugestanden werden, wenn diese „gut mitmachen“. Auf diese Weise bekommen die Kinder das Gefühl „mitgemacht“ zu haben und entwickeln Schuldgefühle, die sie daran hindern Hilfe zu holen, weil sie Angst haben, dafür verurteilt zu werden. Die empfundene Scham spielt eine ganz zentrale Rolle. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben ganz große Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie als Lügner*innen dargestellt werden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft, den Kindern das Gefühl geben, dass wir ihnen glauben, wenn sie sich anvertrauen.
Und so ziemlich jedes Kind will die heile Familie nicht zerstören, egal was die Eltern ihnen angetan haben. Die Furcht davor, dass die Familie durch das Aussprechen dessen, was nicht sein darf, auseinanderfallen könnte und dafür verantwortlich zu sein, hält viele betroffene Kinder und Jugendliche davon ab, sich die Hilfen für sich zu holen, die sie brauchen und verdienen. Dies wird durch die Angst verstärkt, was denn passiert, was alles losgetreten wird, sobald ich mich jemandem anvertraue.
Ihr möchtet Kindern nun niedrigschwellige Hilfsangebote bieten. Erzähl mal, was hinter HelpNavigator steckt.
Mit unserer App bieten wir den betroffenen Kindern und Jugendlichen ein zeitgemäßes und altersgerechtes Medium an, über den sie viel einfacher mit dem Hilfesystem in Kontakt treten können. Anstatt selber mühsam im Internet nach den vielen Angeboten suchen zu müssen, können sie passende und verfügbare Hilfsangebote gesammelt in der App finden. Darüber hinaus bietet die Möglichkeit, dass die Kinder über ein Pseudonym Kontakt aufnehmen können, den Betroffenen den entscheidenden Schutzraum, um sich erstmal unverbindlich beraten lassen zu können, ohne Angst haben zu müssen, dass sofort Maßnahmen eingeleitet werden, die die Betroffenen ggf. nicht wollen.
HelpNavigator soll als App u.a. folgende Funktionen umfassen:
Inkognito-Modus oder pseudonymisiertes Profil
Die Kinder und Jugendlichen können wählen, ob sie sich im „Inkognito-Modus“ ohne Login vollkommen anonym umschauen möchten oder sich ein Pseudonym erstellen wollen, über das sie dann mit den, auf der Plattform befindenden Hilfsinstitutionen, in Kontakt treten können. Es ist keine Registrierung mit personenbezogenen Daten notwendig; eine Identifizierung der Person ist also unmöglich, solange die Kinder und Jugendlichen es nicht möchten.
Filter- und Textbausteinsystem
Die Betroffenen erhalten die Möglichkeit, mithilfe eines Textbausteinsystems ihre Nachricht durch geleitete Fragen einfach zusammenzusetzen und dann abzuschicken, sodass sie nicht selber in Worte fassen müssen, was ihnen widerfahren ist. Gleichzeitig filtern die Fragen die richtigen Anlaufstellen heraus, sodass den Betroffenen geeignete Anlaufstellen in ihrer Umgebung sowie bundesweit verfügbare telefonische Angebote themenspezifisch vermittelt werden.
Stiller Alarm
Die ausgewählte Institution wird darüber benachrichtigt, dass ein hilfesuchendes Kind von außen angesprochen werden möchte. Dies senkt nochmal die Hemmschwelle für das Kind, sich Hilfe zu holen, weil nicht das Kind, sondern eine Person von außen auf das Kind zugeht.
Wer steckt hinter diesem Angebot und wie kamt Ihr auf die Idee?
Hinter HelpNavigator steht inzwischen ein engagiertes Team aus 12 überwiegend ehrenamtlichen Team-Mitgliedern, bestehend aus Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, Psycholog*innen, (Sozial-) Pädagog*innen, einem Softwareentwickler, einer Medienkommunikationsmanagerin, zwei Studentinnen der Medienkommunikation, einer Produktentwicklerin sowie einem Allround-Assistenten.
Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und zertifizierte Kinderschutzfachkraft unterstütze ich schon seit vielen Jahren täglich betroffene Kinder und Jugendliche.
Aus vielen Gesprächen mit Betroffenen jeden Alters habe ich viel über die unterschiedlichen, allesamt nachvollziehbaren Gründe erfahren, weshalb Betroffene schweigen. Der untragbare Zustand des riesigen Dunkelfeldes treibt mich seit vielen Jahren an, darum arbeite ich seit einigen Jahren mit HelpNavigatoran neuen Wegen, um die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch im Dunkelfeld zu erreichen.
Als dann die Schulen und Kitas im Rahmen der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen wurden, war klar, dass wir schnell eine Lösung für die Kinder und Jugendlichen brauchen, für die das eigene Zuhause eben kein sicherer Ort ist. Die Corona-Krise hat uns die bestehenden Schwachstellen im Hilfesystem nochmal sehr deutlich vor Augen geführt. Das war der finale Anstoß für die konkrete Umsetzung von HelpNavigator als App.
Dafür sammelt Ihr gerade Geld in einer Crowdfunding-Kampagne. Wofür benötigt Ihr genau Geld?
Genau, wir haben auf Startnext eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um die Entwicklung der App finanziell abzusichern. Ohne Programmierung und Design gibt es keine App. Um keine Zeit zu verlieren, haben wir unseren Programmierer trotzdem schonmal befristet angestellt, der sich nun vollzeit hinter die Entwicklung der App klemmen kann. Uns fehlen aktuell jedoch noch die finanziellen Ressourcen für eine*n UX-Designer*in sowie eine*n Graphikdesigner*in. Diese Kompetenzen werden zwingend gebraucht, damit wir eine für Kinder und Jugendliche ansprechende App entwickeln können, die sie auch gerne nutzen; nur so kommt die Hilfe an. Jede*r, der/die uns mit einer Spende unterstützt, trägt also ganz direkt dazu bei, dass die App so schnell wie möglich realisiert und den betroffenen Kindern und Jugendlichen so schnell wie möglich als Hilfe zur Verfügung gestellt werden kann.
Wie wollt Ihr dann die App bekannt machen, damit möglichst viele Kinder davon erfahren?
Wir werden einerseits die Kids dort abholen, wo sie sind: via Social media. Wir wollen die Kids über TikTok, Insta, Facebook, WhatsApp und alles, was noch so kommt, auf die App aufmerksam machen.
Auf der anderen Seiten werden wir über die Schulen gehen, denn dort erreichen wir alle Kinder! Geplant sind auch Kooperationen mit Anbietern digitaler Produkte für Schulen.
Während der Corona-Zeit waren z.B. Schulserver wie iSERV auch als Chat-Medium hoch im Rennen. Und HelpNavigator lebt auch von Kooperationen mit Projektpartnern, sodass wir auch mit anderen Organisationen und Projekten kooperieren wollen, die Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben.
HIER DER LINK ZUM CROWDFUNDING: https://www.startnext.com/helpnavigator
Hintergrund zum Interviewpartner: Dipl.-Psych. Thien An Tran gründete 2009 seine erste Kinderhilfsorganisation in Osnabrück, die sich für den Schutz von Kindern vor den besonders gravierenden Formen von Kinderrechtsverletzungen einsetzte. 2016 gründete er den zweiten Kinderschutzverein Child’s ReTRUST e.V. in Frankfurt am Main und setzt sich seitdem als Vorsitzender speziell für durch Gewalt traumatisierte Kinder ein.