Bei den Taliban in Afghanistan: „Als Frau bloß nicht provozieren“

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Ihr Lieben, vor fast einem Jahr erschütterten die Bilder aus Afghanistan die ganze Welt. Der völlig überfüllte Flughafen von Kabul, panische Menschen, die versuchten, in die Evakuierungs-Maschinen zu gelangen, schreiende Kinder, Männer, die Taliban-Flaggen schwenkten.

Es gab viel Kritik an der damaligen deutschen Regierung, dass nicht genug dafür getan wurde, ehemalige Ortskräfte in Sicherheit zu bringen. Um nicht tatenlos zuzusehen, gründete eine Gruppe von Journalist*innen und Aktivist*innen die „Kabul Luftbrücke“, um gefährdete Afghan*innen nach Deutschland zu evakuieren. Bis heute arbeiten Team ins Pakistan, Afghanistan und Deutschland daran, gefährdete Menschen außer Landes zu bringen.

Die Journalistin Vanessa Schlesier hat die Arbeit der Kabul Luftbrücke mit der Kamera begleitet – herausgekommen ist eine berührende, wichtige, aufrüttelnde vierteilige Doku, die ihr ab heute in der ARD Mediathek ansehen könnt. Wir kennen Vanessa persönlich, verfolgen ihre journalistische Arbeit schon viele Jahre und sind von ihrem Können und ihrem Einsatz beeindruckt.

Euch allen möchten wir die Dokumentation wirklich ans Herz legen, damit die Schicksale der Menschen aus Afghanistan nicht vergessen werden. Danke an dich, Vanessa, für deine Arbeit und für dieses Interview:

VNESSA
Foto: privat

Liebe Vanessa, vor fast einem Jahr hat das Taliban-Regime in Afghanistan die Macht übernommen. Du warst schon mehrmals in Afghanistan. Kannst du beschreiben, sie sich die Situation/Stimmung in dem letzten Jahr dort verändert hat?

Ich glaube, am besten lässt sich das anhand einer jungen Frau beschreiben, die ich jetzt mal, um sie zu schützen, Fahima nenne. Fahima war Volleyballspielerin, ein superaktives junges Mädchen mit einem großen Freundeskreis, das im alten Kabul ständig auf Veranstaltungen, Wettkämpfen oder in der Uni unterwegs war. Ich habe sie im November 2021 kennengelernt, drei Monate nach der Machtübernahme der Taliban. In diesen drei Monaten hatte sie das Haus zwei Mal verlassen. Damals gab es noch keine konkreten Verbote, aber die Menschen, vor allem die Frauen, hatten große Angst. Sie war wie in einer Schockstarre, besorgt und verunsichert, weil sie nicht wusste, was die Zukunft bringt. 

Im Februar habe ich sie dann wiedergesehen. Sie wirkte unglaublich traurig und antriebslos. Fahima erzählte mir, dass sie kaum noch aus dem Bett kommt, nur noch mit Schlafmitteln einschlafen kann, den ganzen Tag nichts macht, außer vielleicht Filme schauen oder vielleicht mal ein Buch lesen. In dieser Zeit, Putin hatte gerade die Ukraine angegriffen und kaum einer schaute mehr nach Afghanistan, starteten die Taliban mit einer Großoffensive, durchsuchten jedes Haus, alle paar Kilometer gab es einen Checkpoint. Auf den Straßen fühlte sich das einigermaßen dramatisch an, Fahima ließ es total kalt. Ich habe mir große Sorgen gemacht.

Und das zu Recht….

Ja, Ende Mai, ich war erneut in Kabul, hatten die Taliban schon viele Dekrete erlassen, die den Frauen im Endeffekt fast alle Rechte nehmen. Sie müssen sich komplett verhüllen, nun auch das Gesicht verhängen und – das meiner Meinung nach abscheulichste Dekret: Männer haften für ihre Frauen. Wenn Frauen gegen die Dekrete verstoßen, werden nicht etwa sie selbst zur Rechenschaft gezogen, sondern die für sie zuständigen Männer. Frauen werden zum Eigentum ihrer Brüder, Väter, Ehemänner.  

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Und wie geht es Fahima?

Sie hat sich wieder gefangen und ist in den Untergrund gegangen. Bei unserem Treffen strahlte sie und erzählte mir, dass sie ein bis zweimal pro Woche mit ihren alten Freunden Volleyball spielt – Jungs und Mädchen, an einem Ort, mit Kopftuch oder ohne, so wie sie es wollen. 

Ich glaube, vielen geht es ähnlich wie Fahima, die zum einen versucht mit der Situation vor Ort umzugehen, um nicht verrückt zu werden. Gleichzeitig unternimmt sie alles Mögliche, um das Land zu verlassen. Und das ist nach wie vor sehr, sehr schwer. 

Du bist Journalistin, heute läuft der erste Teil eurer dokumentarischen Serie „Mission: Kabul-Luftbrücke“. In welcher Verbindung stehst du zu dem Team der Luftbrücke und warum wolltest du diese Serie unbedingt machen? 

Ich wollte mit meiner Kollegin Theresa Breuer im September 2021 für zwei Wochen nach Kabul, um 20 Jahre nach 9/11 von dort zu berichten. Wie alle dachten wir, dass wir noch Zeit haben, bevor die Taliban die Stadt erobern. Und dann war es auf einmal der 15. August und Kabul fiel. Wir haben in den Folgewochen alles darangesetzt, Kollegen und Freunde rauszuholen und recht schnell wurde klar – das ist Zeitgeschichte, was da gerade passiert. Also habe ich angefangen, das zu dokumentieren.

Als wir mit der Serie begonnen habe, habe ich dann einen Rollenwechsel vollzogen und mich komplett auf das Dokumentieren zurückgezogen. Zusammen mit meinen Co-Autor*innen Antje Boehmert und Ronald Rist, wollte ich zeigen, was es bedeutet, ein Land verlassen zu müssen, wie schmerzhaft es ist, wenn man gezwungen ist, zu fliehen. Ich bin unseren Protagonisten sehr dankbar, dass ich von Anfang bis Ende dabei sein durfte und diese sehr besonderen Momente filmen durfte. 

Viele Mitglieder des Teams sind Frauen – wie war die Arbeit für euch westliche Frauen speziell vor Ort? Wie reagieren die Taliban?

In Afghanistan tragen wir Abaya, ein langes Gewand, das bis zu den Füßen reicht und Kopftuch, zuletzt auch Gesichtsmaske, und zwar weniger wegen Corona, sondern tatsächlich, um niemanden zu provozieren. Die Taliban haben, wie oben schon erwähnt, die Frauenrechte in den vergangenen Monaten massiv eingeschränkt. Westliche Journalistinnen können nach wie vor arbeiten, vorausgesetzt sie haben eine Arbeitserlaubnis, einen Brief des Außenministeriums.

Ich habe in Afghanistan ausschließlich mit männlichen lokalen Producern und Übersetzern zusammengearbeitet. Wenn ich also an einen Talib gerate, der nicht mit einer Frau reden möchte, was durchaus passiert, dann redet er eben mit meinem Übersetzer. 

Ich habe ja bereits von dem ‚Männer haften für ihre Frauen‘-Dekret erzählt. Das gilt auch für uns. Ich habe beispielsweise einen Frauenprotest gefilmt, der nach wenigen Minuten von Taliban-Sicherheitskräften aufgelöst wurde. Die sind mit ihrem Gewehr als Schlagstock auf meinen Übersetzer losgegangen, weil ich gefilmt habe. Eine andere Kollegin saß im Taxi mit ihrem Übersetzer nebeneinander auf der Rückbank. Der Übersetzer wurde an einem Checkpoint aus dem Auto gezerrt und geschlagen. 

Aber es kommen auch sehr viele Talibs auf meinen Übersetzer zu und sind neugierig. ‚Wie, sie spricht kein paschtu?‘, kommt dann ungläubig zurück. Es zeigt, dass das Verständnis der Welt außerhalb der sehr begrenzten eigenen Räume sehr gering ist. 

Gab es eine Situation während der Dreharbeiten, die richtig brenzlich war?

Das war dieser Frauenprotest: nach der Demonstration hat der Geheimdienst meinen Übersetzer und mich für eine gute halbe Stunde verfolgt, parallel haben wir erfahren, dass eine Kollegin unter Hausarrest gestellt wurde. 

Du hast viele Schicksale/Menschen in Afghanistan kennengelernt. Gab es jemand, der dich ganz besonders berührt hat?

Oh ja, mehrere, eigentlich all unsere Protagonisten. Ich habe enge Beziehungen zu ihnen allen aufgebaut, sonst wäre es glaub ich nicht möglich gewesen, bei solchen intimen Momenten dabei zu sein. 

Aber ja, es gibt den einen Fall, der für mich besonders bewegt. Wir begleiten fünf Kinder von Kabul nach Pakistan, deren Mutter und ältere Schwester bereits in Deutschland sind. Sie wurden vor einigen Jahren bei einem Fluchtversuch getrennt. Als ich sie das erste Mal sah, haben sie in einem Keller gewohnt, im November Sandalen getragen und waren unglaublich verängstigt. Mittlerweile leben sie in einem Haus der Kabul-Luftbrücke in Islamabad. Doch leider warten sie seit acht Monaten auf ihr Visum für Deutschland. Ich kann den Tag nicht erwarten, wenn ich sie endlich vom Flughafen abholen darf.    

Noch immer harren viele, viele Ortskräfte in Afghanistan aus. Vor einem Jahr war die Empörung darüber groß, mittlerweile sind ihre Schicksale fast in Vergessenheit geraten. Wie kann man diesen Menschen helfen? Was kann ich jetzt tun, wenn ich helfen will?

Sicherlich hilft es, zu spenden – an eine der vielen NGOs, die sich für die gefährdeten Menschen in Afghanistan einsetzen. Es geht ja nicht nur darum, dass Menschen das Land verlassen können, es geht vor allem auch um Hilfe für die, die bleiben möchten. Da gibt es viele Initiativen und die sind leicht zu googeln.

In der Serie wird die Geschichte einer Familie erzählt, deren Vater angeschossen wird. Wie geht es der Familie heute? Wo lebt sie? 

Die Familie lebt in Berlin und es freut mich sehr, sagen zu können, dass sie sich wirklich gut eingelebt haben. Sie haben viele Arzttermine, aber die Verletzung verheilt gut, die Kinder gehen zur Schule, sprechen langsam Deutsch, vor allen Dingen die Kleine. Und es wird sehr viel gelacht bei ihnen zuhause. 

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Key Visual Mission Kabul Luftbruecke
HIER klicken, dann findet Ihr die vierteilige DOKU

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3 comments

  1. Dem stimme ich zu. Ich lese hier seit Jahren mit und meistens wird Kindergedöns thematisiert. Ich habe zwei kleine Kinder zu Hause und freue mich, wenn Themen von starken Frauen aus anderen Bereichen als der Familie lesen kann. Sehr inspirierend. Wir sind nicht nur Mütter sondern vorrangig Frauen.

  2. Ich freue mich, hier etwas zu lesen, dass über den eigenen Tellerrand von uns als Mütter hinausgeht…wir dürfen uns mit den Kinderthemen auch nicht so festlegen lassen, denke ich manchmal..

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