Ihr Lieben, wie schnell und oft sagen wir diesen Satz: „Nee, hab grad keine Zeit“. Grad als Eltern sind wir stark eingebunden, oft in uns vorgegebene Rhythmen. Weil der Bus nicht wartet, die Schule pünktlich zu besuchen ist etc. „Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft“, findet Publizistin Teresa Bücker. Sie hält Zeit für eine Frage von Macht und Freiheit.
Für sie, ihr kennt sie vermutlich als Kolumnistin des SZ Magazins oder als ehemalige Chefredakteurin von Edition F, bedeutet soziale Gerechtigkeit eine gerechte Verteilung von Zeit. Doch die steht eben nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Teresa Bücker macht in ihrem Buch „Alle_Zeit„, das heute bei Ullstein erscheint, konkrete Vorschläge, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt.
Liebe Teresa, du sagst: Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit. Inwiefern ist das so?
„Soziale Gerechtigkeit bringen wir gemeinhin vor allem mit Geld in Verbindung. Das greift aus meiner Sicht zu kurz: Denn daneben hat Zeit einen immensen Einfluss darauf, was wir aus unserem Leben machen können. Wie selbstbestimmt wir leben, welche Ideen wir verwirklichen können und auch, wie gesund wir sind. Es gibt jedoch große Unterschiede darin, was Menschen mit ihrer Zeit machen können oder wie stark andere über ihre Zeit bestimmen. Das zu verändern, Zeit gerechter zu verteilen, ist daher eine wichtige politische Frage. Ganz besonders für Menschen, die sich unbezahlt um andere kümmern, also Eltern und pflegende Angehörige.“
Eine deiner Thesen lautet, dass Zeit nicht allen gleichermaßen zur Verfügung steht. Die Zeit allein doch aber schon. Nur wie wir sie nutzen können ist verschieden verteilt, oder?
„Genau. Wir alle haben 24 Stunden am Tag. Wir nutzen die Zeit jedoch für unterschiedliche Dinge und empfinden unsere Zeit als unterschiedlich frei: Manche Menschen arbeiten mehr, andere weniger – nicht unbedingt, weil sie wollen, sondern vielleicht auch deswegen, weil sie einen Zweitjob brauchen, um über die Runden zu kommen. Viele Menschen haben sehr lange Pendelstrecken, die ihre Arbeitstage zusätzlich ausdehnen und wenig freie Zeit übriglassen.
Care-Arbeit ist oft eine zweite Schicht nach dem Job, sodass manche Menschen eigentlich immer arbeiten. Und leider kann man auch feststellen, dass innerhalb von Hetero-Paar-Beziehungen meistens die Männer mehr freie Zeit haben als ihre Partnerinnen, die vielleicht Wäsche waschen oder sich mehr um die Kinder kümmern, während ihr Partner etwas mit Freunden unternimmt.
Wichtig bei der Verteilung von Zeit auf die Lebensbereiche ist zum einen: Habe ich das Gefühl, dass ich das selbst entscheide oder nehme ich Zwänge wahr? Entstehen dadurch Vor- oder Nachteile? Das wird unter dem Begriff: Zeitsouveränität diskutiert. Dann gibt es noch den Zeitwohlstand: Also die Idee, dass gesellschaftlicher Fortschritt dazu führt, dass wir immer mehr Zeit haben, die wir für persönliche Interesse und soziale Beziehungen, zum Beispiel für Zeit mit Freund*innen, nutzen können. Gerade Familien erleben aber eher das Phänomen der Zeitarmut, die sich stark auf Wohlbefinden und auch auf Gesundheit auswirken kann, und es gibt kaum politische Ideen, wie man Familien mehr Zeit verschafft.“
Dir geht es vor allem auch um die Frage, wer sich um die pflegebedürftigen Eltern und/oder um die Kinder kümmert, wie Alleinerziehende das wuppen sollen und wer überhaupt genügend Zeit hat, über eigene Interessen nachzudenken. Richtig? Geht es dir vor allem um soziale Gerechtigkeit?
„Mir war es wichtig zu zeigen, dass Menschen nicht deshalb zu wenig Zeit für sich haben, weil sie ihre Zeit schlecht managen. Es gibt bestimmte Gruppen, wie zum Beispiel Alleinerziehende oder Eltern pflegebedürftiger Kinder, die brauchen keine Tipps, wie sie etwas effektiver erledigen, die brauchen konkrete Unterstützung durch andere, die ihnen ein paar Stunden freie Zeit schenken. Diese Eltern bräuchten eigentlich gerade mehr Zeit für Erholung, weil ihr Alltag anstrengender ist als der von anderen Familien.
Für die zeitliche Entlastung von Alleinerziehenden haben wir aber bislang keine gesellschaftlichen Lösungen. Kinderbetreuung ist dafür da, dass Eltern in Berufen arbeiten, Erholungszeiten interessieren politisch so gut wie nicht. Erholung gilt als Privatsache. Und das kann nicht nachhaltig sein, da man sich erschöpft weder besonders gut kümmern noch gut arbeiten kann. Die Zahl der Eltern, die eine Kur beantragen und oft schon ernsthaft krank sind, steigt seit Jahren. Sollte es in einer fortschrittlichen Gesellschaft nicht umgekehrt sein?
Noch ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist dass jede*r ein Recht darauf haben sollte, sich politisch engagieren zu können: ein Recht auf Zeit für Engagement. Denn wenn man an den eigenen Lebensbedingungen etwas verbessern will, gelingt das vor allem darüber, dass man sich politisch engagiert. Wie aber sollen Care-Verantwortliche das tun, wenn sie so gut wie keine freie Zeit dafür haben? Wie Menschen, die in Nachtschichten arbeiten? Letztlich ist das ein demokratisches Problem, für das jede Partei Lösungen entwickeln müsste.“
Unsere Zeit auf der Welt ist begrenzt. Meinst du, auch das führt uns zu diesem Stress, mit dem wir manchmal durch unsere Tage, Wochen und Monate hetzen?
„Die Beobachtung, dass manche Menschen vielleicht zu viel gleichzeitig wollen und sich dadurch unter Druck setzen, ist sicherlich in manchen Fällen berechtigt. Aber aktuell entsteht Zeitstress oder Unzufriedenheit schon dadurch, dass wir ganz normale Dinge wollen, die kein Luxus sind: Auch Erwachsene sollten ihre Freund*innen regelmäßig treffen können und nicht nur alle paar Monate. Zeit, sich zu bewegen oder selbst zu kochen ist ebenso wenig ein außergewöhnliches Bedürfnis, sondern sollte zeitlich im Leben Platz haben können.
Ich kann wirklich nur mit den Augen rollen, wenn die Politik beschließt, ungesunde Nahrungsmittel zu kennzeichnen, aber daneben dann nichts dafür tut, dass Menschen Zeit haben zu kochen sowie genügend Geld haben, um frische Lebensmittel zu kaufen. Ich denke, dass sich das Grundgefühl von Zeitstress erst auflösen wird, wenn Vollzeitstellen mit ausreichendem Gehalt 20 bis 30 Stunden umfassen, Paare sich die Familienaufgaben fair teilen und Alleinerziehende und Familien mit Pflegeaufgaben konkret zu Hause entlastet werden.“
Heute hält man ein „Ich hab so viel zu tun, ich bin im Stress“ oft für en vogue. Es soll zeigen: Hey, ich werde gebraucht, ich hab zu tun. Müssen wir nicht dringend weg von dieser Denkweise?
„Wir haben eine riesige Furcht davor, als faul zu gelten. In unserer Gesellschaft ist leider die Haltung ganz stark verbreitet, dass man nur etwas wert ist, wenn man viel leistet. Damit ist auch verbunden, dass man die eigene Zeit möglichst dafür nutzen soll, um Geld zu verdienen oder sich auf andere Weisen attraktiver, interessanter zu machen. Wenn eine Person auf eine Vier-Tage-Woche reduziert, wird regelrecht erwartet, dass sie für den freien Tag einen Plan hat: am besten ein neues Projekt, das sich vielleicht mal zu Geld machen lässt oder zumindest hübsch auf Instagram aussieht.
Einfach nur mehr Zeit für sich zu wollen und offen zu lassen, was mit dieser Zeit passiert, löst Skepsis aus. Dabei ist Zeit, die nicht verplant ist, unheimlich wichtig. Unser Gehirn braucht diese Zeit sogar, um Dinge zu sortieren. Und diese offene Zeit, die man einfach nur zum Nachdenken, zum Herumliegen, für spontane Ideen nutzen kann, die sollte jeder Mensch regelmäßig – mindestens wöchentlich – auch haben können. Das darf sich nicht daran entscheiden, dass man es sich eben finanziell leisten kann, die Arbeitszeit zu reduzieren oder das Glück hat, Großeltern zu haben, die mal die Enkelkinder ein Wochenende nehmen. Wir alle brauchen diese offene Zeit. Unsere Gesellschaft braucht diese offene Zeit, denn nur so entstehen neue Ideen.“
Zeit ist ein etwas abstraktes Thema für ein Buch: Wie und in welchem Moment kamst du auf die Idee, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken?
„Die Idee für das Buch hatte ich durch andere Texte, die ich über politische Themen geschrieben habe, da mir irgendwann aufgefallen ist, dass viele gesellschaftliche Fragen damit zu tun haben, wie wir unsere Zeit nutzen können. Oft ist uns das gar nicht bewusst, da Zeit uns als natürliche Umgebung erscheint und viele denken: ,So ist es nun mal. Alle haben zu wenig Zeit. Stress ist normal.‘ Wie unsere Gesellschaft organisiert ist – auch zeitlich – ist aber nicht alternativlos. Wir können uns zusammenschließen, neue Ideen entwickeln, wie wir leben wollen und uns dann dafür engagieren, diesen Ideen näherzukommen. Ich möchte Mut machen, dass wieder mehr Menschen nein sagen zu Lebensmodellen, die sie unfrei machen und den Blick um sich herum weiten und solidarisch mit anderen sind.“
Kannst du uns konkrete Vorschläge für eine neue Zeitkultur nennen?
„Ganz zentral für eine neue Zeitkultur ist, dass jeder Mensch ausreichend Zeit in der Gegenwart bekommt, die er für eigene Interessen nutzen kann. Wir können nicht alles auf die Rente verschieben, allein schon deswegen, weil viele Menschen das Rentenalter nicht erleben werden. In Deutschland sterben Menschen, die wenig Geld verdienen, bis zu zehn Jahre früher als reiche Menschen. Das ist eine riesige Ungerechtigkeit. Zum einen heißt das, Armut viel stärker zu bekämpfen, aber eben auch, dass wir die ganze Lebenszeit über genügend Zeit für die Menschen haben sollten, die uns wichtig sind und auch die Dinge, die Freude bereiten. Eine Gesellschaft ist mehr als die Organisation von Arbeit. Gute Politik muss mehr absichern als das finanzielle Überleben.
Ein wichtiger Aspekt ist daher, Vollzeitarbeit neu zu fassen bei etwa 20 bis 30 Wochenstunden. Das ist auch nötig, weil manche Arbeit so schwer ist, wie zum Beispiel die professionelle Pflege, dass 40-Stunden-Jobs grundsätzlich überlasten und gesundheitsschädigend wirken. Zudem werden wir die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen erst erreichen, wenn ein Beruf und Fürsorge tatsächlich kombinierbar werden. Denn es ist komplett unrealistisch, dass alle Erwachsenen in 40-Stunden-Jobs arbeiten: Unsere Gesellschaft baut darauf, dass Kinder und Angehörige auch privat versorgt werden. Es ist mehr als überfällig, dass sich vor allem Männer daran beteiligen und dafür ein paar Stunden weniger in ihren bezahlten Jobs verbringen.“
Was genau möchtest du mit dieser neuen Zeitkultur bezwecken?
„Ich bin Feministin und ich möchte es noch erleben, dass Menschen wirklich gleichberechtigt leben und alle die Möglichkeit haben, für ihre Interessen einzutreten. Das ist mit unserer gegenwärtigen Zeitkultur nicht zu schaffen. Wir sprechen viel darüber, wie wir gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken können: Mehr Zeit füreinander, für Austausch und Offenheit gehört in jedem Fall zu den Antworten auf diese Frage dazu.“
Deine Vision für Deutschland in zehn, in zwanzig Jahren?
„Eine neue Zeitkultur zu etablieren ist ein langfristiges Projekt. Wenn wir jetzt anfangen, kommen wir in zehn bis zwanzig Jahren dahin. Meine Hoffnung ist, dass wir die freiwerdende Zeit dafür nutzen, uns auf die großen Veränderungen einzustellen, die kommen, mehr Interesse daran haben, was in anderen Ländern geschieht und was das mit uns zu tun hat, und es geschafft haben, den Klimaschutz so weit voranzubringen, dass alle Kinder dieser Welt wieder gern an ihre Zukunft denken.“
4 comments
Sehr interessanter und spannender Artikel! Ich kann nur unterschreiben, dass wir noch meilenweit von einer gleichberechtigten Zeitverteilung entfernt sind.
Ein super Beitrag! Die Autorin hat in so vielem Recht, was sie schreibt. Bei uns in der Familie sehe ich das auch, teilweise werden da die unterschiedlichen Sichtweisen der Generationen sehr deutlich. Mein Bruder (Mitte 30) hat seine Arbeitszeit schon vor 2 Jahren auf 80% reduziert, einfach um mehr freie Zeit für andere Dinge und Interessen neben dem Job zu haben. Jetzt wird er bald Vater und möchte auch eine längere Elternzeit nehmen. Bei unserem Vater (Anfang 70) stößt dies alles auf Skepsis, da er ein solches Lebensmodell aus seiner eigenen Vergangenheit nicht kennt. Er ist der Meinung, man(n) könne gerade in der Rush Hour des Lebens nicht genug arbeiten, d. h. einer gut bezahlten Tätigkeit nachgehen, Karriere machen, Haus bauen etc. Mein Bruder will das alles gar nicht. Es wird leider insgesamt wohl noch einige Zeit dauern, bis ein gesamtgesellschaftliches Umdenken stattgefunden hat. Aber die jüngeren Generationen sind auf einem guten Weg, so wie auch K. in ihrem Kommentar schon geschrieben hat.
Auf dem Standpunkt stehend, alles was man nicht ganz dringend zum Leben braucht als Luxus zu begreifen, u.a. sowohl Anerkennung, Gestaltungsmacht/ -einfluss als auch fast alles, was man für Geld kaufen kann, ist genug Zeit da, über die entschieden werden kann.
Ein sehr wichtiger Text mit einem tollen Ansatz! Ich überlege schon, wem ich das Buch schenke?!? Dass es wirklich um Ueit und nicht allein Geld im Leben geht erlebe ich immer wieder. Die Generation nach uns hat das schon viel mehr verinnerlicht. Da erlebe ich auf Arbeit immer wieder. Sie lassen sich nicht in einen 40 Std. Job zwingen und fordern auch Gleitzeit und HomeOffice aktiv ein. Es hat sich da tatsächlich schon viel getan, aber noch lange nicht genug. Ich arbeite leider erst seit ich Kinder habe 30 Stunden bzw. jetzt 32 Stunden. Das ist wesentlich befreiender! In meiner Branche ist es bei Vollzeit üblich 3 lange Tage bis ca. 19:00 Uhr zu arbeiten, das geht an die Substanz, zumal erwartet wird an diesen Tagen auch schon zwischen 08:00 Uhr und 09:00 Uhr da zu sein. Überhaupt wird man komisch angeschaut, wenn man seine Gleitzeit aktiv am Morgen nimmt… als die Kinder noch klein waren haben wir z. B. immer bis 7:30 Uhr geschlafen und gemütlich gefrühstückt und die Kinder in Ruhe in die Kita gebracht. Wir sind dann immer erst gegen neun auf Arbeit gewesen, manchmal auch später… das hat gut gepasst. Und nun sind sie in der Schule und müssen schon 07:30 Uhr am Schulhof sein. Daher habe ich meine Stunden erhöht, da ich eh nie einfach 13:00 Uhr gehen kann. Ach ja und ein langer Tag wird trotzdem erwartet, seit neusten von Eltern, die aus Elternzeit zurück kehren sogar 2 lange Tage. Was ich furchtbar finde. Eigentlich müssten diese jungen Eltern dann erst mittags anfangen, das trauen sich aber auch die wenigsten… und nur 4 Tage arbeiten, das wird bei uns nur Leuten mit berufsbegleitenden Studien oder älteren Mitarbeitern zu gestanden. Es hängt wirklich viel an der Zeit. Ach ja, dann ist ja noch unser Tarifvertrag der in Ost bis letztes Jahr eine 40 Stundenwoche vor sah in West eine 39 Stundenwoche (den Sinn darin habe ich nicht verstanden). Immerhin wird es jetzt über 2 Jahre abgesenkt, warum nicht einfach angepasst erschließt sich mir auch nicht. Als ob der Tag in den neuen (immerhin schon 30 Jahre alten) Bundesländern 25 Stunden hätte!