Bindungsstörung: Meine Tochter lebt beim Papa

Bindungsstörung

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Ihr Lieben, ein großer Mythos ist ja, dass alle Mütter ihre Kinder sofort bedingungslos lieben müssen und die Kinder am besten bei der Mutter aufgehoben sind. Es gibt aber auch Mütter, die eine Bindungsstörung zum Kind haben und deren Kinder nicht bei ihnen leben – und auch diese Frauen können gute Mütter sein. Genau davon erzählt uns heute Jenny.

Liebe Jenny, du hast zwei Töchter, die 8 und 11 Jahre alt sind. Die Große lebt nicht bei dir, sondern bei ihrem Papa. Seit wann seid ihr getrennt?

Mein Ex-Mann und ich sind seit Ende 2015 getrennt. Um ganz ehrlich zu sein, lief es aber schon davor länger nicht mehr gut, denn mein Ex wurde sehr schnell laut, verletzend und beleidigend…

Unsere Tochter wurde Mitte 2013 geboren und nach der Geburt habe ich mich sehr alleine gefühlt. Eigentlich habe ich alles mit unserer Tochter alleine gemacht, weil mein Ex nicht da war, zudem war ich auch noch schnell wieder als Lehrerin tätig. Es war keine einfache Zeit und 2015 habe ich mich dann in der Schule einen Kollegen verliebt – in meinem heutigen Mann. Es wurde schnell sehr ernst, weil es sich einfach wunderbar anfühlte und ich verließ meinen damaligen Mann und zog mit unserer Tochter in eine kleine Wohnung.

Wie verlief die Trennung zwischen euch?

Die Trennung war sehr dramatisch. Mein Ex versuchte, sich das Leben zu nehmen und musste in die Psychiatrie. Meine Tochter entwickelte starke Wutausbrüche und ich war überfordert. Wohl aus Selbstschutz entwickelte ich einen emotionalen Abstand zu meinem Kind, mein Ex wütete im Hintergrund, dass er mich vernichtet, mir das Kind wegnimmt. Mein heutiger Mann unterstützte mich unglaublich und gab mir und uns viel Stabilität. Was damals noch nicht klar war: Ich habe eine bipolare Störung.

Nach der Trennung war eure Tochter also erstmal bei dir, richtig?

Genau, aber ich konnte im ersten Jahr meiner Mutterschaft keine gute und tiefe Bindung zu ihr aufbauen. Ich hatte selbst eine sehr schwere Kindheit und wurde Opfer von Missbrauch. Ich denke, dass das ein Grund dafür ist, dass es mir schwerfällt, Bindung zuzulassen. Außerdem ist meine Tochter meinem Ex sehr ähnlich, es ist nicht leicht, weil ich immer ihn in ihr sehe. Als unsere Tochter dann diese extremen Wutanfälle bekam, habe ich mir externe Hilfe geholt und es wurde zwischen uns eine Bindungsstörung diagnostiziert.

Wie ging es dann weiter?

2016 kam meine zweite Tochter auf die Welt, es ist das gemeinsame Kind von meinem heutigen Mann und mir. Zu ihr konnte ich sofort ein gutes Verhältnis aufbauen und ich hatte auch direkt Muttergefühle. Das hat mir gezeigt, dass ich also keine schlechte Mutter bin, sondern dass die Umstände eben auch wichtig sind.

2019 wurde ich sehr krank und musste länger ins Krankenhaus. Die Große kam in die Grundschule, es gab einige Probleme und wir hatten viele Termine beim Psychologen, beim Jugendamt. Ich habe gemerkt, dass ich es alleine nicht schaffe und dass es so auch nicht weitergehen kann.

2020 war dann klar, dass es besser wäre, wenn die Große zu ihrem Papa zieht. Wir haben uns alle an einen großen Tisch gesetzt und nach Lösungen gesucht. Mein Ex ist ein sehr guter Vater und hat sich auch immer gut um unsere Große gekümmert – auch wenn er zu mir gemein war und mich als schlechte Mutter bezeichnet hat – unserer Großen geht es gut bei ihm.

Kannst du dich noch an deine Gefühle erinnern, wie die erste Nacht für dich ohne die Große war?

Nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich habe ganz viel aus Selbstschutz verdrängt oder aus meinem Gedächtnis gelöscht. Aber auch heute ist es immer noch nicht einfach, wenn ich daran denke, dass sie nicht bei mir lebt. Ich denke dann, ich habe als Mutter versagt.

Wie oft siehst du deine Tochter und wie würdest du euer Verhältnis trotz Bindungsstörung beschreiben?

Ich sehe sie zwei- bis dreimal im Jahr in den Ferien. Gerade war sie zwei Wochen in den Herbstferien da und ich war neulich auch mal für vier Tage bei ihr. Mittlerweile ist sie 11 Jahre alt, unser Verhältnis ist gut, es klappt zwischen uns viel, viel besser als vorher. Trotzdem ist das bei mir mit den Gefühlen immer noch schwierig. Wenn ich sie umarme oder küsse, fühle ich meistens wenig oder gar nichts, obwohl ich das so sehr will. Das ist ganz schlimm für mich.

Hast du manchmal Angst, den Alltag zu verpassen und wie sehr bist du in alltägliche große und kleine Entscheidungen eingebunden?

Ich habe ständig innerlich Angst, alles von ihr zu verpassen… Ich frage mich dauernd, ob es ihr wirklich gut geht. Sie kommt gerade in die Pubertät, ich habe Angst, dass man ihr wehtut, Angst, dass sie selbst mit sich nicht klarkommt. Ich habe sehr viele Ängste, weil ich immer daran denken muss, wie es mir als Kind und Teenager ergangen ist…

In Entscheidungen bin ich oft mit eingebunden. So haben wir z.B. zusammen entschieden, dass unsere Tochter jetzt mit Eintritt in die 5. Klasse ein Handy bekommt. Wir stehen da ganz gut in Kommunikation, mittlerweile kann ich mit meinem Ex ohne Streit und ruhig reden. Er ist auch wieder verheiratet und hat auch noch ein Kind bekommen.  

Welche Reaktionen hast du schon erlebt, wenn du erzählst, dass deine Tochter beim Papa lebt?

Die Reaktionen sind oft heftig. „Ein Kind gehört doch zur Mutter“ oder „Wie kannst du dein Kind nur im Stich lassen…“ Nur die, die auch bereit sind, sich die ganze Geschichte anzuhören, haben Verständnis. Oder versuchen zumindest, Verständnis aufzubringen. Es ist sowieso schwierig, mit einer psychischen Erkrankung Verständnis und Gehör zu bekommen. Ich lache ja und lebe noch, also habe ich mich in den Augen der anderen auch gefälligst nicht so anzustellen, so schlimm kann die Krankheit ja nicht sein… Ich nehme es mittlerweile mit Humor, aber einfach ist es trotzdem nicht.

Du hast ja noch eine zweite Tochter – wie ist das Verhältnis zwischen den Schwestern?

Die Mädels verstehen sich super. Natürlich gibt es auch hier und da mal Zickereien. Aber sie haben sich sehr lieb und vermissen sich auch oft. 

Was denkst du, wie lange ihr dieses Modell so noch lebt? Wünschst du dir Veränderung?

Im Moment läuft alles sehr gut. Das Verhalten der Großen hat sich insgesamt gebessert, auch wenn es hier und da noch Schwierigkeiten gibt. Sie hat sich super in der neuen Heimat eingelebt, hat Freunde, nimmt am Vereinsleben teil. Sie ist jetzt auf die weiterführende Schule in die 5. Klasse gekommen, sogar auf ihre Wunschschule. Ihr schulischer Weg wird nicht einfach werden, sie hat ADHS, Legasthenie und eine Rechenschwäche. Wir werden sehen, wie das alles weiter geht.

An unserem Modell werden wir nichts verändern. Das geht auch bei mir nicht, da ich wegen meiner Krankheit oft außer Gefecht gesetzt bin… Ich wünsche mir für meine Große nur, dass sie ihren Weg geht. Dass sie einen Abschluss macht, danach eine Ausbildung. Eigentlich wünsche ich mir, dass alles gut weitergeht und ich mit allem gut klarkomme… 

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