Beckenbodenschäden: Offener Brief von betroffenen Frauen

Beckenbodenschäden

Foto: pixabay

Ihr Lieben, heute morgen habt ihr den Gastbeitrag von Martina Lenzen-Schulte gelesen, zum gleichen Thema haben sich einige betroffene Frauen zusammengetan, um unserem Gesundheitsminister einen offenen Brief zu schreiben. Sie möchten noch anonym bleiben, bis ihr Verein gegründet ist, wer Kontakt aufnehmen mag, kann das unter geburtstrauma@web.de tun. Hier kommt ihr Brief:

Sehr geehrter Herr Professor Lauterbach,

das diagnosebezogene Fallpauschalensystem (DRG) in den Krankenhäusern soll zeitnah reformiert werden. Dies haben Sie im Rahmen des Krankenhauskongresses DRG-Forum 2022 angekündigt. Die kommenden Schwerpunkte werde man gemeinsam mit der noch einzusetzenden Reformkommission insbesondere auf die Bereiche Pädiatrie und Geburtshilfe legen.

Die Reformierung der Geburtshilfe inklusive der peri- und postnatalen medizinischen Versorgung ist auch unser Anliegen, weshalb wir uns heute mit diesem Brief an Sie wenden.

Wir sind Frauen, die selbst von Beckenbodenschäden betroffen sind

Wir sind Frauen, die selbst von Beckenbodenschäden betroffen sind. Leider finden Beckenbodenschäden, die zumeist irreversibel und sehr häufig nur mit ungenügendem Outcome operabel sind und deren gravierenden Folgen für die betroffenen Frauen wenig Beachtung in der Diskussion über die Verbesserung der Geburtshilfe. Dabei betrifft die Problematik mindestens die Hälfte der vaginal entbindenden Frauen.

Schätzungsweise 50 % aller Frauen, die jemals vaginal entbunden haben, erleiden im Laufe ihres Lebens eine Gebärmuttersenkung, ca. 20% der Frauen werden deshalb operiert, viele sogar mehrmals. Hinzukommen weitere Operationen bei Harn- und Stuhlinkontinenz. Höchstrangig publizierte Studien (NEJM) sowie Metaanalysen zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen der vaginalen Entbindung und dem Auftreten von Organsenkungen (Gebärmutter, Scheide, Harnblase sowie Mast- und Enddarm) sowie der Harn- und Stuhlinkontinenz.

Kaum Beachtung von Muskel- und Nervenschäden

Muskel- und Nervenschäden durch die vaginale Entbindung finden in der Klinik und in der Wissenschaft kaum Beachtung, obwohl auch sie häufig sind. Es findet sich in Berichten von Betroffenen ein vermehrtes Auftreten stark ausgeprägter Beckenbodenverletzungen inklusive Nervenschädigungen nach vaginalen Geburten, bei denen durch Wehenförderung, operatives Vorgehen (Forzeps- & Vakuumentbindung,) und den sogenannten Kristeller-Griff (physikalische Druckausübung auf den Bauch der Gebärenden) Einfluss genommen wurde.

Beckenbodenschäden haben weitreichende biopsychosoziale Konsequenzen, die bis hin zu Erwerbsunfähigkeit bzw. Berentung und Schwerbehinderung reichen. Neben einer Minderung von Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, können Beckenbodenschäden auch zu sozialer Isolation und dem Entstehen von psychischen Störungen wie z.B. Depression oder Traumafolgestörungen führen. Auch die Sexualität und Paarbeziehung von betroffenen Frauen leiden unter den Beckenbodenschäden. Im Alltag sind viele Betroffene massiv eingeschränkt; aufgrund von Belastungsinkontinenz haben sie die Freude an sportlicher Aktivität verloren.

Geburtsrisiken: Mehr Aufklärung für schawangere Frauen

Eine Aufklärung schwangerer Frauen über die Risiken einer vaginalen Entbindung ist in Deutschland bisher nicht gesetzlich-verpflichtend und wird in medizinischen Leitlinien nicht explizit empfohlen. Gebärende werden bisher nicht über irreversible, nur begrenzt therapierbare Schäden durch die vaginale Geburt regelhaft aufgeklärt.

Die Autoren der deutschsprachigen Leitlinie „Die Sectio caesarea“ sehen es als gesichert, „dass eine Kaiserschnittrate über 15 % keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte“. Allerdings werden dabei ausschließlich Studien zitiert, die sich mit Akutkomplikationen befassen. Langzeitergebnisse in Bezug auf Beckenbodenschäden und die mütterliche Lebensqualität fließen in die Überlegungen nicht ein. Auch befindet sich unter den Leitlinienautoren kein einziger Urogynäkologe, der die Auswirkungen der vaginalen Entbindung auf den Beckenboden beurteilen kann.

Verschweigen von Beckenbodenschäden durch vaginale Entbindung

Die Leitlinienautoren empfehlen, dass mit einer Schwangeren, die den Wunsch nach einem Kaiserschnitt äußert, „Risiken und Nutzen der Sectio im Vergleich zur vaginalen Geburt“ besprochen werden. Viele von uns Frauen, die von einem Beckenbodenschaden betroffen sind, haben den Wunsch nach einem Kaiserschnitt im Rahmen der Geburtsplanung geäußert. Hauptgründe hierfür waren das hohe mütterliche Alter bei der (ersten) Geburt, eine Terminüberschreitung der Schwangerschaft, postpartale Inkontinenz in der Familiengeschichte und Übergewicht der Schwangeren, Angst vor der Geburt und möglichen Folgeschäden (physisch & psychisch), Gewalterfahrungen in der Vorgeschichte und psychische Vorerkrankungen.

Wir haben ausnahmslos die Erfahrung gemacht, dass nicht über mögliche Beckenbodenschäden als Folge der vaginalen Entbindung aufgeklärt wurde, auch nicht bei den Frauen, die nach Erscheinen der Leitlinie entbunden haben. Sprach eine schwangere Frau von sich aus die möglichen Folgeschäden an, so wurde immer versucht ein Zusammenhang zwischen Beckenbodenschäden und vaginaler Entbindung zu negieren oder die Symptomatik zu bagatellisieren. Oftmals wurde den Frauen gesagt, die Schwangerschaft selbst wäre ursächlich für die entstandene Symptomatik.

Gezielte Desinformation zu Kaiserschnitten?

Die Leitlinienempfehlungen werden weiterhin von geburtshilflich tätigen Ärzten so aufgefasst, dass eine Aufklärung über die Risiken einer vaginalen Entbindung nicht notwendig ist. Eine individuelle Risikostratifizierung wird von vielen Gynäkologen abgelehnt und wird in den deutschen Leitlinien nicht aufgeführt. Im Gegensatz dazu empfiehlt die amerikanische Fachgesellschaft (American Congress of Obstetricians and Gynecologists, ACOG), dass bei einer Schwangeren mit dem Wunsch nach einem Kaiserschnitt individuelle Risikofaktoren wie Alter, Body-Mass-Index, Genauigkeit des geschätzten Gestationsalters, Fortpflanzungspläne, persönliche Werte und der kulturelle Kontext bei der Entscheidungsfindung sowie kritische Lebenserfahrungen (z. B. Trauma, Gewalt oder schlechte geburtshilfliche Ergebnisse) zu berücksichtigen sind.

In wissenschaftlichen Artikeln sowie in den Medien wird von Gynäkologen und Hebammen und insbesondere seitens der DGGG häufig ein sehr negatives Bild vom Kaiserschnitt aufgezeigt und vor dessen Langzeitfolgen für Mutter und Kind gewarnt. Gleichzeitig werden die Langzeitfolgen für den Beckenboden der Mutter in der öffentlichen Diskussion fast immer verschwiegen. Wir haben den Eindruck, dass hier eine gezielte Desinformation durchgeführt wird, mit dem Ziel, in der Gesellschaft ein negatives Bild des Kaiserschnitts zu implementieren.

Das Bagatellisieren von Beckenbodenschäden macht uns wütend

Das unentwegte Bagatellisieren von Beckenbodenschäden oder die Darstellung als schicksalhafte Einzelfälle machen uns wütend und traurig. Wir haben das Vertrauen in das Gesundheitssystem und in die Aufrichtigkeit von Hebammen und Gynäkologen verloren.

Das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet unser Grundgesetz. Hierin wird in Artikel 1 die Würde des Menschen genannt, Artikel 2 beschreibt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit. Übertragen auf die Geburtshilfe bedeutet das, dass jeder Schwangeren eine selbstbestimmte Geburt ermöglicht werden soll, insbesondere sofern es keine dringliche medizinische Indikation gibt, die ein ärztliches oder geburtshilfliches Eingreifen erfordert. Eigene Wertevorstellungen der Geburtshelfer und Gynäkologen oder gesellschaftliche Normen dürfen dabei keine Rolle spielen.

Bitte keine Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess!

Das Vorenthalten von Informationen, die eine Schwangere zur Entscheidungsfindung braucht sowie eine Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess, ist eine Form der Gewalt gegen Frauen und beschneidet sie in ihren Grundrechten. Körper und Geist der Schwangeren dürfen kein Politikum sein. Das Recht einer Frau auf Selbstbestimmung hat Priorität vor allen Bemühungen zur Senkung der Kaiserschnittrate.

Aus diesem Grund fordern wir:

  • Anerkennung, dass Komplikationen der vaginalen Entbindung Frauen in ihrer körperlichen und sexuellen Integrität sowie in ihrer Lebensqualität und psychischen Gesundheit maßgeblich beeinflussen;
  • Anerkennung, dass Beckenbodenschäden infolge einer vaginalen Entbindung keine schicksalhaften Einzelfälle sind, sondern sehr viele Frauen betreffen ;
  • Anerkennung, dass das derzeitige Wissen über Folgen eines Wunschkaiserschnitts gering ist und dass es nur sehr schlechte Evidenz über mögliche mütterliche und kindliche Langzeitfolgen gibt. Das bedeutet auch, dass es möglich ist, dass ein Wunschkaiserschnitt komplikationsärmer und auf lange Sicht besser für Mutter und Kind ist;
  • Anerkennung, dass einseitige Information über Risiken des Kaiserschnitts bei gleichzeitigem Nicht-Aufklären über Risiken der vaginalen Entbindung ein Akt der Gewalt gegen Frauen ist;
  • Anerkennung, dass die Verweigerung eines Kaiserschnitts als Entbindungsmodus auf Wunsch der Schwangeren ein Akt der Gewalt gegen Frauen ist;
  • Anerkennung, dass Überreden oder Drängen einer Schwangeren zur vaginalen Entbindung ein Akt der Gewalt gegen Frauen ist und sie in ihrer Selbstbestimmung einschränkt;
  • Anerkennung, dass ein Hinauszögern eines sekundären Kaiserschnitts und das verzögerte Hinzuziehen eines ärztlichen Geburtshelfers durch Hebammen ein Akt der Gewalt gegen Frauen ist, wenn eine Schwangere den Wunsch nach einem Kaiserschnitt oder nach ärztlicher Betreuung äußert;
  • Anerkennung, dass das politische Ziel der Senkung der Kaiserschnittrate in letzter Konsequenz Frauen in ihrer Selbstbestimmung und Freiheit einschränkt;
  • Gesetzliche Verankerung des Rechts auf die freie Wahl des Geburtsmodus und die Durchführung eines Kaiserschnitts auf Wunsch einer Schwangeren;
  • Priorisierung der Vermeidung von Beckenbodenschäden als Ziel und  Qualitätsparameter in der Geburtshilfe. Das beinhaltet eine Senkung der Häufigkeit von vaginal-operativen Entbindungsformen mit Geburtszange und Saugglocke und den vorsichtigen Umgang mit wehenfördernden Mitteln;
  • Einführung eines verpflichtenden Angebots für jede Schwangere, eine unvoreingenommene und sachliche Aufklärung über die verschiedenen Geburtsmodi sowie deren jeweiligen Risiken, beispielsweise im Rahmen eines Geburtsplanungsgesprächs. Das beinhaltet explizit auch eine Aufklärung über die Risiken einer vaginalen Entbindung. Besteht keine medizinische Indikation, bei dem ein bestimmter Geburtsmodus vorzuziehen ist, muss die Aufklärung und Beratung nicht-direktiv erfolgen.
  • Einführung einer individuellen Risikostratifizierung im Hinblick auf Nutzen-und Risiken eines Kaiserschnitts. Parameter wie das Alter der Schwangeren, der Body-Mass-Index, das Gestationsalter, die Genauigkeit des geschätzten Gestationsalters, Fortpflanzungspläne, persönliche Werte, psychiatrische Vorerkrankungen, kritische Lebensereignisse der Schwangeren müssen bei der Beratung und Entscheidungsfindung des Geburtsmodus mit einfließen. Eine vaginale Entbindung darf nicht pauschal als optimaler Entbindungsmodus für jede Frau gesehen werden.
  • Etablierung einer standardisierten Nachsorge im Hinblick auf Beckenbodenschäden in Form einer verpflichtenden Untersuchung auf Schließmuskeldefekte nach der Entbindung sowie gezielter Abfrage nach Symptomen wie Harn- und Stuhlinkontinenz sowie Harn- und Stuhlentleerungsstörungen sowie Muskeldefekte und Organsenkungen;
  • Standardisierte proktologische Untersuchung bei Frauen, die vaginal-operativ entbunden haben oder die Zeichen einer Stuhlinkontinenz bzw. -entleerungsstörung aufweisen. Eine schnelle Behandlung ist im Falle einer Sphinkterläsion prognoseentscheidend;
  • Miteinbezug von psychologischen und/oder ärztlichen Psychotherapeuten in die politische und wissenschaftliche Diskussion zur Optimierung der Geburtshilfe. Untersuchungen, wie sich z.B. die Gabe von wehenfördernden Mitteln und Gewalterfahrungen (psychisch und physisch) unter der Geburt auf die postpartale psychische Gesundheit auswirkt;
  • Bessere Information und Vorbereitung der Schwangeren auf die Entbindung, z.B. durch Standardisierung und das Einbringen von evidenzbasierten Informationen in Geburtsvorbereitungskursen, bei denen ein realistisches Bild der Entbindung vermittelt wird und Risiken offen angesprochen werden;
  • Förderung einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion über die Ziele der Geburtshilfe;
  • Verpflichtende Auseinandersetzung mit den Themen Beckenbodenschäden infolge der Geburt, Patientenautonomie und Selbstbestimmungsrecht, sowie Ausübung von Gewalt durch medizinisches Personal im Studiengang Hebammenwissenschaften und in der Facharztausbildung Gynäkologie und Geburtshilfe.

Wir möchten Sie bitten, mit uns ins Gespräch zu kommen, uns anzuhören und uns wahrzunehmen, damit die Zukunft der Geburtshilfe auch schwangerenorientiert verändert werden kann.

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22 comments

  1. Ich finde es gut und wichtig, dass für diese Themen eine Öffentlichkeit geschaffen wird. Wer hier Werbung für Kaiserschnitte wittert, der muss aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Alltag keine entbindungsbedingte Stuhlinkontinenz mitberücksichtigen oder sich mit der Frage beschäftigen, ob man körperliche Beeinträchtigungen weiter in Kauf nimmt oder sich womöglich einer größeren OP unterzieht.
    Es gibt erwiesene Risikofaktoren für höhergradige Dammrisse und Beckenbodenschäden unter der sogenannten „natürlichen Geburt“ (übrigens auch ganz ohne dass dabei Saugglocke, Zange oder Kristeller zum Einsatz kommen). Ich hätte mir vor der Geburt rückblickend eine Aufklärung entsprechend meines persönlichen Risikoprofils gewünscht. So geht es sicher vielen Frauen, die nach einer vaginalen Geburt mit lebenslangen Beeinträchtigungen zu kämpfen haben. Und nein, das sind nicht nur „ein paar Einzelfälle, die dann halt Pech gehabt haben und sich eben arrangieren müssen“.
    In meinem Geburtsvorbereitungskurs wurde das Thema „Geburtsverletzungen“ nur ganz flüchtig gestreift. Ganz ehrlich, darüber hätte ich gerne mehr gehört als darüber, ob man nun fünf oder besser sechs Bodys für die Erstausstattung benötigt.
    Hebammen, die die möglichen Beeinträchtigungen nach einer Entbindung klein reden, sind genauso wenig hilfreich wie unsensible Ärzte im Kreißsaal.

    1. Liebe Mona,
      mein Gynäkologe hat mir kein persönliches Risikoprofil bezüglich Beckenboden gegeben. Wer könnte mich denn da beraten?
      danke und liebe Grüße

      1. Standardmäßig wird so eine Beratung meines Wissens nicht durchgeführt. Ich denke, da muss man selbst aktiv nachfragen, sowohl in der regulären Frauenarztpraxis als auch beim Kliniktermin vor der Geburt (sofern man sich für eine Klinikentbindung entscheidet). Da ist es dann wahrscheinlich auch wichtig, dass man sich nicht mit Ausflüchten oder 08/15-Antworten abspeisen lässt („Jede Geburtsmodalität hat ihre Vor- und Nachteile“ o.ä.), sondern gut vorbereitet in so ein Gespräch geht.

      2. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe empfiehlt, dass jede Frau über 35, die kleiner ist als 160 cm und deren Kind (voraussichtlich, kann man in der Schwangerschaft per Ultraschall ungefähr abschätzen) über 4000 g wiegt, eine Aufklärung über die Vorteile von Kaiserschnitt und natürlicher Geburt erhalten sollte, weil die drei Konstellationen Risikofaktoren für Beckenbodenschäden sind. Weitere Risikofaktoren sind schlechtes Bindegewebe (Cellulitis, Schwangerschaftsstreifen, Krampfadern, man kann es auch molekularbiologisch am Kollagen testen lassen), wenn die Mutter oder Schwester Geburtsschäden davon getragen haben, und einige andere. Dies sollte man rechtzeitig im Geburtsvorbereitungsgespräch erwähnen und diskutieren, dass man Zange, Saugglocke und Kristellern ablehnt, falls man sich so entschieden hat.

  2. Das Rekurrieren gar auch noch auf Art. 1 Abs. GG führt mei mir leider reflexartig dazu, dass ich als Leseren dieses offenen Briefes selbigen nicht mehr ernst nehmen kann.

    Bei der Geburtshilfe liegt vieles im Argen, die Ursachen (Fallpauschalensystem, zu wenige Hebammen mit der Folge unzureichender da nicht leistbarer Betreuung etc.) sind bekannt. Ich hatte persönlich (kann nur für mich sprechen) auch nicht den Eindruck, dass es in irgendeiner Weise ein Informationsdefizit betreffend die mit einer Spontanentbindung einhergehenden Risiken gibt.

    Was man mE definitiv nicht braucht, ist eine forcierte Erhöhung der Kaiserschnitt-Rate. Tatsächlich glaube ich zwar, dass es aktuell einen gewissen „Druck“ gibt „natürlich“ (spontan) zu gebären und selbstverständlich im Anschluss zu stillen, der mE aber weniger durch die beteiligten Ärzte als vielmehr durch die soziale Bias kommuniziert wird iSv „vaginale Geburt ist gut, gewünschter Kaiserschnitt ist schlechte Mutter“. Da wäre es schön, anzuerkennen, dass das bitte jede Gebärende auch jenseits der medizinischen Indikation selbst entscheiden darf, und dass ihre Motivation (von Geburtsangst bis zur Planbarkeit im Terminkalender) niemanden etwas angeht.

    1. Hallo Christina, mit dem, was du in deinem letzten Satz schreibst, hast du den Inhalt des Briefs gut zusammengefasst. Es geht darum, dass jede Frau selbst entscheiden kann, wie sie gebären möchte, sofern es keine schwerwiegenden medizinischen Gründe für oder gegen den einen oder anderen Geburtsmodus gibt. Du schreibst auch, dass es neben dem Druck, der durch Ärzte und Hebammen aufgebaut wird, enormen gesellschaftlichen Druck gibt, der auf Schwangere aufgebaut wird. Das sehe ich genauso. Ich lese in dem Brief allerdings keine Aufforderung zu einer Erhöhung der Kaiserschnittquote. So wie ich den Brief verstanden habe, geht es den Autorinnen vielmehr um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und um das Angebot einer unvoreingenommene Aufklärung. Zu meiner eigenen Geschichte: Ich habe in meiner Kindheit psychische, physische und sexuallisierte Gewalt erfahren und war deshalb in langjähriger psychotherapeutischer Behandlung. Zum Zeitpunkt der Schwangerschaft war ich schon einige Jahre psychisch stabil, konnte mir aber aufgrund meiner Erfahrung keine vaginale Entbindung vorstellen. Am Ende haben mich die Ärzte enorm unter Druck gesetzt vaginal zu entbinden und mein Wunsch nach einem Kaiserschnitt wurde abgelehnt. Ich habe jetzt, zwei Jahre p.p. immer noch schlimme Flasbacks und Alpträume und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder arbeiten gehen kann. Die Übergriffigkeit der Ärzte und Hebammen ist erschreckend.

  3. Ich schließe mich Sabine an. Jede Schwangerschaft und Geburt, egal ob natürlich oder per Kaiserschnitt, birgt seine Risiken. Möchte man immer direkt von den negativen Risiken ausgehen? Ist das das richtige Signal? Wer Informationen und eine bestimmte Geburtsform wünscht, bekommt sie hier in Deutschland, solange es die Mediziner verantworten können.
    Und auch OHNE natürliche Geburten, kann man Beckenbodenschäden bekommen (schwaches Bindegewebe, BEL…).
    Dieser Brief ist doch sehr einseitig…

    1. Theodora, ja der Brief ist von betroffenen Frauen! und nein, man bekommt die Informationen eben nicht.
      das Problem betrifft ca. jede 10. Frau nach Entbindung und ist einfach ein erwähnenswertes Risiko und nicht irgendein pillepalle.

      und nein! ohne natürliche Geburt kein Levatorabriss.

  4. Eine vaginale Geburt ist ja erstmal ein natürlicher Vorgang. Darum muss eine Ärztin ist ein Arzt darüber per se nicht aufklären im Gegensatz zu einem Eingriff oder einer Operation die sie oder er durchführt.
    Selbstverständlich sollte eine schwangere Frau darauf vorbereitet werden, wie eine Geburt abläuft, was dabei passieren kann und welche Prophylaxe oder Nachsorge wichtig ist – gleichzeitig ist eben jede Geburt anders und es bringt auch nichts, wenn frau vor lauter Sorge vor möglichen Spätschäden panisch ist und darum die Geburt nicht entspannt ablaufen kann.

    Was wichtig ist, ist eine ordentliche Aufklärung über Interventionen unter der Geburt, da diese ja häufig die Ursache für Verletzungen sind. Und vor allem eine Geburtshilfe, die auf unnötige Eingriffe wie kristellern verzichtet, die Frauen und ihre Wünsche und Bedürfnisse ernst nimmt, bei der ausreichend (!) erfahrenes (!!!) Personal zur Verfügung steht, um jede einzelne Geburt individuell zu betreuen, eine Vergütung, bei der Geburtshilfe kein Minusgrschäft ist, und qualifizierte Rückbildungskurse.
    Ein (zum Glück geringes) Restrisiko für Mutter und Kind bleibt bei jeder Geburt, das lässt sich auch durch einen Wunschkaiserschnitt nicht verhindern.

    1. Hallo Eva,
      Ich habe noch eine Anmerkung zu Deinem Kommentar. Du schreibst, dass die Geburt ein natürlicher Vorgang sei. Ich finde diese Tatsache allerdings irrelevant. Besteht das Risiko, dass dem Kind bei der Geburt etwas passiert (zum Beispiel eine dauerhafte Armlähmung, infantile Zerebralparese etc.), hat die Mutter die Wahl einen Kaiserschnitt zu wählen. Obwohl die Geburt ein natürlicher Vorgang ist, wird nicht gesagt, dass ein bestimmter Anteil an behinderten Kindern natürlich sei und dass Bestrebungen, diese zu vermeiden zu unterlassen sind. Es gibt keine Risikoabwägung in Bezug auf mütterliche Schäden. Jede Frau muss selbst entscheiden, wie sie entbindet und welches Risiko sie eingehen möchte. Die Entscheidung ist sehr persönlich und neben medizinischer Aspekt spielen auch die Lebensgeschichte und persönliche Wertvorstellungen eine Rolle. Eine Frau kann aber nur eine gute Entscheidung treffen, wenn sie gut aufgeklärt wird. Auch bei einer OP muss man über aller Risiken aufklären, auch, wenn sie extrem selten auftreten. Sinn einer Aufklärung ist es nicht, jemanden Angst zu machen, sondern ihn die Möglichkeit einer mündigen Entscheidung zu ermöglichen. Warum soll das für Schwangere nicht gelten?

  5. Nicht, dass ich mich jetzt besonders gut mit dem Thema auskenne, das muss ich mal vorne weg schicken (habe aber 3 Kinder auf natürlichem Weg bekommen und bisher keine Probleme deshalb, was hoffentlich auch so bleibt). Aber ich hoffe nur, das hier soll keine Werbung für Kaiserschnitte sein, Eine große Operation, bei der Bauchdecke und Gebärmutter aufgeschnitten werden, kann ja wohl nicht die bessere Wahl sein. Außerdem wird meines Wissens nach der Beckenboden auch schon durch die letzten Monate der Schwangerschaft stark belastet, die vaginale Geburt kommt da nur noch on top. Aufklärung gut und schön, die absolute Sicherheit wird es aber nie geben. Weder, ein gesundes Kind zu bekommen, noch als Mutter ohne Blessur davon zu kommen. Selbstfürsorge und Eigenverantwortung werden immer wichtig bleiben.

    1. Hallo Theodora, der Geburtsmodus ist in Deutschland nicht frei wählbar. Sicherlich findet sich hierzulande vorab ein Gynäkologe der einen Kaiserschnitt unterstützt, aber dieses Recht würde ich schon gerne verbrieft haben. Mein Körper, meine Wahl!

  6. Puh. Also ich stimme insofern zu, als dass unnötige und gewaltsame Interventionen wie kristellern und (die meisten) Dammschnitte ebenso wie das Gebären in Rückenlage endlich der Vergangenheit angehören müssen. Deswegen jetzt zu fordern, das politische Ziel der Senkung der Kaiserschnittrate nicht weiter zu verfolgen kann ich nicht befürworten. Im Gegenteil! Wir müssen fordern, dass Geburten wieder natürlicher werden und natürlich heißt eben nicht einfach nur vaginal! Sondern selbstbestimmt, mit durchgehender 1 zu 1 Betreuung und in der Position und dem Tempo, wie es die Frau möchte. Ja, auch dann kann es noch Beckenbodenprobleme und -verletzungen geben. Aber das Risiko für diese erhöht sich durch Interventionen und eben auch durch den Kaiserschnitt. Der Kaiserschnitt ist nicht die Lösung für eine Geburt ohne anschließende Beckenbodenprobleme. Ich stimme zu, dass die Thematik ernst genommen werden muss und es hier neue Richtlinien braucht. Mindestens genauso wichtig ist die Prävention, damit es gar nicht erst so weit kommt.

  7. Ich versuche mal das ganz höflich auszudrücken: Schwachfug!!! Natürlich muss der ( ausgebildete) Mediziner/ Geburtshelfer Einfluss nehmen und beraten! Wer sonst hat die fachliche Kompetenz. Und liebe Muttis hier geht es nicht nur um eure Sicherheit, hier steht das Leben des Kindes mit ganz oben. Auch das zählt unter der Geburt. Und jeder Gynäkologe erzählt was zum Thema Beckenboden/ mögliche Inkontinenz… Bitte jetzt nicht wegen Vollkaskomentalität ( es muss exakt alles wie vorher sein mit 1000%iger Garantie- von wem erwartet man das eigentlich? ) die Schuld anderswo suchen. Weil wegen rosaroten Glückshormonen in der Schwangerschaft sowas ausgeblendet wird und da nicht genau zugehört wurde. Nein es muss BEIDES real benannt werden und Sectio ist nun mal eine Operation mit Bauchschnitt und Narkose. Da gibt es nichts weg zu reden, zumal gerade bei der Schnittgeburt Verwachsungen oder Nerven- und sonstige Schädigungen eben durch das Schneiden auftreten können. Mir ist egal wer wie entbindet aber bitte nicht so grenzenlosen Unfug verbreiten. ( und VOR einer Schwangerschaft ist mir klar das sich der Körper irreversibel verändert egal ob Gewicht, Blasenschwäche, Dehnungsstreifen/ Risse, Nähte im Intimbereich vorkommen können)

    1. dein Kommentar ist sehr herabwürdigend. ich bin selbst Ärztin und das Ausmaß von Schädigung was mir widerfahren ist war mir niemals bewusst und wird auch seitens der Gynäkologie nicht erwähnt oder gar gelehrt.
      ich empfinde deine Antwort als frech. vor allem die Frechheit den Frauen Egoismus zu unterstellen auf Kosten des Kindes. warum wohl werden gerade die Risikokinder per sectio geholt? rate Mal… weil es sicherer ist.

      1. Silvia du hast zum Glück für dich keine Ahnung was den Betroffenen Frauen passiert ist. Das ihr Leben, ihre Gesundheit zerstört sind. Es geht hier um Verletzungen die irreparabel sind. Abrisse des wichtigen Beckenbodenmuskels vom Beckenknochen, dieses lässt sich nicht operieren. Nervenschäden die alles taub werden lassen, die wichtige Körperfunktionen für immer nehmen. Es gibt Frauen mit einem teilweisen Querschnitt haben und Frauen die durch Geburtsschäden einen dauerhaften künstlichen Darmausgang brauchen, da die Ausscheidung nicht mehr funktioniert, pressen nicht mehr möglich ist. Viele Frauen haben chronische Schmerzen, können ihr Kind nicht mehr ausreichend betreuen, an Sport ist nicht mehr zu denken. Ich denke du kennst solche Fälle nicht. Es gibt einen Rechner, den die Ärzte anwenden könnten, um das persönliche Risiko zu ermitteln. Kein Wort habe ich vor der Geburt jemals über irreparable Beckenbodenschäden und Nervenschäden gehört. Und bei mir hat das Alter ein Risiko vorgegeben und die Handgriffe der Hebamme haben vermutlich vieles zerstört. Natürlich ist das erste vaginale gebären mit Mitte/ Ende 30 Jahren nicht mehr. Schau mal bei Dietz, der sagt es deutlich. Kein Wunder also das solche Verletzungen ggf auch zugenommen haben. Aufklärung fehlt absolut. Das Leben ist danach verändert, ggf zerstört und ob die mehrfachen Operationen helfen und halten, kann man nur hoffen. Es gibt natürlich auch viele Frauen die keine solchen Probleme haben. Wissen ist hier aber Macht, mehr Selbstbestimmung und Rechte der Frau. Es geht hier um Entmündigung durch Nichtinformation. Mein Erfahrungen mit Kaiserschnitt beim ersten Kind, es war nach der Abheilunhsphase alles super. Ich konnte mein Kind stundenlang tragen, konnte joggen, Trampolin usw. Aber das wichtigste, ich konnte mein Leben ganz ohne Schmerzen und Druck leben. Durch die Geburt mit solchen Schäden, altert man körperlich unglaublich. Keine Aktivitäten mehr möglich, alles sitzt Etagen tiefer. Bei manchen Frauen starke Inkontinenz. Es muss einfach gesagt werden.

  8. Ja, Herr Lauterbach sollte sich auch mal mit Hebammen an einen Tisch setzen.
    Soweit ich weiß, hat er das noch nicht gemacht.

    Ich bin für Aufklärung und freie Wahl. Jedoch sollte man den Kaiserschnitt als gesunde Alternative nicht überschätzen und generell als gesündere Art der Entbindung missverstehen. Das kann er sein, ist es aber sicher nicht in jedem Fall.

    Liebe Frauen, jeder Arzt wird euch eine Kaiserschnitt machen, wenn ihr wirklich wollt. Jedoch kenne ich als Geburtshelferin auch Frauen nach Kaiserschnitt, die sich beim nächsten Kind bewusst für eine vaginale Geburt entschieden haben. Aus Gründen, die ihre Gesundheit betreffen! Aus einer unglücklichen Erfahrung. Sectio kann eine Lösung für bestimmte Probleme sein, ist aber sicher kein Mittel, dass ohne unerwünschte ,,Nebenwirkungen“ bleibt.

    1. Hallo. Leider bekommt man nicht immer einen Kaiserschnitt, auch wenn man sich einen während der Geburt wünscht.

      Mir wurde der Satz: Wir bestimmen hier, wann ein Kaiserschnitt gemacht wird“, während der Geburt an den Kopf geworfen.

      Und beide natürlichen Geburten waren letztlich nicht schön.
      Nur so viel zum Thema.

      Grüße Luiselotte

      1. liebe Luiselotte!
        das tut mir sehr leid, dass es für dich so gelaufen ist.
        unter der Geburt sich den Kaiserschnitt wünschen ist nochmal was ganz anderes, als ihn in der Schwangerschaft zu fixieren. hier in Wien geht das seeeehr einfach.

        1. Hallo, liebe Ines.
          Ihr habt Glück, dass man in Wien einen Kaiserschnitt bekommt, wenn man ihn möchte. Ich habe leider ähnliche Erfahrungen wie Liselotte gemacht. Die Ärzte haben sich im Voraus geweigert einen Wunschkaiserschnitt zu machen. Die Aussage: Man müsse es erst versuchen, vaginal zu entbinden, sonst habe man sich keinen Kaiserschnitt verdient. Unter der Geburt wurde mein Wunsch nach einem Kaiserschnitt auch abgelehnt. Mein ganzer Beckenboden wurde durch die Saugglocke zerstört und mein Kind kann mit einem APGAR-Wert von 5 auf die Welt.

  9. Ohh schwieriges Thema, in einigen Punkten haben die Autoren recht (Risikostratifizierung, Aufklärung optimieren, Anerkennung und bessere Behandlung von Beckenbodenschäden) aber als Lösung mehr Kaiserschnitte zu fordern und nicht die eigentlichen Ursachen in der Geburtshilfe zu behandeln finde ich falsch.

    Vaginale Geburten sind ein Risiko, waren sie schon immer und werden sie auch immer im kleinen Prozentsatz sein, aber deshalb nur Kaiserschnitte mit allen bekannten Komplikationen durchzuführen ist auch ein fataler Trugschluss.

    Geburt muss wieder natürlicher werden, mehr Zeit, mehr Raum, weniger chemische und mechanische Interventionen, mehr Personal, besser aufgeklärtes Personal, verbieten von jeglicher Gewalt (psychisch, physisch). Aufzeigen und Anzeigen der Gewalt!
    Frauen müssen der Medizin, den Geburtshelferinnen/ Ärztinnen/ Pflegekräften, Hebammen wieder vertrauen können, sie dürfen im Geburtsvorbereitungskurs weder ausnahmslos positiv noch negativ beeinflusst werden. Frauen haben die Kraft zu gebären, dass ist unsere Stärke. Dafür brauchen wir gute Bedingungen, gute Betreuung, keinen Druck und Vertrauen in uns und unsere Körper.

    Ich habe selbst als Ärztin massive physische und physische Gewalt in der 1. Geburt erlebt. Beine festhalten, ständige sinnlose Vaginaluntersuchungen während ich Stopp/ aufhören schrie.
    Die 2. Geburt im Geburtshaus mit meiner Hebamme war auch anstrengend, aber ein durch und durch bestärkendes Erlebnis, es kam auch nicht wieder zu einem Dammriss, es musste nicht genäht werden, die Heilung war viel schneller und komplikationslos.

    Wir müssen Anerkennung für die Leistung der Frauen unter Geburt erkämpfen, viel bessere Bedingungen, ein bedingloses Verbot jeglicher Gewalt und eine Rückbesinnung auf natürliche Geburten, weg von zig Interventionen um die Geburtszeit zu verkürzen und extra Geld zu kriegen.
    Ausgenommen sind ein paar wenige Prozent wo harte medizinische Indikationen vorliegen

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