Liebe Elisa – Du bist seit vier Jahren Bereitsschaftspflegemama. Erzähl doch erstmal was über Deine Familie.
Sehr gerne! Wir kommen aus NRW und leben in einer Patchwork-Großfamilie. Ich habe zwei Kinder im Teeniealter aus meiner ersten Ehe. Mein Mann und ich haben zwei gemeinsame Kinder im Grundschulalter. Mein Mann ist im IT Bereich tätig, ich selbst bin gelernte Rechtswanwaltsfachangestellte, aber seit vielen Jahren bei den Kindern zuhause.
Wie kam Dein Wunsch auf, Kindern durch eine Bereitsschaftspflege zu helfen?
Ich hatte schon als Teenager den Wunsch, Pflegemama zu werden. Ich kannte im näheren Umfeld zwei Kinder, die unter wirklich schlechten Bedingungen groß wurden. Das weckte in mir den Wunsch, "solchen" Kindern einmal die Möglichkeit zu geben, besser ins Leben zu starten.
Bis zu unserem ersten Pflegekind vergingen dann allerdings noch viele Jahre. Zuerst wollte ich meine eigene Familienplanung abgeschlossen haben. Und auch mein Mann musste zunächst davon überzeugt werden. Er fand den Gedanken, ein eigentlich fremdes Kind aufzunehmen zuersteinmal eher seltsam.
Wir haben uns dann eigentlich für Dauerpflege beworben. In die Bereitschaft sind wir dann eher durch Zufall gerutscht. Inzwischen habe ich diese Pflegeform allerdings lieben gelernt. Jeder Fall, jedes Kind, jedes leibliche Elternpaar ist eine neue Herausforderung und etwas Besonderes.
Welche Voraussetzungen musstet Ihr erfüllen, um Pflegeeltern zu werden?
Die Anforderungen, um Pflegeeltern zu werden, sind von Jugendamt zu Jugendamt unterschiedlich. Im Großen und Ganzen sollten die Rahmenbedingungen stimmen, man sollte also ein stabiles Umfeld haben und mit beiden Beinen im Leben stehen. In der Bereitschaftspflege muss ein Elternteil zuhause und verfügbar sein, weil die Kinder ja völlig überraschend kommen können. Finanziell muss man vom Pflegegeld unabhängig sein, das soll ausschließen, dass Kinder aus finanziellen Gründen aufgenommen werden. Es ist außerdem eine Schufaauskunft, ein polizeiliches Führungszeugnis und ein Attest vom Arzt notwendig.
Das Bewerberverfahren dauert ca 6 Monate. Man lernt viel über die Eigenarten von Pflegekindern, viele Kinder haben Probleme mit Traumata und Bindung. Darauf wird ein Hauptaugenmerk gelegt. Es gibt Krankheiten, wie FAS zB, die häufig bei Pflegekindern auftreten. Es finden einige Hausbesuche und Gespräche statt. In den meisten Fällen müssen die zukünftigen Pflegeeltern auch einen Lebensbericht über sich schreiben.
Kannst Du Dich noch an den Tag erinnern, als das erste Kind zu Euch kam?
Oh, natürlich. Das sind Momente, die man bei keinem Kind vergisst. Für den ersten Kindervorschlag kam meine Sachbearbeiterin zu mir nach Hause. Sie wollte gerne meinen Gesichtsausdruck dabei sehen. Ich war furchtbar nervös, es sollte tatsächlich nun losgehen.
Die Anfrage hatte sich zunächst zerschlagen, doch einen Tag später rief sie wieder an. Ich saß gerade im Auto. Sie sagte, ich solle rechts ran fahren, das Kind würde nun doch kommen, ob sie in einer Stunde bei mir sein könne. Ich weiß bis heute nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich war wie in Trance.
Als sie mit dem drei Wochen alten Baby hier ankam, stellte sie den Autositz im Wohnzimmer ab und ging kurz zur Toilette. Ich weiß noch, dass ich das Baby anschaute und dachte "So, du bist nun also erstmal mein Baby". Das war völlig surreal.
Kannst du ein bisschen was über das Kind erzählen?
Das Baby kam zunächst zu uns, weil seine Mama das Hilfsangebot, mit dem Kind in ein Mutter-Kind-Heim zu gehen, nicht angenommen hatte. Das Baby war in einem guten Zustand, wurde auch durch eine Familienhebamme betreut. Glücklicherweise ergab sich eine schnelle Lösung und das Baby konnte nach nur wenigen Wochen zum leiblichen Papa ziehen, wo es auch heute noch lebt.
Wie war der Abschied von dem Kind? Wie bereitet man sich darauf vor und wie fühlt man sich danach?
Damals, als das Baby wieder hier abgeholt wurde, dachte ich, es sei ungerecht, dass die Welt sich einfach so weiter dreht. Ich war überfordert damit, wie schnell man ein fremdes Baby lieben lernt und wie weh es tut, es wieder gehen lassen zu müssen. Auch wenn wir ein wirklich gutes Gefühl hatten und wussten, dass das Baby es bei dem leiblichen Papa gut haben würde. Das erleichtert den Abschied ein wenig.
Man packt dem Kind bereits im Vorfeld Sachen zusammen. Alle "meine" Kinder nehmen ihre persönlichen Sachen mit in ihr neues Zuhause. Die Lieblingsspielsachen, Kleidung, Kuscheltiere, Windeln, Nahrung, gewohnte Flaschen und Schnuller. Zudem machen wir jedem Kind ein Fotoalbum aus der Zeit bei uns. Das alles bereitet einen ein wenig auf den Abschied vor, trotzdem ist es jedes Mal wieder schlimm, wenn der Tag dann gekommen ist.
Seitdem hast du noch zwei Kinder aufgenommen…
Das zweite Kind war ein dreijähriges Kleinkind. Ich lernte das Kind damals im Jugendamt kennen. Währenddessen wurde der Mutter im Nebenraum gesagt, dass sie aus dem Mutter-Kind-Heim ausziehen muss und das Kind in eine Pflegefamilie muss.
Ich bin selbst Mutter und diese Situation hat mir sehr zu schaffen gemacht. Ich weiß noch, dass ich in den Raum kam, in dem das Kind mit der Sozialarbeiterin saß, und dachte, dass das Kind gar nicht so aussieht, wie ich es mir anhand des Namens vorgestellt hatte.
Als ich das Kind beim Spielen beobachtete, machte sich eine große Trauer bei mir breit. Mein jüngster Sohn war damals im gleichen Alter und doch hatten diese beiden Kinder überhaupt nichts gemeinsam. Der Blick dieses Kindes hatte überhaupt nichts kindliches mehr, es erinnerte mich eher an ein Tier auf der Flucht, es wirkte sehr gehetzt. Dazu völlig verfilzte Haare, zu kleine und schmutzige Kleidung. Sommerschuhe bei Minusgraden.
Zuhause in der Badewanne war ich erschrocken darüber, wie dünn das Kind war. Es machte mich traurig, dass es ohne mit der Wimper zu zucken mit mir mit gegangen war und mich sofort "Mama" nannte. Was nämlich so romantisch klingt, ist leider ein Anzeichen dafür, dass diese kleine Seele schon ganz viel mitgemacht hat und das Kind überhaupt nicht wirklich weiß, wohin es gehört.
Unser drittes Mäuschen ist schon zum zweiten Mal bei uns. Als fast noch Neugeborenes kam es zum ersten Mal zu uns, für nur wenige Tage. Dann stabilisierte sich die leibliche Mama zunächst und das Baby konnte wieder zurück. Doch nach sechs Wochen klingelte mein Telefon wieder, ob ich das Kind wieder nehmen könnte.
Das Kind war zwar in einem körperlich guten Zustand, aber es schrie fast nonstop. Es schlief kaum, wollte viel getragen werden, konnte gleichzeitig aber keine Nähe ertragen. Dieses Kind war seelisch belastet. Die ersten Wochen waren schwer. Wir begleiten dieses Kind jetzt seit fast zwei Jahren.
Welche Rechte und Pflichten hat man als Bereitschaftseltern?
Als Bereitschaftspflege hat man viel weniger Rechte als in der Dauerpflege. Als Dauerpflegeeltern hat man die sogenannte "Alltagssorge" und darf die Dinge des alltäglichen Lebens entscheiden. Als Bereitschaft darf ich viele Dinge, die einem als normal erscheinen, nur nach Absprache mit den Eltern machen. Selbst Haare schneiden gehört dazu.
Wenn das Kind zum Arzt muss, darf ich nur medizinisch notwendige Untersuchungen machen lassen. Kein Röntgen, kein Impfen und jegliche Medikamente nur auf ärztliche Anweisung. Ich muss das Kind für die Besuche bei den Eltern bereitstellen. Es also hinfahren, ggf dort bleiben und auch wieder abholen. Bei Bereitschaft sind 1-3 Besuche in der Woche üblich.
Zudem werden wir monatlich vom Jugendamt kontrolliert. Die zuständige Sachbearbeiterin kommt zum Hausbesuch und schaut sich Kind und Umfeld an, fragt nach der Entwicklung und Auffälligkeiten.
Da die Kinder nicht unsere Kinder sind, sind wir den Kindern gegenüber nicht unterhaltspflichtig. Dieser wird vom Jugendamt getragen. Zudem bekommen wir eine sogenannte "Aufwandsentschädigung". Wie hoch diese ausfällt und auch eventuelle Zusatzleistungen wie Urlaubs- oder Bekleidungsgeld, ist leider wiedermal von Amt zu Amt unterschiedlich.
Was ist das Schönste und was das Schwerste an der Bereitschafts-Pflege?
Ich hatte vorhin von unserem Dreijährigen erzählt und von dem Gefühl, das Kind hätte auf mich wie ein gehetztes Tier gewirkt. Der Moment, in dem das Kind lachte, und dieses Lachen seine Augen erreichte, war einer der schönsten Momente der letzten vier Jahre.
Ein anderer Moment war, wo eben dieses Kind, das wirklich mit vielen schweren Ängsten belastet war, das erste Mal Körperkontakt nicht nur ertrug, sondern selbst einforderte und genießen konnte. Es gibt so viele solch wunderbarer Momente, wenn man merkt, dass unsere Arbeit Früchte trägt und die Kinder aufblühen. Wenn sie lernen, Vertrauen zu fassen, sich fallen lassen und endlich anfangen, einfach Kind zu sein.
Man könnte denken, der Abschied zu den Kindern wäre das Schwerste. Doch das ist er nicht. Es gibt so viele Dinge, die man den Kindern zumuten muss, die einem in der Seele weh tun. Dazu gehören manchmal auch Besuche der leiblichen Eltern, die in den Kindern schlimme Erinnerungen auslösen.
Die Kinder werden dann mit ihren Traumata konfrontiert und man muss mit ansehen, wie sie leiden. Aber es sind einem die Hände gebunden. Man möchte diesen kleinen Menschen beschützen, aber man darf nicht. Das ist manchmal wirklich schwer auszuhalten.
Wie finden es Deine leiblichen Kinder, dass immet wieder Pflegekinder bei Euch leben? Gibt es da auch Eifersucht?
Meine Kinder finden es im Prinzip super, dass wir Pflegekinder aufnehmen. Als wir das dreijährige Kind hatten, gab es schon sehr oft Probleme. Meine Kinder waren damals auch noch recht klein und dieses Kind sprengte leider alles. Es ist manchmal schon schwer für sie, zu verstehen, dass diese Kinder besonders sind.
Dass diese Kinder andere Anforderungen haben. Dass sie oft nicht abwarten können oder volle Aufmerksamkeit brauchen, dass sie viele Ängste ausstehen, die meine Kinder gar nicht kennen.
Ein Kind, das zB nie gelernt hat, regelmäßig zu Essen zu bekommen, wird nicht so schnell verstehen, dass es "bald" etwas gibt. Und es weiß auch nicht, dass es nach diesem Essen noch etwas geben wird im Laufe des Tages. Also bunkern sie Essen, sie klauen Essen, sie verlangen permanent Essen.
Da mussten meine Kinder schon oft zurück stecken und manchmal glaube ich, dass es ihnen gegenüber nicht ganz fair ist. Trotzdem entscheiden sich bisher alle nach jedem Kind dafür, ein weiteres aufzunehmen. Das ist nämlich etwas, was wir immer zusammen besprechen.
Schwer ist es für sie, zu verstehen, dass es nur Kinder auf Zeit sind. Aktuell ist "unser" Kind seit fast zwei Jahren hier. Da gehört das Kind einfach zur Familie, ist wie ein Geschwisterkind. Dann gerät oft in Vergessenheit, dass irgendwann der Abschied kommen wird.
Was hast du in den letzten vier Jahren über dich durch deine Arbeit gelernt?
Ich habe über mich gelernt, dass ich viel stärker bin, als ich geglaubt habe. Ich habe gelernt, meine Stimme zu erheben für Themen, die mir wichtig sind. Man lernt notgedrungen, dass wir manchmal die einzige Stimme sind, die diese Kinder haben.
Und ich habe gelernt, dass das meine Berufung ist. Ich ärgere mich oft, gehe oft an meine Grenzen und darüber hinaus. Aber jeder einzelne Tag der letzten vier Jahre war es wert. Das, was wir den Kindern in der Zeit bei uns mitgeben, kann ihnen niemand mehr nehmen, egal wohin ihr Weg sie führt.
—–WICHTIGER HINWEIS: Wer die Arbeit von Bereitsschaftspflege-Familien unterstützen will, sollte diese Petition unterschrieben (KLICK HIER) In der Petition wird eine schnellere Bearbeitung der Jugendämter gefordert, um traumatisierten Kindern schneller zu helfen.
2 comments
Ganz super finde ich dass!! Und so wichtig , erst kürzlich habe ich eine Doku darüber gesehen und gedacht „schade dass mir als Kind keiner geholfen hat „ und ich bleiben musste in meiner Familie….in den 80er gab es dass wohl nicht. Weiterhin viel Erfolg
Respekt
Meinen größten Respekt für solch eine mutige Entscheidung, anderen in Notsituationen zu helfen! Ich finde das wunderbar.
Ein befreundetes Ehepaar stellt sich auch als Bereitschaftspflegefamilie zur Verfügung. Ich bin sehr gespannt wie alles so läuft.
Liebe Grüße Mia