Autismus bei Mama und Tochter: So gelingt unser Familien-Alltag

Autismus

Pixabay

Ihr Lieben, wir finden es ganz wichtig, dass wir hier immer wieder Beiträge zum Thema Autismus haben. Denn noch immer gibt es so viele Vorurteile, so viel falsches Wissen – da ist es das Beste, wenn man mit autistischen Menschen direkt spricht und sie bittet, ihre Geschichte zu erzählen. Genau das tut heute Nathalie. Vielen Dank für dieses schöne Interview!

Liebe Nathalie, du bist diagnostizierte Asperger Autistin. Magst du mal erklären, wie diese Diagnose deinen Alltag beeinflusst.

Die Diagnose an sich ändert erst einmal nur minimal unseren Alltag – da ich mittlerweile offen damit umgehe, Autistin zu sein. Grundsätzlich läuft bei uns jedoch einiges anders als bei anderen Familien. 

Mir fällt es zum Beispiel schwer, Blickkontakt zu halten. Mein Mann kennt mich so und kann damit umgehen. Andere Leute reagieren aber irritiert darauf. Wenn ich Blickkontakt halte, bekomme ich Sehstörungen, weil ich zu starren beginne. Erst vor drei Jahren ist mir aufgefallen, dass man den Blickkontakt immer wieder kurz unterbricht.

Automatisch geht das bei mir jedoch nicht und ich müsste immer wieder daran denken und kann mich weder dabei, noch beim Starren auf ein Gespräch konzentrieren. Seit meinem Autismusverdacht zwinge ich mich nicht mehr zum Blickkontakt, den ich als Kind erlernt habe. Seitdem habe ich keine Sehstörungen mehr und ich kann mich wesentlich besser auf Gespräche einlassen. Ich muss nicht mehr krampfhaft versuchen, Informationen richtig zu verarbeiten.

Zudem tue ich mich zum Beispiel schwer damit, soziale Regeln korrekt anzuwenden. Dadurch kommt es immer wieder zu blöden Situationen. Eventuell frage ich dann zu persönliche Dinge oder ich muss meinen Mann oder andere Leute fragen, wie ich mich in einer Situation korrekt verhalten sollte. 

Was noch?

Wenn ich reizüberflutet bin, verstehe ich alles nur noch wörtlich. So hat einmal eine Mutter, die ich noch nicht kannte, ihre beiden Kinder, die ich noch nicht kannte, zum Kindergeburtstag unserer Tochter gebracht. Sie sagte, dass die Kinder sehr lebendig wären. Habe ich genug Energie, weiß ich, dass es nicht wörtlich gemeint sein kann, dann denke ich darüber nach und komme meistens irgendwie auf die richtige Lösung. In dem Fall war das nicht so. Da habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich es für einen „schlechten Scherz“ gehalten habe. Warum sollten die Kinder, die sie mir bringt, nicht lebendig sein? Erst später habe ich es wirklich verstanden.

Ansonsten bin ich zum Beispiel auch oft sehr ehrlich und weiß nicht immer, wann es sozial angebracht ist zu lügen. Braucht jemand Trost, kann ich das nicht sonderlich gut. Klar, wenn mein Kind weint, nehme ich sie in den Arm und kann auch mit ihr darüber reden. Jedoch bin ich dabei eher sachlich. Dann suche ich nach einer Lösung.

Meine Mutter hat mir einmal von einer Situation erzählt, mit der sie ein Problem hatte und wo sie sich sorgte. Für mich war irgendwann nur klar, dass sie sich zurückzog und das Thema wechseln wollte. Nachdem ich den ganzen Tag darüber nachgedacht hatte bekam ich den Verdacht, dass ich hätte sozial darauf eingehen müssen. Wäre das die Lösung gewesen? Keine Ahnung. Menschen sind oftmals schwierig zu verstehen. Ich brauche da klare Worte.

Allerdings kann ich dafür oft Details erkennen, die andere nicht sehen. Liegt irgendwo Geld auf dem Boden finde ich es, gibt es im Text ein Leerzeichen zu viel sehe ich das sofort. Oder kleine Gegenstände, finde ich am schnellsten, wenn sie gesucht werden. Zudem kann ich dadurch, dass es oft notwendig ist, extrem gut analysieren und komme oft auf Lösungen, die andere nicht finden. Das wirkt sich auch positiv auf meine Kreativität aus. 

Du bist verheiratet. Dein Mann ist kein Autist. Welche Herausforderungen habt ihr miteinander?

Puh, die größte Herausforderung bei uns ist, dass meine Tochter ebenfalls autistisch ist und dadurch mein Mann immer irgendwie „außen vor“ bleibt. Das versuchen wir so gut es geht zu ändern. Wenn unsere Tochter autismusbedingt Unterstützung braucht, sehe ich das sofort und meinem Mann fällt es schwer, sich in sie hineinzuversetzen.

Oftmals sagt man uns Autisten immer noch nach, wir können uns nicht in andere Menschen hineinversetzen. Das stimmt nur teilweise. In autistische Menschen kann ich mich prima hineinversetzen. Nicht autistische Menschen „funktionieren“ anders und haben die gleiche Barriere, wenn es um autistische Menschen geht. 

Im Familienalltag führt das oft zu Frust und es ist schwierig, da immer eine Balance zu finden. Diesen „Spagat“ machen wir jetzt schon neun Jahre und letztendlich hilft nur, dass man den anderen so nimmt, wie er ist und sich einander ergänzt.

Eure Tochter ist eine atypische Autistin mit ADHS. Was für ein Kind ist deine Tochter, erzähl uns mal von ihr.

Unsere Tochter ist ein sehr extrovertiertes Kind von neun Jahren. Sie ist gerne mit anderen Kindern zusammen. Problematisch ist allerdings, dass ihr das meistens zu viel wird, wenn sie die Kinder als zu laut empfindet und sich auf Spielplätzen die Ohren zuhält. Meistens kommt meine Tochter besser mit jüngeren Kindern klar, weil diese noch den Eins-zu-Eins-Kontakt suchen. Kommt mehr als eine Person hinzu, ist sie sozial überfordert.

Das zeigt sich darin, dass sie orientierungslos herumsteht und keine Ahnung hat, wie sie reagieren soll oder im schlimmsten Fall, dass sie um sich schlägt und schreit. Dann ist sie im Meltdown und kann die ganzen Reize nicht mehr verarbeiten. Durch das ADHS braucht sie ständig Neues, durch den Autismus Beständigkeit. Beides gleichzeitig ist jedoch unmöglich, wodurch sie sich selber blockiert.

Wie geht sie genau mit anderen Kindern um?

Im Spiel mit anderen Kindern kann sie nur beitragen, wenn sie das komplette Spiel bestimmt, quasi „Regie führt“. Sie spielt über Monate immer das gleiche Spiel und ändert maximal ein paar Kleinigkeiten. Ein gemeinsames Spiel ist oftmals deshalb nur mit mir möglich. Wenn alle Kinder eine Aufgabe bekommen und die Tätigkeiten strukturiert werden, kommt sie auch mit anderen Kindern klar.

In der Schule unterstützt sie eine Integrationshelferin, weil sie sozial oft aneckt oder auch ausgeschlossen wird. Außerdem ist sie im Unterricht unkonzentriert und braucht Unterstützung, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Zu Hause vermeidet sie jegliche Anforderungen.

Strategiespiele für 12-Jährige hat sie schon mit sechs Jahren mit ein wenig Unterstützung gespielt, weil ihr die meisten Spiele zu langweilig waren. Sie ist sehr kreativ und entwickelt ständig neue Ideen. Entgegen dem veralteten Klischee, wir wären nicht empathisch, ist sie sehr feinfühlig. Uns Autisten fällt es oft schwer, Situationen korrekt einzuschätzen. Das ist aber notwendig, um entsprechend Anteil nehmen zu können.

Im Gegensatz zu mir kann sie dies dann mimisch auch gut ausdrücken wobei ihre Mimik oft übertrieben wirkt. Auch das ist typisch autistisch, spricht aber nicht von weniger Feinfühligkeit. Wir können das oftmals nicht adäquat nach außen bringen. Während es mir oftmals nicht gelingt, auch wenn ich sehr mitfühlend bin, wirkt es bei ihr „zu stark“. 

Deine Tochter hat auch immer wieder heftige Melt Downs. Was passiert dann genau?

Wenn unsere Tochter einen Meltdown hat, wirkt es nach außen hin oft wie ein Wutanfall. Jedoch ist es bei einem Meltdown so, dass sie aufgrund der Überfrachtung durch die unzähligen Reize so viel Druck angestaut hat, dass sie diesen nicht mehr anders los wird. Sie verliert die Kontrolle – wie bei einem „Nervenzusammenbruch“. Das kann sie weder lenken noch abstellen. Dann schreit sie, schlägt um sich, läuft weg, will nicht berührt werden. Jeder weitere Reiz ist dann unerträglich für sie

Einmal hatte sie in der Schule einen Meltdown. Sie hat mit ihrer Jacke um sich geschlagen und laut gerufen: „Geht weg, geht alle weg“, weil sie wusste, dass sie sich nicht steuern konnte. Leider haben die anderen Kinder ihren Zustand nicht verstanden, wollten teilweise deeskalieren. Dabei wurde ein Junge mit der Jacke getroffen. Dies hat ihm wehgetan. 

Später hat sie sich dafür entschuldigt und das war noch lange sehr schlimm für sie. Denn in diesem Moment wollte sie alles – außer jemandem wehzutun. Deshalb hat sie das Einzige getan, was ihr noch möglich war – die Worte rufen. Nach längerem Hin und Her wird die Klasse bald endlich aufgeklärt in Bezug auf ihren Autismus.  

Wie kommt deine Tochter aus diesen Phasen wieder raus? Was hilft ihr dann?

Bei einem Meltdown hilft nur, die Reize zu reduzieren. Letztes Jahr haben wir ihren Geburtstag in einem Wasserpark gefeiert. Eingeladen und dabei waren insgesamt vier Kinder. Da der Park sehr weitläufig ist und es ruhigere Ecken gibt, dachten wir, dass es dort möglich sein würde, mit ihr einigermaßen entspannt zu feiern. Leider kam es auch dabei zu einem Meltdown. Sie schrie, rannte im Park dabei herum, wollte keinen Kontakt, konnte keine Geräusche mehr ertragen.

Mein Mann kümmerte sich um die anderen Kinder und ich passte auf sie auf, vermied es, sie anzusprechen. Irgendwann sagte ich ihr, sie solle kuscheln kommen, wenn es ginge. Nach einigen Runden, vielen Tränen und Schreien und vielen entsetzten Blicken der anderen Besucher, kam sie zu mir aufs Handtuch, setzte sich auf meinen Schoß, klammerte sich an mich, während ich sie nicht selber umarmen durfte. Das wären zu viele Reize in dem Moment gewesen. Danach wurde es allmählich besser und sie fand die Kontrolle zu sich zurück. 

Wichtig ist in dem Moment, dass man ruhig bleibt, keine weiteren Reize bietet und ihr Sicherheit gibt. Sie konnte jederzeit zu mir kommen. 

Was ist bei euch im Alltag wichtig, damit euer Alltag mit Autismus gut gelingen kann?

Wir haben feste Rituale, müssen jedoch auch eine gewisse Flexibilität mitbringen, wenn ihr ADHS durchkommt. Flexibilität ist etwas, was ich erst als Erwachsene mühsam erlernt habe und was mir nach wie vor sehr schwerfällt. Das macht es sehr schwer, diese Flexibilität zuzulassen. 

Ansonsten haben wir nur einige sehr wichtige Regeln, die niemals verändert werden und nehmen dafür Regeln wie „gemeinsam am Tisch essen“ nicht so wichtig. Uns ist wichtig, dass wir alle uns mit Respekt begegnen, dass fixe Aufgaben ausgeführt werden (wie zum Beispiel regelmäßig zur Schule gehen und Hausaufgaben machen) und dass die Bedürfnisse jedes einzelnen Familienmitgliedes beachtet werden. Zudem hilft uns Humor dabei, die Dinge nicht „zu eng“ zu sehen und aufeinander zuzugehen.

Was wünschst du dir von der Gesellschaft in Bezug auf Autismus?

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft nicht ÜBER Autisten redet, sondern MIT. Oftmals werden uns Fähigkeiten abgesprochen (zum Beispiel Empathie), weil wir diese anders äußern. Fachmenschen stellen manchmal „wilde Theorien“ auf, wie wir denken und wahrnehmen. Es wäre besser, auf einander zuzugehen, denn wir werden einander nur verstehen, wenn wir nicht ÜBER, sondern MITEINANDER reden. 

Du hältst mittlerweile auch Vorträge, um über Autismus aufzuklären. Warum ist das so wichtig?

Mittlerweile arbeite ich – neben meiner Tätigkeit als Integrationshelferin – freiberuflich als Autismusfachberaterin.

Es ist sehr wichtig, dass wir Autisten ebenso für Fragen offen sind in Bezug auf Autismus, wie Fachleute. Viele Menschen, die schon viele Jahre mit Autisten arbeiten, können immer noch sehr davon profitieren, die autistische Sicht vermittelt zu bekommen. So arbeite ich auch mit einer heilpädagogischen Praxis zusammen und mache mich gemeinsam mit ihnen dafür „stark“, Eltern und Fachleute aufzuklären. 

Bei den Vorträgen gibt es viele Menschen, die sehr davon profitieren, die ihre oder andere Kinder/Jugendliche dadurch besser verstehen. Meine Eltern hatten immer große Probleme damit, mich zu verstehen. Egal was sie versucht haben, irgendwie klappte es nicht so und hat eine engere Bindung verhindert. Damals war ich zwar auffällig, aber angeblich waren „nur Jungen autistisch“. Dass das nicht stimmt, weiß man heute. Jedoch gibt es noch viel Aufklärungsbedarf, damit man uns nicht aussondert oder uns Kompetenzen abspricht. 

Passiert das immer noch zu häufig?

Ja, es gibt sehr viele erwachsene Autisten, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Viele von ihnen haben studiert oder Ausbildungen gemacht. Darunter sind viele Fachleute, auf die nicht zurückgegriffen werden kann, weil man die Arbeitsbedingungen nicht an sie anpassen möchte. Zu unbequem? Ich finde das traurig. Auch wir haben unsere Fähigkeiten und können unseren Teil zur Gesellschaft beitragen – der eine mehr, der andere weniger. So ist das aber auch bei nicht autistischen Menschen.

Zudem finde ich es auch wichtig, dass man aufhört von „hochfunktional“ und „nicht hochfunktional“ zu reden. Das macht man bei nicht autistischen Menschen auch nicht. Die Autisten, die in der Gesellschaft nicht als diese erkannt werden, die sich ein Leben aufbauen, sind nicht „weniger autistisch“ als andere Autisten. Dieses Label erweckt den Eindruck, unser Leben wäre einfacher. Dabei ist das gar nicht so einfach.

Ich habe zwei Jobs, einen Mann und ein Kind und bin Autistin. Das alles zu haben, zu managen und nicht zusammenzubrechen, kostet mich viel. Mehr, als die meisten Menschen vermuten würden. Ich bin permanent überfordert, habe eine Freundin, die selber autistisch ist und bin sonst nicht in der Lage, weitere Freundschaften zu bekommen.

Zudem habe ich günstige Voraussetzungen: Mein Mann fängt Vieles für mich auf und mein Arbeitgeber weiß von meinem Autismus und gibt mir die Möglichkeit, trotzdem in dem Job klarzukommen. Die Schule meines I-Kindes ist ebenfalls aufgeklärt und sehr tolerant. Ohne diese positiven Voraussetzungen könnte ich das alles nicht schaffen. 

Du hast erst im Erwachsenen-Alter deine Diagnose bekommen. Denk mal an deine Kindheit zurück – hätte dir eine frühere Diagnose einiges erleichtert? 

Wenn ich die Diagnose damals schon bekommen hätte, wäre meinen Eltern viel Frust erspart geblieben, der sich dann auch auf mich übertrug. Ich hätte mich nicht ständig weggesperrt und manchmal tagelang nicht mehr gesprochen. Meine Wahrnehmung wäre mir vielleicht nicht abgesprochen worden. Heute versuche ich zu lernen, ihr wieder zu vertrauen. 

Schon im Kindergarten wäre ich vermutlich diagnostiziert worden, da ich weder Kontakt zu Erziehern, noch zu den Kindern suchte. Ich war schlicht überfordert damit. Zudem habe ich geschrien, wenn um mich herum Veränderungen stattgefunden haben. Vielleicht hätte ich dann nicht gelernt, mich niemandem anzuvertrauen, weil man mich oftmals nicht verstanden hat.

Andererseits habe ich mittlerweile meinen Frieden damit geschlossen und bin mir bewusst, dass ich dann auch nicht die Frau wäre, die ich jetzt bin. Andere Wege wäre ich definitiv gegangen, trotzdem kann ich optimistisch an die Zukunft denken und finde mein Leben – auch wenn es nicht immer einfach ist – gut so wie es ist.

aa0796ac33a54935a95de100ba842635

Du magst vielleicht auch

2 comments

  1. Liebe Nathalie,
    vielen lieben Dank für deinen Beitrag und Aufklärung über Autismus. Ich selbst vermute seit Jahren, dass ich auch Autistin (Asperger) bin. Deine Erzählungen stimmen auch mit meiner Gefühlswelt überein. Ich z.B. ertrage es nur schwer, umarmt zu werden von Leuten, zu denen ich eine geringe bis keine Bindung habe. Anders ist es jedoch bei Kindern, sie zu trösten und in den Arm zu nehmen, gelingt mir ganz gut. Was ich brauche sind klare Vorgaben und Handlungsabläufe. Was bei mir sehr gut ausgeprägt ist, ist meine Wahrnehmung und meine Kreativität. Ich bin ebenfalls verheiratet und habe zwei Kinder. Mein Sohn ist kein Autist. Bei meiner Tochter (2Jahre) sind bisher leichte autistische Züge wahrnehmbar.
    Viele Grüße und Dir (Euch) alles Liebe und bleibt behütet.

  2. Hallo Nathalie. Vielen Dank für den Blick im euren Alltag. Ich finde es so klasse, wie du selbst in schwierigen Situationen alles „managest“, dabei sehr reflektiert vorgehst und liebevoll mit deinem Kind umgehst. Schön, dass du zur Aufklärung über Autismus/Asperger beiträgt. Weiter so!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert